Über das Helfen

Das Helfen hat einen guten Ruf. Viele Menschen sagen, es sei ihr Ziel, anderen Menschen zu helfen. Tatsächlich erfahren wir häufig, allerdings nicht immer, das Helfen als etwas Erhebendes oder Aufbauendes. Oft ist es ein größeres Glücksgefühl, jemanden helfen zu können, als selber etwas zu erlangen.

Das Helfen hat aber auch eine Schattenseite. Wenn wir zum Beispiel kleinen Kindern in dem Alter, wo sie es noch nicht gut können, zu sehr und zu oft helfen etwa beim Anziehen oder beim Schuhe zubinden, verhindern wir hier Lernen und Kompetenzerwerb, besonders wenn wir ungeduldig sind, weil es uns zu lange dauert, wenn die Kinder es selbst machen. Etwas Ähnliches passiert am anderen Ende des Lebens, bei alten Leuten, etwa in Pflegeeinrichtungen. Wenn hier zu stark und zu früh den alten Menschen etwas abgenommen wird, was sie – wenn vielleicht auch mit Mühe – selber tun könnten, verlieren sie diesen Aspekt der Selbstständigkeit schneller, als es eigentlich nötig wäre.

Helfer braucht Hilfsbedürftige

Ein anderer Aspekt der Schattenseite des Helfens ist: Der Helfer benötigt dringend, um helfen zu können, einen Hilfsbedürftigen. Das mag in manchen Fällen die Tendenz in sich tragen, andere Menschen in einem überzogenen Ausmaß als hilfebedürftig und damit als nicht kompetent und autonom anzusehen. Es kann sein, dass ein bestimmter Teil der Hilfsbedürftigkeit erst in der Interaktion zwischen Helfer und Hilfsbedürftigem entsteht. Und der (heimliche) Nutzen für den Helfer besteht dann darin, sich überlegen fühlen zu können. Der durchaus fragliche Nutzen auf Seiten der hilfeempfangenden Person wäre, etwas nicht selber tun zu müssen, was ich eigentlich durchaus selber tun könnte. Das ist kurzfristig entlastend, untergräbt aber auf längere Sicht meine Kompetenz und mein Selbstwirksamkeitsgefühl. Nicht umsonst ist in der Psychologie der Begriff der „erlernten Hilflosigkeit“ ein prominentes Konzept.

Wenn du, liebe Leserin und lieber Leser, zu denjenigen Menschen gehörst, die sich sehr oft zum helfenden Eingreifen aufgerufen fühlen, manchmal bis an den Rand der Erschöpfung, wäre eine ernsthafte Selbstprüfung angezeigt. Zu überprüfen wäre: In wie weit benötige ich die Hilflosigkeit anderer Personen? Brauche ich sie vielleicht auch deshalb, weil ohne meine Hilfsleistungen ich mit meiner eigenen Hilflosigkeit in bestimmten Lebensbereichen konfrontiert wäre, mich damit befassen müsste?
Man stelle sich das einfach einmal sehr lebendig vor: Wie wäre es, wenn es in meinem Umfeld keine schwachen, inkompetenten und hilfsbedürftigen Personen gäbe? Würde mir etwas fehlen? Was wäre die Leerstelle in mir, die sich dann auftäte?
Besonders intensiv ist diese – möglichst regelmäßige – Selbstprüfung natürlich für Personen angeraten, deren Profession das Helfen ist. Die Frage wäre hier: Sind wir nicht im Kern auch „hilflose Helfer“, wie ein Buchtitel des Psychoanalytikers Wolfgang Schmidbauer lautet[1].

Nun ist natürlich das Helfen nichts per se Schlechtes, nichts an sich Selbstsüchtiges, wie es vielleicht nach den obigen Ausführungen erscheinen mag. Menschen sind grundlegend auf andere Menschen bezogen und damit auch auf andere Menschen, auf ihre Hilfe, angewiesen. Und andererseits: Wer nicht helfen kann, wer nicht gebraucht wird, verkümmert.

Darf man helfen?

Das ist eine irritierende Frage. Vordergründig ist es ja so, dass man nicht nur helfen darf, sondern in vielen Situationen auch helfen muss. In manchen Situationen ist ein Nicht-Helfen als unterlassen Hilfeleistung ein Straftatbestand.

Also stellen wir die Frage lieber so: Wann darf ich helfen und wie weit darf ich helfen, wann sollte ich mich aus der Hilfeleistung zurückziehen?

Einfach ist es, wenn die Hilfeleistung unmittelbar und zwingend aus der Situation entspringt. Als Bild: Wenn jemand aus einem Boot über Bord fällt, dann werfe ich einen Rettungsring und eine Leine aus und manövriere das Boot so, dass der Person wieder an Bord geholfen werden kann. Dies verläuft im günstigsten Fall routiniert und automatisch, dafür werden diese Fälle auch geübt.
In solchen Situationen unmittelbarer, fast reflexhafter Hilfe ist die Hilfe unproblematisch. Vielleicht gerade deshalb, weil sie punktuell ist, eng beschränkt auf die konkrete und aktuelle Notsituation. Eigentlich ist es dann auch so: Nicht ich helfe, sondern die Hilfe fließt durch mich, weil ich nun mal zu dieser Zeit an diesem Ort bin.

Etwas schwieriger ist das Helfen, wenn es über einen längeren Zeitraum andauert. Hier ist es wichtig, damit der wirklich hilfreiche Rahmen gewahrt wird, dass es sich wirklich um eine Begegnung zwischen Erwachsenen handelt. Das bedeutet: Ich stelle mich als Helfender nicht über dich, auch nicht über deine Herkunft oder über dein Schicksal, welches dich hilfsbedürftig macht. Ich helfe auch nicht, um dein Schicksal und die damit für dich verbundenen Erfahrungen grundsätzlich zu wenden. Das wäre anmaßend.

Die Hilfe im Rahmen und in den Grenzen der „Ordnungen des Helfens[2]“ ist dagegen demütig. Ich gebe, nur so weit wie ich es habe und vermag und so weit, wie es vom Anderen genommen werden kann, ohne dass die persönliche Würde des Nehmenden leidet. Nicht mehr. Das kann auch bedeuten: Ich mute dem Hilfsbedürftigen etwas zu, in dem ich auf Hilfe, die über diese Grenzen hinausgeht, verzichte.
Ich helfe nur so weit es auch die äußeren Umstände erlauben und bleibe den durch diese Umstände gesetzten Grenzen gegenüber demütig, ich erkenne die Grenzen an, ich füge mich ihnen.
Ich helfe nur so weit, wie unbedingt nötig und erforderlich, dann ziehe ich mich zurück. Auch von den weitergehenden Erwartungen des Hilfeempfängers.
Ich enthalte mich der Entrüstung und Empörung denjenigen Personen und Umständen gegenüber, welche den Hilfsbedürftigen faktisch oder scheinbar in seine Lage gebracht haben. Wenn ich helfen will, müssen auch diese scheinbar feindlichen Personen oder Umstände einen Platz in meiner Seele, einen Platz in meinem Herzen haben. Diese Hilfe ist ohne Urteil, ist jenseits von Gut und Böse. Diese Hilfe ist auch ohne Bedauern, ohne den Wünsch, es möge anders sein, als es gerade ist, das heißt, ohne Mitleid dem Hilfesuchenden gegenüber[3].

Ein solches Helfen dient dem (Über)Leben, dem Wachstum und der Entwicklung. Ein solches Helfen ist einerseits zielgerichtet, aber auch gleichzeitig zurückgenommen.

Ein Helfen in diesem Sinne bedarf einer besonderen Wahrnehmung. In der Wahrnehmung setze ich mich der Situation so weit und so vollständig wie möglich aus und erkenne, was hier zu tun ist (und was nicht getan werden darf). Das kann nicht alleine durch Überlegung und auch nicht alleine aus vergangenen Erfahrungen hergeleitet werden. Die Wahrnehmung gelingt nur, wenn ich mich ganz auf die Person und Situation ausrichte, ohne – und hier wird es etwas paradox – etwas Bestimmtes zu wollen. Ich versuche, in umfassender Weise zu erfassen, was hier der unmittelbare und nächste Schritt ist, der ansteht.

Diese Hilfe ist von kurzer, vorübergehender Dauer, bleibt beim Wesentlichen und dem unmittelbar aufscheinendem nächsten Schritt – und zieht sich dann zurück. Sie stimmt allem zu, was die Hilfe überhaupt erst notwendig gemacht hat. Als Helfender bleibe ich dabei Im Einklang mit mir, ich liefere mich nicht aus, es bleibt ein Abstand. Ich bleibe frei vom Hilfsbedürftigen und der Hilfsbedürftige bleibt frei von mir.

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[1] Wolfgang Schmidbauer: Hilflose Helfer. Über die Problematik der helfenden Berufe. Rowohlt Verlag. 1992.
Der Autor prägt hier den Begriff des „Helfersyndroms“ für die negativen Auswirkungen übermäßiger Hilfe, die mitunter in sozialen Berufen anzutreffen ist.

[2] Auch dies ein Buchtitel. Bert Hellinger: Ordnungen des Helfens. Ein Schulungsbuch. Carl Auer Verlag. 2006.

[3] Das klingt zunächst hart. Gemeint ist aber der Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl. Dies wäre ein eigenes Thema. Hier nur so viel: Wenn wir uns einschwingen auf diese beiden Worte, „Mitleid“ auf der einen Seite und „Mitgefühl“ auf der anderen Seite, dann können wir den Unterschied spüren.