Aufstellungen und die Heilung des inneren Kindes


 Bild von Christine Engelhardt auf Pixabay

In jedem von uns lebt ein inneres Kind – das Kind, das wir einmal waren. Manchmal ist dieses innere Kind vorsichtig und angepasst, manchmal rebellisch oder trotzig. Manchmal ist das innere Kind verängstigt, manchmal verunsichert, manchmal schreit es nach Liebe und Aufmerksamkeit, manchmal ist es resignativ verstummt. Im günstigsten Fall ist es verspielt, voller Lebenslust und lebt ganz im Hier und Jetzt. Und manchmal hat sich das innere Kind – genauer: Ein innerer Kindanteil – auch völlig abgespalten. Letzteres ist das Definitionskriterium für ein psychisches Trauma: Ein Teil der Persönlichkeit trennt sich ab, weil ein Ereignis oder eine Situation zu überwältigend ist. Im schamanischen Weltbild findet hier ein Verlust von Seelenanteilen statt.

Nicht jeder Mensch hat ein wirklich traumatisches Ereignis selber erlebt. Leider werden aber auch in einer Familie traumatische Erlebnisse der vorigen Generationen weitergegeben. Dazu muss das Kind nichts über die Ereignisse wissen, aber das Kind erspürt Stimmungen und ein Lebensgefühl und nimmt es in sich auf. Traumata können also auch über die Generationen hinweg sozusagen „vererbt“ werden. Interessanterweise hat man eine solche transgenerationale Weitergabe von Traumata auch in anderen Säugetieren in entsprechenden Versuchen nachweisen können[1].

Aber selbst wenn wir nicht über ein Trauma im engeren Sinne reden: In praktisch jedem Menschen wohnt ein inneres Kind, dass zumindest eine schwerwiegende Enttäuschung oder eine bedeutsame Kränkung erlitten hat – manchmal als punktuelles Ereignis, manchmal andauernd über einen längeren Zeitraum.

Das ist nicht vermeidbar. Einerseits, weil das Kind, wenn es auf die Welt kommt, existenziell bedürftig ist. Dies ändert sich mit dem Heranwachsen, das Kind wird zunehmend selbständiger und damit weniger bedürftig. Aber das sind graduelle Abstufungen und am Beginn ist das Baby eigentlich nichts anderes als bedürftig. Bedürftig nach Schutz, Geborgenheit, Versorgung, Liebe, Zuwendung und sicherer Bindung.

Das Kind trifft dann auf Eltern, die nicht perfekt sind. Niemand ist perfekt. Natürlich sind die „Defizite“ der Eltern höchst unterschiedlich, aber die Illusion der „perfekten“ Eltern ist genau das: Eine Illusion. Zumindest Enttäuschungen, Versagungen und Kränkungen der Kinder in der einen oder anderen Form sind daher unvermeidbar. Im günstigsten Fall können Kinder dies verarbeiten, dann handelt es sich um Wachstumsimpulse.

Aber die Annahme, dass jede enttäuschte Bedürftigkeit eines Kindes produktiv als Wachstumsimpuls verarbeitet werden könnte, erscheint nicht realistisch. (Dann müsste es eben auch „perfekte“ Kinder geben, die es ebenso wenig gibt, wie „perfekte“ Eltern).
Das ist der eigentlich Kern der Redeweise vom verletzten inneren Kind, das in jedem von uns im Inneren beheimatet ist.

Sehr deutlich zeigt sich das innere Kind in fast allen Konflikten zwischen Erwachsenen. Vor allem in Partnerschaftskonflikten, aber auch bei vielen Konflikten im Arbeitsleben kann man beobachten, dass sich hier zwei verletzte innere Kinder streiten. Und weil in den beteiligten Personen die inneren Kinder am Werke sind, können diese Konflikte selten von den Konfliktbeteiligten ohne neutrale Unterstützung von Dritten produktiv gelöst werden.

In praktisch jeder Familienaufstellung wird das innere Kind angesprochen, wenn auch nicht immer ausdrücklich. Es gibt hier zwei wesentliche innere Bewegungen, die gegensätzlich verlaufen.

Die erste Bewegung: Die Hinbewegung zu den Eltern

Das Kind nimmt von den Eltern. Dazu muss es sich auf die Eltern zu bewegen. Das Kind nimmt aber nicht nur von den Eltern, es muss auch die Eltern nehmen. Die Eltern annehmen so wie sie sind, mit allem was zu Ihnen gehört. Warum ist das so? Die ebenso schlichte wie tiefgreifende Antwort lautet: Ohne die Eltern gäbe es das Kind nicht. Jedes Kind verdankt seinen Eltern sein Leben. Und diese Tatsache ist wichtiger als alle anderen Begleitumstände.

Was bedeutet es, wenn jemand mit seinen Eltern in ihrem So-Sein hadert? Wenn jemand – mehr oder weniger bewusst – denkt: Ich hätte eigentlich andere Eltern verdient gehabt? Wenn diese Person aber andere Eltern gehabt hätte, wäre es ja eben offensichtlich eine andere Person. Die Ablehnung der Eltern bedeutet also nichts anderes als: Ich lehne mein Leben ab. Oder auch: Ich lehne mich ab. Da kann das Leben schwerlich gelingen.

Deshalb spielt in fast jeder Familienaufstellung es eine Rolle, dass das Kind (als Kind!) auf die Eltern oder auf einen Elternteil – da, wo die Annahme schwierig ist – zugeht. Und dann wird oft aufgefordert, ganz einfache Sätze zu sagen. Wie zum Beispiel „Ich bin deine Tochter / dein Sohn.“ Oder: „Du bist meine Mutter / mein Vater.“ Oder auch: „Ich bin hier nur das Kind. Ich bin hier die/der Kleine.“ Diese einfachen Aussagesätze entfalten eine Kraft, wenn sie wirklich in der ganzen Tiefe gespürt werden[2]. Hier ist das Kind wirklich Kind – und bleibt es, den Eltern gegenüber. Ein anderer bekräftigender Satz könnte lauten: „Ich nehme jetzt das Leben vollständig an, genau so, wie ich es von Euch erhalten habe. Ohne Abstriche.“

Diese Bewegung des Kindes auf die Eltern zu und das ungeminderte Annehmen des Lebens, das von den Eltern zu mir geflossen ist, ist eine heilende Bewegung des inneren Kindes. Wenn sie wirklich als Kind vollzogen wird.

Die Gegenbewegung: Die Hinwendung zum eigenen Leben

Ergänzt wird diese erste fundamentale Bewegung durch eine zweite, dazu gegensätzliche Bewegung. In Familienaufstellungen geschieht das oft in der Form, dass das Kind bei den Eltern wächst, größer wird. Und dann nach einer Weile sich umdreht, sich vielleicht noch eine Zeit mit dem Rücken bei den Eltern anlehnt, und dann einen Schritt von den Eltern weg in das eigene Leben macht. Aber mit den Eltern im Rücken.

Bert Hellinger hat in den frühen Familienaufstellungen die Protagonisten oft einen Satz sagen lassen, der in etwa so lautet: „Ich nehme jetzt mein Leben, so wie ich es von Euch bekommen habe. Und ich mache etwas Eigenes daraus.“ Eine der Wirkungen ist: Ich entlasse damit die Eltern aus der Verantwortung für meinen Lebensvollzug, ich nehme mein Leben in die eigenen Hände. Aber mit Achtung für die Quelle dieses Lebens.

Diese zweite Bewegung hat eine bedeutsame Konsequenz für das innere Kind mit seinen Verletzungen, Enttäuschungen und Kränkungen. Wenn dieser Schritt, die Ablösung von den Eltern und der Schritt in das eigene Leben, innerlich vollzogen wird, dann bin ich für dieses innere Kind in mir zuständig. Dann kann ich nicht mehr sagen „Ja, das ist so, weil meine Mutter damals …“ oder „… weil mein Vater damals …“. Dann bin ich in der Verantwortung. Dann ist meine Aufgabe, mich um dieses innere Kind in mir zu kümmern, es in seiner Bedürftigkeit zu sehen und es „nachzunähren“, wo es Defizite gab.

Die Aufstellung von inneren Kindern

Mitunter muss man in einer Familienaufstellung auch das innere Kind direkt über Stellvertreter mit aufstellen. Das ist insbesondere dann angezeigt, wenn es zu einer Abspaltung (im Psychologenjargon: einer Dissoziation) gekommen ist. Dazu fragt man nur, wie alt das innere Kind ist. Und stellt dann dieses innere Kind mit auf, wenn es noch klein ist, setzt man es auf den Boden.

Die erwachsene Person begegnet nun in der Aufstellung ihrem verletzen inneren Kind. Manchmal kann hier die Annäherung nur sehr vorsichtig gelingen, weil hier seitens des inneren Kindes noch ein großes Misstrauen vorhanden ist. Es geht im ersten Schritt also erst einmal um Kontaktaufnahme und Vertrauensbildung. Im den nächsten Schritten geht es darum, dem inneren Kind, das ja vor etlichen Jahren irgendwo stehen geblieben ist, zu sagen, dass man das erwachsene Ich aus der Zukunft ist und es jetzt abholen wird. Oft warten die inneren Kinder schon sehr lange darauf, endlich abgeholt zu werden. Aber das ist natürlich im Einzelfall über die Reaktion der Stellvertreter zu prüfen. Im letzten Schritte wird dann das innere Kind in die erwachsene Person aufgenommen, in sie integriert. Manchmal ist es auch hilfreich, dem inneren Kind zu sagen: „Ich zeige dir jetzt meine Welt. Wo ich wohne, wo ich arbeite, mit wem ich zusammen lebe usw.“

Aber wie gesagt: Das explizite Aufstellen des inneren Kindes über Stellvertreter ist nicht immer notwendig. In vielen Fällen werden durch die beiden oben beschriebenen Bewegungen der Hinbewegung zu den Eltern einerseits und des Erwachsenwerdens bei den Eltern und der Zuwendung zum eigenen Leben andererseits die verletzten inneren Kinder hinreichend angesprochen.

Eine kleine Übung zur Kontaktaufnahme mit dem inneren Kind

Es gibt eine kleine Übung, die man machen kann, um auch außerhalb des Rahmens von Familienaufstellungen Kontakt zum inneren Kind aufzunehmen und zur Heilung des inneren Kindes beizutragen. Die Übung geht in drei Schritten:

  1. Man nimmt ein Blatt Papier und einen Stift und schreibt auf das Blatt Papier die Frage: „Mein liebes inneres Kind: Was möchtest du heute?“
  2. Dann stellt man sich das so angesprochene innere Kind vor, macht sich wirklich ein inneres Bild von ihm in einem bestimmten Alter und schreibt dann die Antwort des inneren Kindes mit der nicht dominanten Hand. Als Rechtshänder schreibt man also mit der linken Hand, als Linkshänder mit der rechten Hand die Antwort des inneren Kindes auf das Blatt Papier.
  3. Als letzten Schritt redet man mit dem inneren Kind über dessen Wunsch und Bedürfnis, wann und unter welchen Umständen ich, die erwachsene Person, dem inneren Kind sein Bedürfnis erfüllen kann.

In vielen Fällen wird es einfach sein und man kann es direkt tun. Wenn das innere Kind als schreibt: „Ich möchte, dass du mich siehst und mich lieb hast“ dann nimmt man sich einfach wenige Minuten, in denen man auf diese Kind im Inneren schaut – mit Liebe. Manchmal wird man vielleicht auch mit dem inneren Kind etwas vereinbaren. Wenn das innere Kind schreibt „Ich möchte, dass wir schwimmen gehen“, dann wird man ihm vielleicht sagen: „Heute geht es leider nicht, aber ich verspreche dir, dass wir am Wochenende schwimmen gehen“. Und dann geht man am Wochenende eben schwimmen. Natürlich sollte man hier nur Zusagen machen, die man bereit und in der Lage ist, auch einzuhalten.

________________________

[1] Ein Dokumentarfilm, der ursprünglich auf ARTE ausgestrahlt wurde und noch über YouTube verfügbar ist, behandelt unter Anderem entsprechende Untersuchungen bei Mäusen.

[2] Sie dazu auch den Blogbeitrag vom Januar 2020 mit dem Titel „Die kraft der einfachen Sätze“.