Jedes Kind, das auf die Welt kommt, wird in diese Welt gebracht durch einen Vater und eine Mutter. Aber es ist offensichtlich, dass die Anteile von Vater und Mutter an diesem „in die Welt bringen“ nicht gleich sind.
Während der Schwangerschaft wächst das Kind im Körper der Mutter heran. Das ist eine ganz einzigartige körperliche Symbiose. Und jeder noch so subtiler körperlicher Prozess wird vom heranwachsenden Embryo unmittelbar geteilt. Kind und Mutter sind in Vielem weitgehend ein Organismus. Und in dieser Phase werden Grundlagen des Nervensystems und der gesamten Erlebens- und Empfindungsfähigkeit ausgebildet, in dieser Einheit mit der Mutter.
Und auch nach der Geburt bleibt zunächst die Bindung des Neugeborenen an die Mutter eine andere, eine intensivere. Am augenfälligsten wird dies im Prozess des Stillens. Das Stillen ist mehr als nur reine Ernährung des Babys. Es ist auch Ernährung, aber darüber hinaus steht es auch für Bindung, Sicherheit und Geborgenheit. Auch hier „dockt“ der Körper noch einmal an den Körper der Mutter an, hört den vertrauten Herzschlag und erfährt Wärme und Zuwendung in einer sehr direkten und körperlichen Art.
Aber auch im späteren Entwicklungsprozess des Kindes steht in den meisten Fällen die Mutter stärker im Mittelpunkt für das Kind als der Vater.
Dies gibt den Müttern in einer Familie ein besonderes, ein stärkeres Gewicht. Dieses stärkere Gewicht entspringt der anderen Beziehung, die Mütter im Vergleich zu Vätern durch Schwangerschaft, Geburt und Stillen zu den Kindern haben. Und es führt in den meisten Fällen dazu, dass Mütter bezüglich des Innenlebens in der Familie eher „das Sagen“ haben als Väter. Die Mutter steht stärker im Zentrum der Familie und sie bestimmt stärker das Wesentliche im Familienleben. So wird es zumindest in den meisten Familien gelebt. Man könnte also von einem Matriarchat sprechen, dass wir bezüglich des Innenlebens der Familie vorfinden.
Und wenn Eltern sich trennen, sind wir (sozusagen instinktiv) geneigt, die Kinder stärker als der Mutter zugehörig zu empfinden und im Streitfall auch den Müttern zuzusprechen. Ein Empfinden, dass auch in der Praxis der Familengerichtsentscheidungen ihren Niederschlag findet.
Wie gesagt: Dies ist der Regelfall, der gilt, wenn nicht besondere Umstände dagegen sprechen.
Dies bedeutet nun nicht, dass Väter völlig unwichtig sind für die Entwicklung und das Gedeihen der Kinder[1]. Aber es bedeutet: Die Rolle der Väter ist – im Wortsinne – nicht so zentral, nicht so im Mittelpunkt wie die der Mütter. Der Vater steht sozusagen etwas mehr „am Rande“. Er ist etwas mehr ein Unterstützer der Mutter in ihrer Rolle und in ihrem Gewicht im Familiensystem.
Aus dieser beobachtbaren Tatsache rührt der Satz von Bert Hellinger her: „Das Männliche dient dem Weiblichen“.
Korrespondierend damit erleben wir häufig, dass speziell Mütter als Person zentrierter sind, als dies Männer bzw. Väter sind. Eine Frau, die Mutter ist, bedarf weniger der Rückversicherung als Frau. Der Mann bedarf – unabhängig von der Vaterschaft – dieser Rückversicherung seiner Identität als Mann stärker. Und er sucht sie meist in der Gemeinschaft mit anderen Männern.
Noch einmal: Die nicht so zentrale Position der Väter in der Familie bedeutet nicht, dass der Vater unwichtig wäre. Söhne benötigen den Vater als Rollenmodell dafür, was es bedeutet, ein Mann zu sein.
Das ist völlig unbeschadet davon, wie „erfolgreich“ – was immer das auch heißen mag – der Vater in seinem „Mann sein“ ist. Auch ein Vater, der in seinem „Mann sein“ scheitert, zeigt dem Sohn etwas auf einer seelischen Ebene über die besonderen Herausforderungen des „Mann seins“ – wenn er anwesend ist.
Auch Töchter benötigen den Vater, wenn auch anders. Sie benötigen den „väterlichen Blick“, den Blick des andersgeschlechtlichen Elternteils, sozusagen als Spiegel. In dem sie sich als Mädchen und als (spätere) Frau erkennen können – und der bei Abwesenheit der Väter in der Seele schmerzlich vermisst wird[2].
Studien zeigen, dass Kinder, die vaterlos aufwachsen z.B. ein höheres Risiko haben, Schulversager zu werden, eine stärkere Gefährdung zu Drogensucht, Delinquenz, psychischen Störungen oder auch Suizid aufweisen. Aber das sind natürlich nur statistische Tendenzen für ein Kollektiv, die im Einzelfall nicht zutreffen müssen.
All dies ändert aber nichts daran, dass die Mütter ein sozusagen „natürliches“ stärkeres Gewicht im Familiensystem haben, besonders den Kindern gegenüber. Das hat natürlich auch so seine Schattenseiten. Viele an sich unnötigen Einschränkungen und Beschränkungen, die sich Erwachsene in ihrem Lebensvollzug auferlegen, haben etwas mit „inneren Stimmen“ zu tun, die sagen: „Das darfst du nicht“ oder „das tut man nicht“ in den unterschiedlichsten Variationen. Und wenn man dann einmal fragt: Wer spricht da? Dann ist es fast immer die Mutter. Seltener der Vater.
Und mitunter ziehen Frauen aus diesem empfundenen Übergewicht auch den Schluss, dass der Vater eigentlich entbehrlich, ja sogar störend ist. Manchmal verachten sie die Väter. Oder sie verachten das Männliche generell. Und haben dann eine Tendenz, die Väter aus der Familie zu drängen, zu „entsorgen“. Und komplementär dazu: Ein Vater, der in der Familie nicht in seiner Rolle als Vater geachtet und gewürdigt wird, den zieht es oft innerlich und seelisch aus der Familie heraus.
Was wäre hier die Lösung?
Zunächst einmal, dass sich die Mütter ihres besonderen Gewichts in der Familie bewusst sind und es annehmen. Ohne dabei in die Verachtung gegenüber den Vätern zu gehen. Die Mutter spürt in diesem Fall ihre besondere Bedeutung insbesondere in Bezug auf die Kinder. Aber sie muss sich dann nicht „besser“ fühlen gegenüber dem Vater und Mann[3]. Es reicht, wenn sie beim Wissen um ihre besondere Bedeutung (durch Schwangerschaft und Geburt) bleibt und diese besondere Bedeutung ausfüllt. Der Mann hat diese besonderen und tiefgehenden Erfahrungen nicht. In diesem Sinn sind Mütter und Väter nicht nur nicht gleich, sondern auch nicht gleichgewichtig. Das muss anerkannt werden.
In Familienaufstellungen erlebt man häufig, dass der Satz von einer Mutter zum Vater der gemeinsamen Kinder gesagt: „Ich achte dich als Vater unserer Kinder“ oder noch stärker „Dir verdanke ich das Wichtigste in meinem Leben – unserer gemeinsamen Kinder“ eine enorm erleichternde auf das gesamte Familiensystem hat. Wenn er beim Sprechen wirklich innerlich vollzogen wird.
Dasselbe gilt natürlich auch für Väter, die den Müttern sagen: „In dir achte und ehre ich auch die Mutter unserer gemeinsamen Kinder“.
Für diese Wirkung dieser Sätze ist es völlig unerheblich, ob die Eltern zusammen leben oder bereits getrennt sind.
[1] Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich hat in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Buch darüber geschrieben mit dem Titel „Die vaterlose Gesellschaft“. Und das war vor dem Hintergrund der vielen Väter, die entweder nicht aus dem Krieg zurückkehrten oder – wenn sie zurückkehrten – seelisch nicht mehr anwesend waren.
[2] Es gibt Hinweise darauf, dass Mädchen, welche dieses väterlichen Blicks entbehren mussten aufgrund der Abwesenheit der Väter, sich mitunter später deutlich narzisstisch entwickeln. Sie sind obsessiv mit dem Spiegel und der Selbstbespiegelung beschäftigt. Sie suchen dort den väterlichen Blick – und können ihn dort nicht finden.
Und wenn sie später als erwachsene Frauen Beziehungen zu Männern eingehen, suchen sie auch hier den „väterlichen Blick“. Auch dies ist zum Scheitern verurteilt, diese Beziehungen sind zum Scheitern verurteilt – wiewohl sie lange anhalten können.
[3] Man könnte auch sagen: Wenn eine Frau sich „besser“ und überlegen fühlt dem Mann gegenüber, ist dies eine verzerrte Form des Wissens um diese besondere Bedeutung.