Seelisch abwesende Elternteile

In vielen Familienaufstellungen geht es im Kern darum, die ursprüngliche Liebe zwischen Kindern und ihren Eltern wieder spürbar zu machen, den Fluss dieser ursprünglichen Liebe wieder in Gang zu bringen, wo er blockiert war oder ist. Wenn dies gelingt, ist dies emotional sehr bewegend für alle Beteiligten und auch für alle Beobachter, die nicht als Stellvertreter in der Aufstellung involviert sind.

Aber mitunter gelingt es nicht. Es gibt Aufstellungen, bei denen sich über die Stellvertreter zeigt, dass z.B. eine Mutter schlicht nicht verfügbar ist. Seelisch nicht verfügbar ist. Oft ist in solchen Fällen diese Mutter – um in dem Beispiel zu bleiben – innerlich sozusagen „gefangen“ in der Beziehung zu jemand anderem aus der Herkunftsfamilie mit einem tragischen Schicksal. Und weil sie auf der seelischen Ebene eben zu weiten Teilen „dort“ ist, ist sie nicht „hier“. Und somit für das Kind seelisch nicht erreichbar.

Dies hinterlässt beim Kind eine schmerzhafte und oft dauerhafte seelische Wunde. Und in manchen Aufstellungen kann diese Wunde nicht geheilt werden. Tatsächlich macht die Aufstellung es nur deutlich: Hier ist eben z.B. die Mutter seelisch nicht erreichbar und es gibt nichts, was man tun könnte, um dies zu ändern. Sie „funktioniert“ vielleicht in den wesentlichen Dingen des Alltags und der Versorgung des Kindes, aber eben auf eine seelisch abwesende Art.

Nun ist es ganz sicherlich so, dass es in jeder Kindheit Momente gibt, wo sich das Kind nicht genug gesehen und beachtet fühlt. Das ist unvermeidlich. Die Idee, Eltern müssten perfekt und unfehlbar in ihrer Eigenschaft als Eltern sein, ist irreal. Gemeint ist hier also nicht, dass es in der Kindheit irgendwann und irgendwo Kränkungen der kindlichen Seele gab. Es geht hier um eine Konstellation, in der z.B. eben die Mutter dauerhaft und grundsätzlich seelisch abwesend, also nicht verfügbar war.

Was wäre die Lösung in so einem Fall?

Es gibt hier keine Lösung im Sinne einer Auflösung der Blockade von seelischen Energien.

In Aufstellung gelingt eine solche Lösung im Sinne einer Auflösung oft, wenn es um etwas geht, was wir „unterbrochene Hinbewegung“ nennen. Wenn die ursprüngliche Hinbewegung des Kindes zur Mutter – und die allererste Bewegung ist hier beim Neugeborenen die Bewegung zur Mutterbrust – unterbrochen wird. In der Seele des Kindes entsteht hier eine fundamentale Enttäuschung und ein großer Schmerz. Und zur Vermeidung des Schmerzes „beschließt“ die Seele des Kindes sozusagen: „Ich will es nicht mehr versuchen“. In Kindern zeigt sich das oft in der Form des Trotzes.
In solchen Fällen kann die ursprüngliche Wunde oft in einer Familienaufstellung geheilt werden. In dem in der Familienaufstellung diese ursprüngliche Hinbewegung, meist zur Mutter, nachgeholt wird. Wenn dies gelingt und auch innerlich vollzogen wird, ergibt sich ein grundlegend geändertes Lebensgefühl.

Hier aber geht es nicht um punktuelle Enttäuschungen oder unterbrochene Hinbewegungen. Hier geht es darum, dass ein Elternteil, im Beispiel eine Mutter, grundsätzlich seelisch abwesend, seelisch nicht verfügbar ist.

Was also ist hier gemäß? Nun, zunächst einmal: (An)Erkennen, was ist. Was in dem Fall bedeutet: Die Aufstellung zeigt, dass ich keine Chance hatte als Kind, wirklich gesehen zu werden. Und mehr noch: Es gibt nichts, was man daran ändern könnte, auch nicht im Nachhinein. Dieser Elternteil war nicht erreichbar.

Das klingt hart. Und das ist es auch. Das ist ein schweres Schicksal für das Kind. Aber es gibt noch etwas anderes dabei. Nämlich die Tatsache, dass das Kind geboren wurde, ins Leben kam, groß wurde, also offenbar zumindest mit Nahrung, Kleidung, Wohnung usw. hinreichend versorgt wurde. Wenn auch vielleicht auch mit wenig Anteilnahme und menschlicher Wärme. Und auch diese Tatsache muss gewürdigt werden. In einer Aufstellung wird dies vollzogen, wenn das Kind sich vor die Mutter stellt und sagt: „Ich verdanke dir mein Leben! Ohne dich wäre ich nicht.“ Und vielleicht ergänzend: „Als Kind hätte ich deine Aufmerksamkeit so sehr gebraucht!“

Wie oft in Aufstellungen ist es diese einfache Feststellung von Tatsachen, die eine Erleichterung bringen. Ohne Vorwürfe, ohne Diskussion. Einfach: Sagen, was ist bzw. was war. Aber im Angesicht der seelischen Wunde gehört es mit zum Schwersten, was man tun kann. Es ist eine Zumutung. Zumutung bedeutet: Wir trauen der Seele des nun erwachsenen Kindes den Mut zu, diesen Schritt zu gehen. Im vollen Bewusstsein, wie schwer er ist.

Oft zeigt sich in Aufstellungen in solchen Fällen aber noch etwas anderes. In vielen solchen Fällen gibt es im Familiensystem noch eine andere Quelle, von der das Kind das erhalten kann, was bei der Mutter nicht zu erhalten war. Nämlich das, was wir die ursprüngliche Liebe nennen. Das könnte der Vater sein, aber oft ist er es nicht. Meist ist es eine Großmutter, eine Großvater, ein Onkel. Und wenn man dann diese Person aus dem Familiensystem hinter die (innerlich abwesende) Mutter stellt, dann strahlen sie über die Schulter der Mutter hinweg das Kind an.

Es gibt also in manchen Fällen die Möglichkeit für das Kind, dasjenige, was bei der Mutter schmerzlich vermisst wird, sozusagen stellvertretend durch ein anderes Familienmitglied zu erhalten. Es wird auf der seelischen Ebene sozusagen ein Bypass gelegt. Und damit wird die Blockierung der ursprünglichen Liebe zwar nicht beseitigt, aber umgangen – mit einer tiefen heilenden Wirkung.

Die Heilung des inneren Kindes oder: Die Selbstbemutterung

Was aber, wenn auch einen solcher „Bypass“ nicht möglich ist? Im Rahmen von Aufstellungen gibt es hier noch eine Möglichkeit für einen Heilungspfad, der zunächst paradox erscheint. Es ist ein wenig wie in der Münchhausen-Sage, in welcher der Held sich und sein Pferd an den eigenen Stiefelschnallen aus einem Sumpf herausgezogen haben will.

Wenn ein Kind dauerhaft wenig liebevolle Aufmerksamkeit erfährt, dann spaltet es sich seelisch an einem bestimmten Punkt ab. In der Psychologie nennt man das eine Dissoziation, in schamanistischen Traditionen ist es als Verlust von Seelenanteilen bekannt. Ein seelischer Teil, das innere Kind in einem bestimmten Alter, spaltet sich also vom Rest der Seele und der kindlichen Persönlichkeit ab und bleibt sozusagen stehen. Es weigert sich, mit dem Rest mitzuwachsen. Und jetzt lebt in dem Erwachsenen dieses innere Kind – aber anteilslos. Eben abgespalten.

Im Rahmen einer Aufstellung kann man dieses innere Kind aufstellen. Und das erwachsene Ich als separate Person kommt, um dieses innere Kind aus dem inneren Exil abzuholen. Und letztlich geht es darum, die erwachsene Person wieder so mit dem verlorenen inneren Kind zu verbinden, dass dieses Kind ein Zuhause hat und „nachreifen“, nachträglich wachsen kann. Man könnte den Prozess auch als eine Form der Selbstbemutterung bezeichnen, die ein Erwachsener einem eigenen inneren Anteil gegenüber vornimmt.

Der Prozess selber ist hier sehr einfach und etwas verkürzt dargestellt, der tatsächliche Vollzug ist alles andere als einfach. Der Erfolg beruht wesentlich darauf, das Vertrauen des abgespaltenen inneren Kindes zu gewinnen – was nicht leicht ist und auch nicht immer vollständig gelingt.

Aber diese Möglichkeit besteht. Sie erfordert aber nach der Aufstellung einen längeren Prozess, um das heimgeholte innere Kind wirklich heimisch werden zu lassen. Die eigentliche „Arbeit“ beginnt also in diesem Fall nach der Aufstellung.