Die ursprüngliche Liebe … und etwas Rap-Musik

Ich habe mit Rap-Musik nie viel anfangen können. Und schon gar nicht wäre ich auf die Assoziation im Titel gekommen. Vielmehr erschien mir die Grundtonart des Rap eine des Ärgers zu sein. Ein Ausdruck eines unterschwelligen Grummelns, welches von der Unterschwelligkeit in die Oberschwelligkeit gehoben wird.

Und doch hat mich ein Stück Rap-Musik kürzlich bewegt. Dieses hier:

Es geht um einen abwesenden Vater – und was es mit dem Kind, in diesem Fall dem Sohn, macht. Und natürlich thematisiert es die abwesenden Väter allgemein, nicht nur den Einzelfall.

Besonders eine kurze Passage (im Video ab 2:25 Minuten) hat mich im Wortsinne aufhorchen lassen:

„Der Fluch eines Kindes ist:
es liebt seine Eltern
egal, ob sie arm sind
egal, ob sie Geld haben“

Das Kind liebt seine Eltern – egal wie die Umstände im Einzelnen auch immer sein mögen. Und die Sache mit dem Geld, die in hier im Songtext angeführt wird, ist dabei noch ein ziemlich oberflächlicher Aspekt von „Umständen“. Die Betonung der Aussage liegt auf dem „egal, ob xxx“ – und für xxx kann hier Beliebiges an Umständen eingesetzt werden. Die Liebe des Kindes zu den Eltern und damit zu allem, was zu Ihnen gehört, das ist die ursprüngliche Liebe.

Aber mir scheint, wie können einen solchen Satz nur dann verstehen, wenn wir uns bei dem Wort Liebe ein wenig von dem gedanklichen Konzept der romantischen Liebe lösen. Die ursprüngliche und grundlegende Liebe, um die es hier geht, hat eine ganz andere existenzielle Wucht. Und vielleicht – ich bin mir da wirklich nicht sicher – hilft es, wenn wir statt Liebe von Bindung sprechen. Also: Die ursprüngliche Bindung. Und gleichzeitig die tiefste existenzielle Bindung. Das ist im Wortsinne gemeint: Ohne unsere Eltern wären wir nicht. Wir würden schlicht nicht existieren. DAS verdanken wir Ihnen, wie auch immer alle anderen Umstände gewesen mögen.

Und vor diesem Hintergrund erscheinen manche Einwände, die wir gegen unsere Eltern haben mögen in dem Sinne, sie hätten doch besser anders sein und sich anders verhalten sollen, klein. Und manchmal auch kleinlich.

Eine der Grundbewegungen im Familienstellen setzt genau hier an: Diese ursprüngliche Liebe zu den eigenen Eltern und allem, was sie an seelischem Gepäck und Verstrickungen aus ihren Herkunftsfamilien mitbringen, wieder Fluss zu bringen. Und wenn dies gelingt, ist es eine sehr beglückende Erfahrung.

Aber zurück zum Songtext: Da heißt es, es sei der Fluch eines Kindes, dass es seine Eltern liebt. Und gemeint ist ja in diesem Kontext des abwesenden Vaters: Es ist der Fluch, dass ich als Kind dazu verdammt bin, diesen abwesenden Vater zu lieben, in der Seele an ihn gebunden zu sein. Und diese Bindung an den Abwesenden erzeugt ein Loch im Innern. Ein Sehnen, dass nicht gestillt werden kann. Und das erscheint dann als besondere Bürde für dieses Kind, gerade im Vergleich mit anderen Kindern, die nicht diese innere „Leerstelle“ aufweisen.

Nun zeigt es sich in den Familienaufstellungen immer wieder, welche seelischen Auswirkungen abwesende Elternteile haben. Diese Abwesenheit kann unterschiedliche Formen annehmen. Manchmal sind Elternteile tatsächlich physisch nicht anwesend. Manchmal sind sie aber auch zwar körperlich anwesend, aber seelisch nicht verfügbar. Auch das ist eine Form von Abwesenheit, bei der dieser Elternteil für das Kind nicht erreichbar ist. Und speziell bei den abwesenden Vätern gibt es auch nicht nur die Väter, welche ihre Kinder verlassen. Es gibt auch Väter, die aus der Beziehung zu ihren Kindern ausgegrenzt werden, meist durch die Mutter.

Die Wirkungen sind nicht immer gleich. So macht es in der Seele des Kindes schon einen Unterschied, ob ein Elternteil gegangen und das Kind verlassen hat durch eigene Entscheidung. Oder ob die Abwesenheit ein Resultat von schicksalhaften Umständen wie Krieg, Unfall oder frühe schwere Krankheit und Tod ist. Das einzige gemeinsame ist die bereits erwähnte „Leerstelle“.

Und was ist die Lösung? In den meisten Fällen ist die Lösung, dass das Kind – und es kann dabei schon lange erwachsen sein, das spielt keine Rolle – zum abwesenden Elternteil sinngemäß sagt: „Und auch wenn du als Vater oder Mutter nicht wirklich zur Verfügung standest und dies schwer für mich war: Ich nehme dich jetzt ganz als meinen Vater (oder: als meine Mutter). Und ich mache etwas aus dem Geschenk, dass ich von dir bekommen habe: meinem Leben“.
Die konkrete Formulierung mag dabei variieren. Entscheidend ist der innere Vollzug des Sinns in den genannten zwei Sätzen.

Das ist einfach in der Beschreibung und oft gar nicht einfach im Vollzug. Und wenn man das so liest, könnte man meinen: Das ist eine harte Aufforderung an das Kind. Vielleicht sogar eine hartherzige Aufforderung an das Kind.

Aber die Frage steht: Was will oder was soll das Kind denn sonst machen? (Und wir reden hier meist von dem inneren Kind, das in einem Erwachsenen wohnt). Soll es sagen: „Du bist für mich nicht der richtige Vater (oder: die richtige Mutter)“? Welche Wirkungen hätte das?

Die Wirkung wäre, dass das Kind dazu verdammt wäre, in der Ablehnung von Vater oder Mutter sich zur Hälfte selbst abzulehnen. Weil das Kind in einem ganz fundamentalen Sinn Vater und Muter ist. Biologisch, weil in jeder Zelle von jedem von uns zu je 50% die Gene von Vater und Mutter wirken. Und psychologisch und seelisch, weil unser Leben ein Strom ist, der sich aus dem väterlichen und dem mütterlichen Zufluss speist. Den einen Zustrom abzuschneiden, weil wir ihn für „verschmutzt“ halten, geht in aller Regel nur um den Preis, das der Strom des Lebens geschmälert wird. Es geht auf Kosten der eigenen Lebendigkeit.

Diesen Zustrom an Lebendigkeit von beiden Seiten aufrechtzuerhalten, auch wenn auf einer Seite der Elternteil nicht oder nicht wirklich präsent und verfügbar war, ist gewiss nicht leicht. Daran kann man leicht scheitern. Aber wenn es gelingt, ist es eine besondere Leistung der Seele.