Die Kraft der einfachen Sätze

In Familienaufstellungen lässt die Leitung der Aufstellung die Stellvertreter in der Aufstellung oft bestimmte Sätze sagen. Genauer gesagt: Es werden Vorschläge für Sätze gemacht. Die so angesprochenen Stellvertreter müssen dann prüfen, ob der Satz stimmig ist. Falls ja, sagen sie den Satz, sonst nicht.

Diese Sätze sind fast immer einfache Sätze. Es sind einfache Aussagesätze. Oft beschreiben diese Sätze offensichtliche Tatsachen. Ein Beispiel wäre eine Tochter, die in einer Aufstellung ihrer Mutter gegenüber steht und zu ihr sagt: „Ich bin deine Tochter“.

Solche einfachen Sätze haben, wenn sie treffend sind, eine besondere Wirkung. Es kann sein, dass es ein solcher Satz ist, der in einer Aufstellung die entscheidende Bewegung oder Wende bewirkt. Oder durch das aussprechen eines Satzes kommt etwas in der Seele der Protagonisten in Fluss, was vorher blockiert war. Dann fließen mitunter Tränen, aber es sind dann heilende Tränen.

Wie gesagt: Oft sind es offensichtliche Tatsachen, die in diesen einfachen Sätzen benannt werden. (Manchmal sind es aber auch sehr überraschende Sätze, bei denen man sich im Nachhinein fragt: „Wie kam ich jetzt eigentlich darauf?“). Man könnte sich also fragen: Warum hat das Aussprechen von etwas Einfachem und Offensichtlichem eine Wirkung? Mir scheint, die Wirkung entsteht, wenn etwas Wesentliches erfasst und ausgesprochen wird. Und ob es wirklich wesentlich ist, merkt man an der Wirkung. Das Wesentliche kann schlicht sein, weil sich hier Vieles verdichtet wie im Brennpunkt einer Linse.
Bei Bert Hellinger ist in den späten Aufstellungen diese Verdichtung oft noch einmal gesteigert, in dem gar keine Sätze mehr gesagt wurden, sondern vielleicht nur noch ein Wort. Oder im Extrem mitunter gar kein Wort mehr, sondern nur noch eine einfache Geste, die alles ausdrückt.

Das Finden der einfachen Sätze

Wie kommen wir zu diesen einfachen Sätzen, welche das Wesentliche ausdrücken? Wie kommen wir überhaupt zum Wesentlichen? Ein erster Punkt dabei scheint zu sein, sich möglichst vorbehaltlos dem anzuvertrauen, was gerade ist und was sich zeigt. Ihm sich sozusagen mit der größtmöglichen Fläche auszusetzen. Das nächste ist, bei diesem „Schauen“ so weit wie irgend möglich alle vorgefassten Meinungen und Ansichten fallen zu lassen. Das betrifft besonders Ansichten über richtig und falsch sowie gut und böse. Man wird in gewisser Weise innerlich leer, man schafft innerlich einen Raum, in dem etwas Neues entstehen kann. Damit einher geht: Man wird innerlich ruhig. Und dann kann es passieren, dass aus der inneren Stille ein Wort, ein Satz oder ein Bild einen erreicht. Etwas taucht auf aus dem Urgrund des Seins. Und wenn es zum gegenwärtigen Moment und zur Situation passt, dann hat es Kraft. Und ob etwas Kraft hat oder nicht, spüren wir sofort.

Solche einfachen Sätze mit Wirkung sind Momentaufnahmen. Sie stimmen – wenn sie denn stimmen – JETZT. Sie lassen sich nicht festhalten, aufbewahren oder konservieren. Sie passen in 2 Tagen, in 2 Monaten oder in 2 Jahren vielleicht nicht mehr.

Eine Zen-Geschichte

Der Geist und die Haltung, um die es bei dieser Einfachheit geht, werden auch in einer Zen-Geschichte deutlich, die mir im Gedächtnis geblieben ist, auch wenn ich die Quelle vergessen habe. Sie geht so:

Ein Mann kam zu einem buddhistischen Mönch, der wegen seiner Weisheit bekannt war, um einen Rat einzuholen. Ihn bedrückten Fragen nach dem Sinn des Lebens, des menschlichen Leidens und der Ungleichheit in der Welt. Er trug dem Mönch seine Fragen vor und bat um eine Antwort. Der Mönch saß eine Weile still, das Anliegen bedenkend. Dann schaute er den Mann an und wies mit einer Geste nur auf zwei Bambussträucher in der Nähe.
“Verehrter Meister, ich verstehe deine Antwort nicht“ sagte der Mann. Worauf der Mönch erwiderte: „Wie groß der eine ist – und wie klein der andere!“.
Da verließ der Mann den Mönch und war – dem Vernehmen nach – leichten Herzens und mit der Antwort zufrieden.

Wen die Geschichte stimmt, passte die Antwort. In diesem Fall. Aber wir können daraus keine Routine und kein System machen. Wir können nicht jedes mal, wenn ein Mensch mit einer Frage kommt, auf zwei Bambussträucher verweisen und „wie groß dieser ist und wie klein jener ist!“ sagen.