Über Gefühle, ihre Qualitäten und ihre Rolle in der Aufstellungsarbeit

Vorbemerkung:
Was in diesem Blogeintrag passiert, ist ein paradoxes Unterfangen. Wenn wir im Alltag über Gefühle reden, ist es meist genau das: Gerede. Und nicht Gefühle. Gefühle wollen ihrem Ursprung nach gefühlt und nicht beredet werden. (Womit nicht gesagt sein soll, dass ein Reden über Gefühle nicht sinnvoll, hilfreich, entlastend oder gar befreiend sein kann. Es soll lediglich gesagt werden: Es gibt einen Unterschied zwischen einem Gefühl und einem Reden über ein Gefühl. So wie es einen Unterschied zwischen einer Speisekarte und dem Gericht gibt. Nur das zweite kann man essen.)
Reden wir also über Gefühle. Genauer gesagt: Ich schreibe über Gefühle, aber das ist ja auch nur eine Form von Reden, nämlich das Reden eines Schreiberlings an ein lesendes Publikum hin.

Wenn wir über Gefühle sprechen, kann man leicht einen Umfangreichen Zoo mehr oder minder possierlicher Tierchen und Gattungen sprachlich errichten. Es gibt Freude, Wut, Liebe, Ärger, Angst, Überraschung, Ekel, Langeweile, Anspannung, Begeisterung, Verwunderung, Irritation, Attraktion, Kummer, Enttäuschung, Stolz, Hilflosigkeit usw. usf. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Und sie handelte immer vom Inhalt der Gefühle. Hier geht es um Qualitäten von Gefühlen.

Und die Qualität eines Gefühlszustandes kann man in drei Qualitäten oder „Geschmacksrichtungen“ einteilen:

Primäre Gefühle

Ein Primärgefühl ist unmittelbar und ergreift den fühlenden Menschen praktisch unwillkürlich und vollständig. Ein Beispiel ist die Trauer, wenn ein Mensch einen anderen geliebten Menschen verloren hat und die Tränen ungehindert (und – das ist wichtig – mit offenen Augen!) fließen. Oder ein Moment reiner Freude. Oder wenn eine Gruppe von Menschen oder manchmal auch nur ein Einzelner anhand einer plötzlichen Einsicht in die Absurdität einer Situation in schallendes und unkontrollierbarer Gelächter ausbricht, dass mit einem verschämten Kichern so viel gemein hat wie der Monde mit schweizer Käse.

Woran erkennt man ein Primärgefühl? Nun, zunächst einmal daran, dass es rein und unverfälscht, unmittelbar und impulsiv und unkontrollierbar ist. Und: Es ist meist von kurzer Dauer. Als Zeuge eines solchen Gefühls erkennt man es daran, dass es auch den Beobachter erfasst. Ebenso rein und unverfälscht. Es ist für jeden Außenstehenden sofort nachvollziehbar – und es bedarf keiner besonderen Handlung seitens der Außenstehen. Man versteht es einfach, schwingt mit, empfindet es als angemessen und als folgerichtige Reaktion auf einen Umstand oder eine Situation.

Sekundäre Gefühle

Sekundäre Gefühle sind dagegen sozusagen stellvertretende Gefühlsregungen. Sie sind primäre Gefühle, die durch einen Filter gegangen sind und der Filterprozess hat gesagt: Das ist hier so nicht zulässig oder angemessen. Also wird das primäre Gefühl durch ein sekundäres Gefühl ersetzt, welches tolerabler erscheint. Man nennt sie deshalb auch mitunter „Deckgefühle“. Das Gefühl von Ärger z.B. ist fast immer ein sekundäres Gefühl, welches ein anderes Primärgefühl wie vielleicht Wut oder Angst überdeckt und stellvertretend statt des Primärgefühls „präsentiert“ wird.

Woran erkennt man ein Sekundärgefühl? In erster Linie daran, dass man bei genauer Beobachtung einen kurzen Moment der Überlegung, der gedanklichen Auswahl beim Fühlenden erkennt. Ein kurzes Zögern, bei dem die Aufmerksamkeit nach innen geht. Noch untrüglicher ist aber, was ein Sekundärgefühl mit einem Zeugen macht, besonders in einer Gruppensituation: Wenn sich ein Gefühl von Irritation oder Verwirrung, von Langeweile oder Verdruss einstellt oder der Impuls irgendetwas dringen für jemand anderen ändern zu wollen – all das sind ziemlich sichere Indizien. Also auch hier wird der Beobachter oder Zeuge vom Sekundärgefühl in gewisser Weise erfasst, aber von seinem Aspekt der „Doppelbödigkeit“, was auch den Beobachter in einen milden inneren Aufruhr versetzt. Bei Primärgefühlen gibt es dagegen keinen Grund für Unruhe beim Zeugen/Beobachter, man bleibt gefasst und gesammelt.

Fremdgefühle oder übernommene Gefühle

Eine dritte Qualität sind Gefühle, die wir stellvertretend für jemand Anderen, in aller Regel jemand anderen aus dem Familiensystem, übernehmen. Familienaufstellungen sind in besonderem Maße geeignet, solche übernommenen Fremdgefühle sichtbar zu machen und sie an den Ort zurückzugeben, wo sie ihren ursprünglichen Platz haben.
Da wäre etwa eine Frau, welche immer wieder eine für sie selbst unerklärliche Wut auf ihren Mann empfindet, obwohl sie nach eigenem Empfinden ihm gar nichts vorzuwerfen hat. In einer Familienaufstellung stellt sich heraus, dass sie stellvertretend die Wut ihrer Mutter auf deren Mann, also den Vater der Frau, empfindet, der mehrfach fremdgegangen ist und die Mutter hat es schweigend ertragen und ihre eigentlich angemessene Wut nie geäußert[1].

Woran erkennt man übernommene Fremdgefühle? Sowohl für die Person, welche das Fremdgefühl hat wie auch für Außenstehende haben sie etwas Lähmendes, man empfindet Ratlosigkeit und Hilflosigkeit. Das ist eine ganz andere Wirkung als die eher irritierenden und enervierenden Wirkungen von Sekundärgefühlen. Und: Bei übernommenen Fremdgefühlen lässt sich das Gefühl nicht recht aus einer Situation plausibel machen. Sie wirken in Bezug auf die Situation wie ein Fremdkörper.

Familienaufstellungen und die drei Gefühlsqualitäten

Familienaufstellungen haben bezüglich der drei genannten Gefühlsqualitäten vor allem zwei Wirkungen:

1. Auflösung von Fremdgefühlen
Im Rahmen von Familienaufstellungen zeigt es sich in aller Regel sehr schnell über die Reaktionen der Stellvertreter, ob ein Gefühl ein übernommenes Fremdgefühl ist. Manchmal nicht ganz so schnell ist auffindbar, zu wem im Familiensystem das Gefühl ursprünglich gehörte und wo es seinen guten Platz hat. Aber auch diese Zuordnung gelingt fast immer.
Und die Lösung ist dann, der Person im Familiensystem, zu der das ursprüngliche Gefühl gehörte, in Liebe zu sagen: „Dies habe ich gerne für dich übernommen“. Und dann könnte vielleicht in dem oben skizzierten Beispiel die Tochter die Mutter bitten: „Schau freundlich auf mich, wenn ich meinen Mann jetzt nehme als meinen Mann“. Ich habe es noch nie in einer Aufstellung erlebt, dass dieser Teil der Familienseele es wirklich will, dass jemand Anderes das Eigene trägt. Aber: Wichtig ist trotzdem, es als Bitte und nicht als Forderung vorzutragen.

2. Überführung von Sekundärgefühlen in Primärgefühle
Hier kann es sich etwa um Wut oder Vorhaltungen handeln, die ein Kind gegenüber seinen Eltern hat. Und im Laufe der Aufstellung bricht sich die ursprüngliche Liebe des Kindes zu seinen Eltern, ohne die es nicht wäre, Bahn. Dann kommt etwas in Fluss im Inneren und wird als Primärgefühl erlebt – nicht nur trotz sondern oft wegen und in voller Anerkenntnis des Schweren und Leidvollen, das auch damit verbunden gewesen sein mag.
Anmerkung: Man muss sich dabei nur vor einem „verrosamundetem“ oder „verpilchertem“ Verständnis des Wortes Liebe hüten. Die ursprüngliche Liebe als Lebenskraft und Lebensenergie, die hier gemeint ist, hat wenig bis nichts mit dem zu tun, was wir oft „romantische“ Liebe nennen. Aber das nur am Rande.

[1] Bert Hellinger spricht hier von einer „doppelten Verschiebung“ des Fremdgefühls. Nicht nur ist das Gefühl im Subjekt verschoben, in dem die Tochter stellvertretend das Gefühl hat, was zur Mutter gehört bei dieser aber sich nie offen ausdrücken konnte. Die zweite Verschiebung findet im Objekt des Gefühls statt, in dem die Frau auf ihren Mann statt auf den Vater, also den Mann der Mutter, wütend ist.