Die soziale Distanz

Ein Virus beschert uns die soziale Distanzierung. Das ist nicht schön. Denn trotz allem – trotz zunehmender Individualisierung in der Moderne und noch stärker in der Postmoderne – ist der Mensch eben auch ein soziales Wesen. Die Verordnungen und Empfehlungen heißen uns Abstand voneinander zu halten. Die Maske signalisiert – und sei es nur unbewusst: Vorsicht! Dein Mitmensch ist gefährlich! Komm ihm lieber nicht zu nahe.

Aber noch eine andere Art von sozialer Distanzierung erleben wir derzeit. Und diese Distanzierung, ja mitunter Feindschaft, geht als Riss manchmal mitten durch Familien, Freundschaften, Partnerschaften. Es geht um die Bewertung dieser sog. Pandemie und ihrer politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Folgen. (Für manche geht es auch um die Bewertung der dahinter vermuteten Absichten).

Für die einen ist es eine Art Naturkatastrophe, die nur durch gemeinschaftliche und solidarische Anstrengungen in ihren Folgen beherrscht werden kann. Hier ist die Zustimmung zu und die Befolgung der Maßnahmen und Einschränkungen ein Gebot der Solidarität. Es ist ein Opfer, das an die Gemeinschaft gebracht werden muss, wenn diese, die Gemeinschaft, nicht schwer geschädigt werden soll. Wer nicht mittut, ist ein Gefährder, gefährdet Alle aus egoistischer Eigenbrötlerei.
Für Andere erscheint eine totalitäre Diktatur zu entstehen, welche Grundrechte sowie Freiheit und Selbstverantwortung gewollt opfert. Die „Loyalisten“, diejenigen, welche loyal die Einschränkungen tragen so gut sie können, sind die dummen Schafe, welche unwissend zur Schlachtbank geführt werden. Es droht der große Umbau, „the great reset“ nicht nur einzelner Gesellschaften sondern für die gesamte Weltbevölkerung. Die Richtung geht in eine neue überstaatliche Weltordnung („the new world order“) mit dystopischen Zügen.

Wie gesagt: Dieser Riss geht durch soziale Beziehungen und führt noch einmal zu einer anderen Art von sozialer Distanz, die sich mitunter als soziale Feindschaft anfühlt. Die beiden Lager verhalten sich wie feindliche Stämme, Mitglieder des jeweils anderen Stammes werden sozial ausgegrenzt, sozial geächtet und sozial bekämpft. Dies geschieht in einer Situation, wo gerade wegen der verringerten Sozialkontakte die Pflege der bestehenden sozialen Kontakte umso wichtiger wäre – für die seelische wie auch körperliche Gesundheit.

Das Virus der Angst

Wenn wir den Feindseligkeiten im persönlichen Umfeld entgegenwirken wollen, sollten wir zunächst einmal anerkennen, dass auf beiden Seiten der Debatte eine profunde Angst besteht.

Auf der einen Seite die Angst vor einem unsichtbaren, aber heimtückischen Gegner, dem „Killervirus“. Überall und jederzeit kann er zuschlagen, es gibt keine wirklich sicheren Mittel der Gegenwehr für eine Gefahr, die im unsichtbaren bleibt. Das hat Anklänge an Horrorfilme und hinterlässt ein Gefühl ständiger latenter Bedrohung und gleichzeitiger Hilflosigkeit.

Auf der anderen Seite die Angst vor eine totalitären Diktatur, dem Absterben von Demokratie sowie Freiheits- und Menschenrechten. Dies vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung, dass Diktaturen, wenn überhaupt, nur in der Entstehungsphase verhindert werden können. „Wehret den Anfängen“ war ja nicht umsonst ein Motto unmittelbar nach dem Ende des Nationalsozialismus. Auch Anklänge an Erfahrungen in der DDR mögen bei manchem eine Rolle spielen. Das Zusammenspiel von Regierungen und Medien, bei dem Letztere die Ersteren eben nicht mehr eben nicht mehr kritisch sondern ausschließlich als befürwortendes Sprachrohr begleiten, währen kritische Stimmen gerade auch von Fachleuten ins Abseits des öffentlichen Diskurses gedrängt werden, tut ein Übriges, diese Ängste zu befeuern.

Beide Ängste sind tiefsitzend und zutiefst archaisch. Sie setzen an den ältesten Teilen unseres Nervensystems an, dem es nur und ausschließlich ums Überleben geht.

Mir scheint: Der erste und wichtigste Schritt im zwischenmenschlichen Bereich ist, anzuerkennen dass mein Gegenüber Angst hat und ich selber auch Angst habe. Angst macht eng, sprachlich haben Angst und Enge dieselbe Wortwurzel. Wir bekommen einen Scheuklappenblick, werden eng und rigide im Denken und im Sprechen.

Hier wäre eine Brücke zu schlagen. Der Feindschaft entgegen zu wirken, bedeutet ja: Wir müssen etwas finden, was wir gemein haben, was wir teilen. Das Geteilte wäre eben die Angst, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Ein Vorschlag

Es wäre vielleicht eine erste Übung, immer dann, wenn wir in einer argumentativen Auseinandersetzung mit jemandem aus unserem Nahfeld befinden und wenn wir merken, dass der Austausch „hitziger“ wird: Bevor ich antworte, bevor ich meine Sicht der Dinge und meine Argumente darlege, stelle ich mir die Frage: Kann ich nachfühlen, aus welcher Angst heraus mein Gegenüber motiviert ist, zu glauben, was er oder sie glaubt?
Das bedeutet, nicht nur mit dem Verstand ein Argument zu erfassen, sondern emotional erst einmal auf mich wirken zu lassen, welche Angst ist möglicherweise zwischen den Zeilen herauszuhören? Und dann in einem zweiten Schritt in mich selber hinein zu spüren: Welche Angst lässt dies in mir aufscheinen? Und dann erst zu antworten.

Dieser Vorschlag ist gedacht für den Kontext der direkten persönlichen Beziehungen, für das persönliche Nahfeld. Öffentliche politische Debatten sind ein anderes Feld mit anderen Regeln.
Der Vorschlag bedeutet auch nicht, eine Meinung nicht zu vertreten oder Argumente und Fakten, die man für überzeugend hält, nicht zu äußern. Es geht darum, die Qualität von Stammesdenken und Lagerfeindschaften aus den persönlichen Beziehungen heraus zu nehmen oder zumindest zu mildern.

Wenn wir uns in Auseinandersetzung und Debatten auf diesem Boden bewegen, der Anerkenntnis, dass du Angst hast und ich auch Angst habe, dann können solche Debatten sogar uns menschlich näher bringen, statt uns zu spalten.

In der praktischen Anwendung ist dies natürlich eine Kunst, die wie jede Kunst, geübt sein will.