Von den langen Folgen des Krieges

Kürzlich hörte ich von einem Heilpraktiker, der im Bereich der Energie- und Informationsmedizin arbeitet, eine Fallgeschichte. Es ging um einen jungen Mann, dessen Gesicht durch eine extreme Form von Akne regelrecht entstellt war. Alle medizinischen Bemühungen waren erfolglos und er war verzweifelt und trug sich mit Suizidgedanken.

Der Heilpraktiker fragte nach seiner Familiengeschichte und es fiel ihm auf, dass bei der Erwähnung des einen Großvaters die Stimme des jungen Mannes verändert war. Er frage nach und erhielt zur Antwort, über diesen Großvater wüsste er wenig, er habe ihn nicht kennen gelernt, der Großvater sei im zweiten Weltkrieg als Soldat gefallen. Der Heilpraktiker trug ihm auf, sich in der Familie nach diesem Großvater und seinem Schicksal zu erkundigen. Es stellte sich heraus, dass dieser Großvater getötet wurde, als ihm ein Schrapnellgeschoss buchstäblich das Gesicht zerfetzte.

Hier war nun eine offensichtliche Verbindung zur Akne des jungen Mannes, welche sein Gesicht verunstaltete. Im Rahmen der Behandlung kam der junge Mann mit dem Großvater in Verbindung, er träumte von ihm und seinem Tod, trauerte und weinte um ihn. Innerhalb von zwei Monaten heilte die Akneerkrankung aus.

Dies ist ein besonders dramatisches und illustratives Beispiel dafür wie Krieg und andere schicksalshafte Ereignisse sich in folgenden Generationen auswirken können. Es muss nicht immer (und tut es meist auch nicht) diese Dramatik und diese lebhaft-bildliche Erscheinungsform annehmen. Häufiger wirk es sich eher in einem grundlegenden Lebensgefühl der Nachgeborenen aus. Aber dieses Phänomen, dass die Schicksale der Vorfahren in den Nachgeborenen weiterleben, sieht man im Familienstellen recht häufig. Ebenso ist es nicht untypisch, dass in der Auswirkung eine oder zwei Generationen übersprungen werden.

Bert Hellinger hat dies immer so interpretiert, dass die Nachgeborenen von einem größeren seelischem Prozess erfasst werden, den wir bestenfalls ansatzweise verstehen, mit dem Ziel, an die schweren Schicksale in der Herkunftsfamilie zu erinnern, wenn sie vergessen oder nicht gewürdigt sind. Er sprach in diesen Zusammenhängen oft in der Formulierung, hier nähme die „große Seele“ jemanden „in Dienst“ um etwas sonst Verborgenes sichtbar zu machen.

Man möchte meinen, dies sei aber nicht gerecht. Womit hat etwa der junge Mann mit der extremen Akne es „verdient“, hier zum Erinnerungsträger zu werden? Er trägt ja keine persönliche Verantwortung am damaligen Geschehen.
Solche Fragen führen meines Erachtens nach in die Irre. Warum hier bestimmte Familienmitglieder ausgewählt werden, warum es in der Enkelgeneration auftritt und nicht etwa in der Kindergeneration, all dies sind müßige Fragen, die versuchen, eines großen Mysteriums in erklärender Weise habhaft zu werden. Dieser Versuch scheitert, es bleibt ein Mysterium. Und vor der Größe des Mysteriums können wir uns nur verneigen. Und wir können, im kleinen und beschränkten menschlichem Rahmen, uns um Heilung bemühen. Die Heilung bedeutet eigentlich immer die Anerkennung des Schicksals, so wie es war. Und die Trauer um die davon Betroffenen. Wenn wir uns davon anrühren lassen, kann etwas heilen.

Die Aktualität des Krieges

Ich schreibe diesen Beitrag zu einer Zeit, in welcher der Krieg in seiner Realität wieder näher in unser alltägliches Bewusstsein rückt. Nicht, dass der Krieg vorher tatsächlich abwesend gewesen wäre. Er klopft lediglich vernehmlich an die Türen unseres Bewusstseins durch die aktuellen Geschehnisse in der Ukraine.

Derzeit wissen wir nicht, welches Eskalationspotential hier besteht. Aber wir sind mit der Realität des Krieges konfrontiert, es ist nicht mehr irgendwo weit weg, etwas was in den Nachrichten wenn überhaupt, dann nur am Rande aufscheint.

Sicher ist eines: Dieser Krieg wird viel Leid verursachen. Er wird Tote, Verletzte, Verstümmelte zur Folge haben. Er wird Lücken in Familien reißen und Lebensgrundlagen zerstören. Das ist die unmittelbare Folge des Krieges. Und er wird auch noch in die nächsten Generationen hinein wirken, auch dies ist bereits jetzt sicher.

Goethe lässt im Faust im Rahmen der Osterspaziergangsszene, die ja insgesamt von der Lust am Leben geprägt ist („zufrieden jauchzet Groß und Klein / hier bin ich Mensch, hier darf ich sein“) einen Bürger sagen:

„Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus.“

Diese naiv-unbefangene Haltung dem Krieg gegenüber, den es ganz weit weg irgendwie und irgendwo noch gibt, mit dem wir aber nichts zu tun haben, ist aktuell kaum mehr möglich. Sie, diese Ansicht, war immer eine Illusion.

Der Krieg und der Frieden in uns

Ich möchte einen etwas verwegenen Gedanken anfügen. Leo Tolstoi wird das Zitat zugeschrieben: „Solange es Schlachthöfe gibt, wird es Schlachtfelder geben.“ Er meint damit: Die Art, wie wir mit anderen empfindungsfähigen Geschöpfen umgehen, prägt die Art, wie wir untereinander umgehen.

In einem ähnlichem Sinne scheint mir: Solange wie wir Kriege in unserem Inneren führen, wird es auch im Äußeren Kriege geben. Und den Krieg im Inneren führen wir, in unterschiedlicher Intensität und Abstufung, immer dann, wenn wir irgendetwas an uns nicht haben wollen, nicht wahr haben wollen, weg bekommen möchten. Viele Bemühungen um „Selbstverbesserung“ nehmen mitunter diese Form an, dass Krieg gegen einen Teil in mir geführt wird, mit geringem langfristigem Erfolg.

Ich weiß nicht, ob es wirklich so stimmt. Aber doch scheint es mir: Wenn wir es schaffen würden, uns mit uns selber zu versöhnen, mit allen Anteilen in uns, auch mit dem Schatten und dem Feind in uns, dann wäre die Chance auf Frieden in den äußeren Verhältnissen größer. Dies aber ist ein lebenslanges Unterfangen. Wir könnten die Kriege im Außen als Erinnerung daran nehmen.