Über die (manchmal) guten Folgen des Schlimmen

Ich hatte vor einiger Zeit eine Aufstellung, da ist die Großmutter der Frau, um die es ging, von Rotarmisten am Ende des zweiten Weltkrieges vergewaltigt worden. Sie wurde schwanger und gebar die Mutter der Frau.

Und wie das manchmal so ist, setzt sich die Geschichte fort: Die Mutter hat eine (vielleicht auch nicht so ganz freiwillige – das ist unklar) sexuelle Begegnung mit einem Fremden. Den sah sie danach nicht wieder. Die Mutter wurde schwanger und es entstand aus dieser Verbindung die Frau, von deren Aufstellung ich hier schreibe.

Beide, diese Frau wie auch schon ihre Mutter, lebten sehr „reduziert“. Das grundlegende Lebensgefühl war: „Mich dürfte es eigentlich nicht geben“. Und beide versuchten, möglichst unauffällig und wenig sichtbar zu leben.

Man könnte dies jetzt als ein Beispiel nehmen, wie schwere Schicksale und grundlegende Einstellungen dem Leben gegenüber über Generationen tradiert werden. Und das ist es natürlich auch. Aber ich möchte hier auf etwas anderes hinaus.

Die Aufstellung erinnerte mich an eine andere Frau mit einer ähnlichen Familiengeschichte. Und diese Frau berichtete, dass sie irgendwann einmal gesprächsweise auf die Erlebnisse der Großmutter kamen, und die Großmutter da sinngemäß geäußert hat: „Wenn ich deine Mutter als Kind habe spielen sehen, dann habe ich manchmal gedacht: Wenn ich das (die Vergewaltigung) heute noch einmal erleben würde, dann würde ich ihr zustimmen, so schlimm es auch war“.

Und in diesem Satz liegt Größe.

Man muss das wirklich einmal wirken lassen. Wenn ein Mensch fähig ist, mit Blick auf die Folgen, das neu entstandene Leben, innerlich zu sagen: Mit Blick auf die Folgen stimme ich dem Schweren – in diesem Fall einer Vergewaltigung – zu.

Kann es überhaupt etwas Größeres geben, als diese Haltung zum Leben zu gewinnen? In diesem Fall: Zu dem Leben, das aus einer Vergewaltigung entstanden ist?

Über die Größe – und das Kleinliche einer Haltung des Einwandes und der Empörung

Ich bitte an dieser Stelle den Leser und insbesondere die Leserin, einmal kurz inne zu halten. Gibt es innerlich da einen Einwand? Oder eine Empörung? Etwa in der Art: „Aber heißt das nicht, eine Vergewaltigung zu verharmlosen?“ Oder: „Wie kann man so etwas Entsetzliches wie eine Vergewaltigung auch noch gut heißen?“

Solche Reaktionen sind verständlich. Insbesondere, wenn wir auf die Tat und das Opfer, die vergewaltigte Frau schauen.

Es gibt aber noch eine andere Perspektive. Schauen wir einmal auf das Kind, das aus der Tat entstanden ist. Welche Folgen hat es für das Kind, wenn eine Mutter auf das Kind schaut und innerlich sagt: „Du bist das Resultat einer Vergewaltigung – und eine Vergewaltigung sollte es eigentlich nicht geben dürfen.“ Oder wenn sie dabei innerlich sagt: „Wenn ich auf dich schaue als Ergebnis der Vergewaltigung, dann stimme ich der Tat nachträglich zu. Weil ich DIR zustimme“.

In welcher der beiden inneren Haltungen liegt mehr Würde? In welcher liegt mehr Kraft? Und vor allem: Unter welcher der beiden inneren Haltungen kann das Kind besser gedeihen? Mit welcher Haltung kann das Kind sein Leben vollständig nehmen – und „JA“ zu seinem Leben sagen[1], wie immer die Begleitumstände der Entstehung gewesen sein mögen? Mit welcher der beiden Haltungen, auf das Kind zu schauen, hat das Kind bessere Chancen, zu gedeihen?

Oder noch zugespitzter: Wenn wir in so einem Fall in erster Linie auf die Tat (oder auch den Täter) schauen – können wir dann überhaupt noch auf das Kind schauen? Können wir es sehen?

Nun wirken die obigen Sätze, zwar alle mit einem Fragezeichen am Ende, vielleicht wie rhetorische Fragen. Also als Fragen, die eigentlich keine Fragen sind, sondern verkleidete Aussagen oder Behauptungen. Also Fragen, die nicht offen in den möglichen Antworten sind, sondern eine bestimmte Antwort suggerieren.

Aber: Wir können das überprüfen. Der geneigte Leser und die geneigte Leserin können für sich selbst so tun, als seien es offene Fragen. Welche Antworten entstehen dann? Es würde mich freuen, in den Kommentaren darüber zu lesen.

Ein kleines (mentales) Experiment

Um das noch etwas auszuführen, möchte ich zu einem kleinen gedanklichen Experiment einladen:

Wenn du magst, nimm dir einen Moment Zeit und nimm eine entspannte Körperhaltung mit ruhiger Atmung ein.

  • Lass dann vor deinem inneren Auge ein Bild von der vergewaltigten Frau entstehen.
  • Wenn du dieses Bild hast, lass ein Bild von dem Rotarmisten vor deinem inneren Auge entstehen.
  • Wenn du dies hast, lass ein Bild des Kindes vor deinem inneren Auge entstehen, und es spiel keine Rolle, ob dieses Bild das Kind als Säugling, als 3-Jährige, als 6-Jährige, als 12-Jährige oder auch als erwachsene Person zeigt.
  • Wenn du diese drei Bilder hast: Dann schau einmal innerlich auf das Kind im Licht der Tat, also im Licht der Vergewaltigung.
  • Und dann schau einmal auf das Kind und seine Eltern – unter Absehung von den Begleitumständen der Zeugung.

Was ist der Unterschied? Gibt es einen Unterschied?

Und um noch weiter zuzuspitzen:

  • Schau einmal auf das Kind und seine Eltern, während du den Vater und seine Tag beurteilst.
  • Und dann schau noch einmal auf das Kind und seine Eltern, während du den Vater inklusive der Tat in dein Herz mit hinein nimmst. (Wenn du das kannst).

Was ist der Unterschied? Gibt es einen Unterschied? Es würde mich sehr interessieren, in den Kommentaren mehr darüber zu erfahren.

[1] „… und trotzdem Ja zum Leben sagen“ ist ein Buchtitel von Viktor Frankl, mit dem Untertitel: „Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“. Der Haupttitel ist ein Zitat aus der Lagerhymne „Das Buchenwaldlied“.