In einer Familienaufstellung nutz man Stellvertreter, die für bestimmte Personen in einem Familiensystem stehen, um eine seelische Dynamik in diesem System aufscheinen zu lassen. Die Stellvertreter stehen dabei z.B. für die Mutter oder den Bruder oder den Großvater und dergleichen der Person, um die es geht, die also ein Anliegen an die Aufstellung hat. Auch die Person mit dem Anliegen wird in der Aufstellung zunächst durch eine andere Person vertreten. Durch die Aufstellung entsteht eine Resonanz mit dem „wissenden Feld“[1] und nach einer kurzen Zeit fangen die Stellvertreter an, gewissen Empfindungen, Impulse oder körperliche Eindrücke zu haben. Diese Empfindungen bringen etwas ans Licht, was als seelische Bewegung zu der Person gehören, für welche die Stellvertreterin oder der Stellvertreter steht. Aus Sicht der Stellvertreter sind dies erst einmal fremde Eindrücke. Sie gehören nicht zu mir selber, sondern ich stelle mich sozusagen als Kanal zur Verfügung, um etwas, was zu der Person, für die ich stehe gehört, auszudrücken.
Und doch ist dies im Kern kein „Rollenspiel“. Rollenspiele werden im psychosozialen oder psychotherapeutischen Bereich mitunter verwendet, um einen Perspektivenwechsel erfahrbar zu machen oder um typische Muster einer sozialen Situation herauszuarbeiten. Und beim Rollenspiel gehe ich dann richtig in die Rolle hinein und „agiere sie aus“ – mitunter durchaus „dramatisch“. Das ist ähnlich wie in der Schauspielerei, wo ein guter Schauspieler während der Performance wirklich buchstäblich zu seiner Rolle wird.
Die Stellvertretung in einer Familienaufstellung hat hier einen ganz anderen Charakter. Es geht hier überhaupt nicht um das „ausagieren“. Es geht nur darum, in sich hineinzuhorchen: Was meldet sich da? Spüre ich irgendetwas? Und wenn ja: Was? Und dies dann auszusprechen. Aber auch das Aussprechen erfolgt im Normalfall betont nüchtern. Es sind einfache Aussagesätze wie „ich merke eine Enge im Brustraum“ oder „mir werden die Knie weich“ oder „ich kann hier niemanden wirklich anschauen“. Reine Feststellungen, mehr erst einmal nicht. (Als dramatische Inszenierung wäre das ziemlich langweilig).
Es geht hier um die leisen Empfindungen und inneren Stimmen, die man am besten wahrnehmen kann, wenn man gesammelt und gefasst ist. Es geht genau nicht darum, etwas dramatisch auszuagieren, das würde den Prozess stören und die feinen und leisen Wahrnehmung, die aus dem „wissenden Feld“ kommen, übertönen.
Am besten und am einfachsten gelingt dies, wenn die Stellvertreter über die Personen, für welche sie stehen, wenig wissen. Außer den wesentlichen Fakten wie z.B. ich steh für die Großtante der Person mit dem Anliegen, die ihr Leben in der Psychiatrie verbracht hat. Oder: Ich steh für den Onkel, der im Krieg umgekommen ist. Je weniger ich als Stellvertreter über die Person weiß, für die ich stehe, also über ihren Charakter, ihr Temperament, ihre Motive und persönlichen Eigenheiten, desto besser.
Damit fehlen dann alle Informationen, die man bräuchte, um die Stellvertretung wirklich als Verkörperung einer Rolle anzulegen. Je weniger ich über vertretene Person als Persönlichkeit weiß, desto weniger Phantasien kann ich mir darüber machen, wie sie wohl gewesen sein muss und wie ich mich dementsprechend verhalten „sollte“. Und je mehr uns als Stellvertreter dieser Bezug fehlt, desto leichter kann die leise Stimme des wissenden Feldes überhaupt durchdringen.
Es geht also für die Stellvertreter darum, festzustellen „was ist“ – aber eben gerade nicht darum, es dramatisch auszuagieren.
Manchmal passiert es in einer Aufstellung, dass Stellvertreter in einen Disput oder eine Diskussion geraten. Da sagt dann vielleicht ein (stellvertretenes) Kind zu einer (stellvertretenen) Mutter den Satz: „Du hast mich nie gesehen – und das war schwer für mich“. Und wenn die Mutter darauf spontan reagiert und empört sagt: „Das finde ich jetzt aber ungerecht von dir, nach allem, was ich für dich getan habe, wie kannst du nur so etwas sagen …“, dann beginnt hier Rollenspiel. Die Stellvertreterin der Mutter ist in ihrer Rolle. Und in dieser ist sie gekränkt und spürt einen Vorwurf, gegen den sie sich verteidigen zu müssen glaubt. Und dann wäre man im Rollenspiel, aber nicht mehr in einer Aufstellung.
Als Leitung einer Aufstellung muss man so etwas, möglichst sanft, unterbinden. Und vom Rollenspiel wieder zur Stellvertretung zurückzuführen. Stellvertretung hieße in dem Beispiel, eben nicht auf den Satz zu erwidern. Sondern in erst einmal nur zu hören und zu spüren. In sich hinein zu horchen: Wie geht es mir jetzt, wenn ich in dieser Position als Mutter der Stellvertreterin meines Kindes gegenüberstehe und diesen Satz höre? Und dann kommt vielleicht etwas ganz anderes, etwa dass sie als Stellvertreterin – auch hier wieder relativ nüchtern – sagt: „In mir ist alles ganz kalt und wie tot.“
Nun wurde schon zweimal erwähnt, dass die ausgesprochenen Sätze möglichst einfache Tatsachenfeststellungen sein sollten, nüchtern und ohne Emphase. Es geht eben nicht darum, eine Rolle zu „kolorieren“ und möglichst bewegend zu gestalten. (Das wäre wieder Rollenspiel).
Heißt das nun, dass sich in einer Aufstellung nicht trotzdem Dramatisches und durchaus Ergreifendes abspielen kann? Natürlich nicht. Oft wird es durchaus „dramatisch“, auch wenn das nicht immer der Fall sein muss. Aber wenn es passiert, hat die Dramatik einen anderen Charakter. Die Stellvertreter werden von etwas ergriffen, dass sie nicht geplant, nicht als Rolle angelegt haben. Wenn ein Stellvertreter etwas anfängt, hemmungslos zu weinen oder buchstäblich zusammen zu brechen und dies wirklich als Stellvertretung und nicht als gespielte Rolle erfolgt, dann wird die Stellvertretung von etwas ergriffen, was größer ist. Und was einen sozusagen ungeplant und hinterrücks überfällt. Es handelt sich dann immer um Primärgefühle[2]. Und die können durchaus „wuchtig“ sein, aber sie sind immer im Dienste der Lösung.
Zusammenfassend gesagt: In der Stellvertretung geht es nicht darum, eine bestimmte Persönlichkeit möglichst lebendig werden zu lassen. Die Stellvertretung ist eher wir ein Messinstrument, ein Seismograph, welcher die tektonischen Bewegungen und Spannungen im inneren einer Seele anzeigt. Und das Messinstrument selber soll keine Emotionen auf sich ziehen, es soll anzeigen. Das Angezeigte dagegen kann durchaus heftige Emotionen beinhalten.
[1] Mehr dazu hier:
[2] Mehr dazu hier: Über Gefühle, ihre Qualitäten und ihre Rolle in der Aufstellungsarbeit