Der Kniefall in Warschau – oder: Vom Umgang mit kollektiver Schuld

Am 7. Dezember 1970 kommt es in Warschau zu einem historischen Vorfall. Einem Vorfall, der ein ikonisches Bild erzeugt.

(Bildquelle: Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Kniefall_von_Warschau#/media/File:Willy_Brandt_Square_02.jpg  – Urheber: Szczebrzeszynski – Lizenz: Gemeinfrei)

Was ist passiert?

Im Rahmen des Staatsbesuches des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland in Polen sieht das Protokoll eine Kranzniederlegung am Ehrenmal für die Toten des jüdischen Ghettos in Warschau vor. Eine solche Kranzniederlegung folgt einer bestimmten Choreographie. Obwohl der Staatsbesuch selber alles andere als „gewöhnlich“ war in der historischen Situation des Jahres 1970, ist eine Kranzniederlegung trotzdem etwas, das einer bestimmten Routine folgt. Und so war es auch hier.
Schweigend und gemessenen Schrittes treten der Bundeskanzler und seine Begleiter auf das Mahnmahl zu. Der Kranz wir von zwei Männern aus dem Begleittross zum Mahnmal getragen und dort niedergelegt. Der Bundeskanzler tritt auf das Mahnmal zu, er beugt sich zum Kranz und richtet die Schlaufen mit den Farben der Bundesrepublik Deutschland noch einmal aus. Dann tritt er einige Schritte zurück. Er faltet die Hände, er senkt den Kopf. „In stillem Gedenken“, möchte man sagen.

Und dann geschieht das Unerwartete, das Ungeplante. Statt, wie üblich, stehend zu verharren, sinkt der Bundeskanzler auf die Knie und verbleibt so für etwa eine halbe Minute. Dann steht er auf, dreht sich um – und ist sichtlich ergriffen. Schweigend geht er auf den Begleittross, den Außenminister, seine Berater, die Pressevertreter zu, die ebenso ergriffen und schweigend dastehen. Der damalige Außenminister Walter Scheel, beschreibt die Wirkung auf die Umstehenden später so: „In dem Moment, als wir ausstiegen und vor das Mahnmal traten, war die Stimmungslage sehr überwältigend. Plötzlich sank Willy Brandt auf die Knie und jeder Mensch, der anwesend war, hätte es ihm gleichtun wollen …“ (zitiert nach Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Kniefall_von_Warschau  Hervorhebung von mir)

Noch einmal: Was ist hier passiert?

Der enge Vertraute von Willy Brandt, Egon Bahr, schildert es in einem späteren Interview so:

Er selber hat die Szene gar nicht mitbekommen, er stand hinter einer Gruupe von Journalisten und hat das Bild erst später in Zeitungen gesehen. Aber er spürt: Etwas ist passiert! „Plötzlich wurde es ganz still“ sagt Bahr. Er fragt: „Was ist denn los?“ und jemand dreht sich um und sagt: „Er kniet“.
Am selben Abend kommt es zu einem Gespräch zwischen Brand und Bahr. Bahr ist „befangen“. Er braucht einen Whiskey, um sich Mut anzutrinken, ehe er den Vorfall ansprechen kann. Brandt sagt ihm: „Ich hatte plötzlich das Gefühl: Kranz niederlegen reicht nicht“.

Das ist passiert:

Brandt wird erfasst von einer inneren Regung. Die kommt plötzlich, unerwartet über ihn. Und in der Regung ist eine Botschaft. Die Routine des Protokolls ist nicht genug. Sie ist dem Geschehen nicht angemessen. Und er überlässt sich dieser inneren Bewegung, die in einem Kniefall ihren Ausdruck findet.

Passiert ist eine Bewegung der Seele. Er, Brandt, wird von etwas erfasst. Und er vertraut sich dieser Bewegung an, nicht wissend, wohin sie führen wird. Und diese Bewegung der Seele erfasst auch alle Umstehenden sowie letztlich, über massenmediale Vermittlung, große Teile der Öffentlichkeit in vielen Ländern.

Knapp 20 Jahre später sagt er in einem Interview: „Ich konnte dann letztlich nichts anderes tun, als ein Zeichen zu setzen: ‚Ich bitte … für mein Volk um Verzeihung. Bete auch darum, dass man uns verzeihen möge.’ “

https://www.youtube.com/watch?v=hguYEbpwVZU

Diese Bewegung der Seele erfasst jemanden, der nicht Täter war. Auch nicht Mit-Täter oder Mitläufer. Den keine persönliche Schuld trifft. Der aber über sein Amt und in Vertretung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Bürger in einer Tradition, in einer historischen Linie, in einer Nachfolge steht. Und diese Linie beinhaltet Schuld von Deutschen unter anderem gegenüber Juden und Polen. Dies ist eine Schuld, die ein Kollektiv betrifft, unabhängig von persönlicher Schuld oder Verstrickung des Einzelnen. Und dieser Schuld setzt sich Willy Brandt in diesem Moment ganz aus. Mit aller Wucht der Schicksale von Gewalt und gewaltsamen Tod, die das beinhaltet. Diese Wucht lässt ihn in die Knie gehen und damit ehrt er die von diesen Schicksalen Betroffenen mehr, als eine protokollarisch routinierte Kranzniederlegung es getan hätte.

Neben vielem anderen ist das eine demütige Haltung. Sie erkennt – und anerkennt – das Größere, das in diesen Schicksalen liegt. Und er tut dies schweigend. „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“ (Willy Brandt, zitiert nach Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Kniefall_von_Warschau  Hervorhebung von mir)

In diesen seelischen Bewegungen versagt die Sprache in der Tat in aller Regel. Wir betreten hier außersprachliches Gebiet. Mit der Sprache versagt aber hier auch alle Anklage (oder Selbstanklage) und alles Aufrechnen von Schuld auf den verschiedenen Seiten. Dies alles ist der wahren Größe und Wucht des Geschehens nicht angemessen. Sprache wäre hier nur ein Versuch, das Größere wieder „in den Griff bekommen“ zu wollen. Es lässt sich aber so nicht kontrollieren.

Der Friede der Toten – und der Friede in unseren Seelen

In Familienaufstellungen erleben wir diese seelische Bewegung auch häufig. Insbesondere, wenn es um gewaltsame Tode geht. Die Toten kommen dann zur Ruhe in den Seelen der Überlebenden und der Nachgeborenen, wenn sie gesehen werden. Und gesehen werden heißt hier: Wenn sie angemessen betrauert werden. Wenn ihr Schicksal geachtet wird.

Dann kommen die Toten zur Ruhe, dann entsteht Frieden. Aber nur, wenn die Überlebenden und die Nachgeborenen so, mit dieser inneren Haltung, auf die Toten schauen, sie betrauern und ihr Schicksal würdigen. Das bedeutet aber auch: Die Überlebenden und Nachgeborenen müssen sich „anfassen“ lassen, erfassen lassen durch das, was durch den Tod hindurch in der Seele wirkt.

Und noch etwas anderes zeigt sich immer wieder bei Familienaufstellungen: Es dient auch der Ruhe der Toten und dem Frieden, wenn die toten Täter sich zu den toten Opfern legen. Und wenn die Überlebenden und die Nachgeborenen auf die Toten schauen: Sowohl auf die toten Opfer wie auch die toten Täter.
Das ist schwer zu verstehen. Aber so zeigt es sich in den Aufstellungen immer wieder. Es ist so, als ob die Gemeinsamkeit des Todes hier etwas ausgleichen, etwas versöhnen würde. (Und wenn wir über die Ruhe und den Frieden der Toten reden, meinen wir natürlich auch immer die Ruhe und den Frieden der Toten in unserer Seele.)

Gestört wird diese seelische Bewegung, welche dem Frieden dient, durch Anklagen oder durch Einforderung einer persönlichen Schuld, wo es um die kollektive Schuld geht.

Heißt das etwa, dass persönliche Schuld keine Rolle spielt? Oder das man auf die Strafverfolgung bei persönlicher Schuld verzichten sollte?
Das heißt es nicht. Die Strafverfolgung und auch die juristische Verurteilung von konkreter individueller Schuld sind notwendig und dienen auch dem Frieden und dem Ausgleich[1].

Es dient aber nicht dem Frieden und der Versöhnung, wenn diese beiden Ebenen verwechselt werden. Wenn also ein Nachgeborener eines Opfers von einem Nachgeborenen eines Täters etwas einfordert, als handele es sich um eine persönliche Schuld des einen Nachgeborenen gegenüber dem anderen Nachgeborenen.

Diese Forderung, der Nachgeborene möge eine persönliche Schuld bekennen und anerkennen und büßen, dient nicht dem Frieden – und sie dient auch nicht den Toten. Der so fordernde Nachgeborene, der das Schicksal der Vorfahren rächen möchte an den Nachfahren der Täter, achtet das Schicksal der Opfer nicht. Er stellt sich über die eigenen Vorfahren. Es ist eine anmaßende Haltung, weil sie die Opfer nachträglich klein macht. Die Haltung sagt: „Ihr wahrt damals nicht fähig – aber ich bin es jetzt.“ Damit macht er sich zu groß und die Opfer zu klein. Aus dieser Haltung erwächst nichts Gutes.

Vor allem: Es macht eine seelische Bewegung, wie sie an jenem nebligen und nasskalten Dezembertag 1970 in Warschau stattgefunden hat, unmöglich. Ein abverlangtes persönliches Schuldanerkenntnis, ein Verlangen nach persönlicher Buße oder einer Büßergeste, wo es keine persönliche Schuld gibt, sondern ein „in der Tradition kollektiver Schuld Stehen“, macht die Seele stumm. Da ist ein erfasst werden von der Größe und der Wucht von Schicksalen nicht mehr möglich. Es geht in einem solchen Kontext schlicht nicht. Und so werden die Toten wieder nicht gewürdigt in ihrem Schicksal: Weder von den nachgeborenen „Anklägern“ noch von den nachgeborenen „Angeklagten“.

Die Geschichte der Menschheit ist voller kollektiver Schuld, die über die Nachgeborenen seelisch nachwirkt, sowohl auf der Opfer- wie auf der Täterseite. Europäer stehen einer historischen Linie der gewaltsamen Eroberung und Unterwerfung ganzer Kontinente. Weiße US-Amerikaner stehen in der Nachfolge der Verschleppung und Versklavung von Afrikanern. Heute lebende Türken stehen in der Nachfolge des Völkermords an Armeniern in den Jahren 1915/16. Um nur einige Beispiele zu nennen. Es geht aber nicht nur um Nationen oder Völker. So steht z.B. die katholische Kirche in diesem Sinne „im Erbe“ der Hexenverbrennung und Ketzerverfolgung. Und auch im Verhältnis von Männern und Frauen gibt es solche Momente.

Der Friede unter den Nachgeborenen, sowohl im Äußeren wie im Inneren der Seele, bedarf einer seelischen Bewegung, wie sie sich in Warschau am 7. Dezember 1970 gezeigt hat.
Eine tagespolitisch motivierte Agitation und Propaganda der Schuldzuweisung dient dem Frieden und dem Seelenfrieden in aller Regel nicht. Weder bei den Opfern noch bei den Nachgeborenen. Sie ist zu „billig“ – und wird dem Leiden und den Schicksalen nicht gerecht.

[1] Für die Täter ist das Erkennen und Anerkennen der eigenen persönlichen Schuld auch der Weg, wieder in ihre Würde zu kommen.