Klein sein

Manchmal fühlen wir uns klein. Mitunter auf eine unangenehme Weise klein, machtlos, gar hilflos. Und manchmal wird das klein sein auch als Segen erlebt. Wir erleben uns als eingeordnet und aufgehoben in Etwas, was unsere Kraft als Einzelner übersteigt.

Dieser Beitrag handelt von dem Klein-Sein als Segen.

Begebenheit in einer Aufstellung

Es kommt mir dazu eine Aufstellung in den Sinn. Ein Mann ging zu einer Aufstellung mit dem Anliegen: Er fühle zunehmend eine innere Leere. Beruflich und auch privat war er erfolgreich – gemessen an den gängigen Maßstäben.

Er stellte seine Herkunftsfamilie auf. Er stellte dabei seine Mutter und seinen Vater und seine Schwester nebeneinander auf der einen Seite des Raumes auf und sich selber auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes mit maximaler Distanz in eine Ecke. Der erste Impuls seines Stellvertreters war: Er wollte sich noch weiter entfernen. Er stellt sich dann auf die Schwelle einer Tür, die sich in dieser Ecke des Raumes befand, halb innerhalb des Raumes, halb außerhalb. Auf dei Frage, ob er irgendetwas empfinde den anderen Personen gegenüber, sagte er: „Nein, nichts.“

Es wurde unmittelbar deutlich in der Anfangsphase dieser Aufstellung, dass es um den Vater ging. Dieser stand mit hängenden Schultern an seiner Position und schaute mit traurigen Augen auf den Sohn. Der Vater hatte in mancherlei Hinsicht ein schwieriges Leben gehabt, die Details spielen hier aber keine Rolle.

Der Stellvertreter wurde aufgefordert, einmal – und sei es nur versuchsweise – aus dem Türrahmen heraus zu treten und einen kleinen Schritt auf den Vater hin zu gehen. Als er der Einladung – zunächst widerwillig – nachkam, veränderte sich etwas. Der Stellvertreter empfand eine deutliche Verachtung für den Vater. Er sagte: „Der ist ein Feigling. Der ist ein Schwächling.“ Er wurde aufgefordert, ihm diese Sätze direkt zu sagen: „Du bist ein Feigling! Du bist ein Schwächling!“. Aber dabei den Vater anzuschauen und langsam, in kleinen Schritten dabei auf ihn zuzugehen. Auf halber Strecke des Weges intensivierte sich die Verachtung, wurde sehr kraftvoll. Als er noch näher kam, nahm die Intensität der Verachtung wieder ab. Der Stellvertreter sagt noch die Sätze, aber mit abnehmender Emotionalität. Als er unmittelbar vor dem Vater stand, fühlte er sich verwirrt. Die Verachtung war noch da, als Gedanke – aber ohne Ladung, ohne gefühlte Kraft.

Der Stellvertreter wurde aufgefordert, die Sätze „Du bist mein Vater. Ich komme von dir. Ohne dich wäre ich nicht“ zu prüfen und zu sagen, wenn er stimme. Der Stellvertreter sagte den Satz – ohne eine wesentliche Veränderung. Nur die Verwirrung nahm zu.
Dann wurde der Stellvertreter aufgefordert, auf die Knie zu gehen und seinen Vater von unten anzusehen, zu ihm aufzuschauen. Und das war die entscheidende Bewegung. Sofort und für alle im Raum spürbar, kam die unmittelbare Liebe zwischen Vater und Sohn ins Fließen. Es musste nichts mehr gesagt werden.

Vom Segen des klein Seins

Warum erzähle ich die Begebenheit? Nun, der Schlüssel war in diesem Fall, klein zu werden. Klein zu werden gegenüber dem Vater. Aber warum? War es nicht so, dass der Sohn erfolgreicher war, mehr erreicht hatte im Leben, als der Vater? Doch, so war es. Und doch ist der Vater hier der Große und der Sohn der Kleine. Warum? Einfach, weil es ohne den Vater den Sohn nicht gäbe. Das ist die Tatsache, die in der Seele über allen anderen Tatsachen – etwa Tatsachen des Erfolges – steht. Und die Anerkennung dieser Tatsache löst etwas in der Seele.

Manchmal erreicht uns die Einsicht mit Worten. Aber manchmal bewirken die Worte alleine wenig. Dann erreicht uns die Einsicht vielleicht über eine Haltung, über den Körper.

Wo noch sind wir klein, außer im Verhältnis zu unseren Eltern? Nun offenbar gegenüber Naturgewalten. Auch sind wir oft klein gegenüber politischen oder gesellschaftlichen Bewegungen. Vor allem aber sind wir klein gegenüber dem Schicksal. Das ist besonders deutlich zu spüren, wenn wir im Leben Schicksalsschläge erleiden.

Mitunter bleibt dann nicht mehr zu tun, als sich vor der Größe dieses Schicksals zu verneigen.