Manche Menschen sind mit einem schweren Schicksal geschlagen, wie man so sagt. Dies kann eine schwere Erkrankung oder Behinderung sein. Oder das Erleben von Anfeindung und Verfolgung als teil einer ethnischen Minderheit. Oder jemand wird – ohne eigenes Zutun oder Verschulden – Opfer einer Gewalttat. Oder jemand wird von einem Naturereignis wie einem Vulkanausbruch oder einer Flut erfasst und verliert sein Heim, sein Gut und seine wirtschaftliche Existenz. Oder jemandem widerfährt ein schweres Unrecht, dass ungesühnt und ohne Ausgleich bleibt. Ich könnte die Liste möglicher schwerer Lebensumstände hier noch länger fortsetzen.
Was passiert mit einem solchen Menschen? Natürlich sind die Reaktionen darauf sehr individuell, je nach Persönlichkeit, Naturell und Temperament. Aber in vielen Fällen wirken sich diese schicksalhaften Begebenheiten beschwerend und einschränkend auf die betroffenen Personen aus, Menschen leiden und sind am vollen Lebensvollzug gehindert. Es gibt jedoch auch das Gegenteil, dass schwierige Lebensumstände oder traumatische Erlebnisse einen Menschen zu einer besonders starken Persönlichkeit formen, zu einem Menschen, der in einer besonderen Weise in sich und im Sein ruht und verankert ist. Oft strahlen solche Menschen eine besondere Güte, Weisheit und Zugewandtheit aus.
Das Gefühl der Stimmigkeit
Der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky beschäftigte sich mit der Gesundheit (in einem weiten Sinn, also nicht nur körperlich sondern auch seelisch, psychisch und geistig) unter anderem von Überlebenden der Konzentrationslager des Nationalsozialismus. Es zeigte sich, wie zu erwarten war, dass ein Teil dieser Menschen traumatisch belastet war während dagegen ein anderer Teil nicht nur einfach „gesund“, sondern gerade besonders ausgeprägt gut im Leben verwurzelt waren, das Leben besonders freudvoll und sinnvoll erlebten. Antonovsky interessierte sich dann besonders für diese zweite Gruppe. Was macht hier den Unterschied? Und die Antwort, die er fand: Diese Menschen hatten – nicht nur trotz, sondern gerade wegen ihrer schweren Schicksale – etwas, was er „sense of coherence“ nannte. Es handelt sich hier um ein Gefühl, oder wörtlich um einen Sinn dafür, dass in diesen Beschwernissen des eigenen Lebens ein tieferer Sinn verborgen liegt, den man vielleicht nicht immer benennen kann, der aber empfunden werden kann.
Ähnlich entwickelte der Psychiater Viktor Frankl, selber Überlebender mehrerer Konzentrationslager, während der größte Teil seiner Familie in Konzentrationslagern ermordet wurde, aus dieser Erfahrung heraus die sog. Logotherapie[1]. Auch hier geht es zentral darum, dass der Mensch durch die Erfahrung von Leid, Schuld und Schicksal hindurch einen tieferen Sinn, ja vielleicht auch so etwas wie einen persönlichen inneren Auftrag entdecken kann.
Und tatsächlich kann man oft beobachten, dass Menschen mit einem schweren Schicksal, wenn sie es gut verarbeitet haben, ein größeres seelisches Gewicht haben. Und wenn man sie vergleicht mit Menschen, die ein leichtes und von schicksalhaften Ereignissen unbeschwertes Leben hatten, dann wirken Letztere wie seelische „Leichtgewichte“, auf der seelischen Ebene ist da weniger Substanz.
Es erscheint paradox, aber es scheint so, dass unser Gefühl für Stimmigkeit und Sinnhaftigkeit des Lebens gerade dann besonders gestärkt kann, wenn die Sinnhaftigkeit durch Schicksal einmal verloren gegangen und maximal erschüttert wurde, dann aber wieder gefunden werden konnte. Ein persönlicher Sinn im Leben kann gerade durch den vorübergehenden Verlust danach besonders deutlich vernehmbar in uns wirken.
Das Anlehnen an schicksalshafte Ereignisse
Das erste ;al stieß ich im Rahmen einer Aufstellung auf diesen Prozess bei einem Mann mit einer schweren und sehr einschränkenden chronischen Erkrankung. Ich habe dann die Krankheit aufgestellt, zunächst in dem vagen Impuls, diesem Mann die Krankheit gegenüber zu stellen und vielleicht auch die Krankheit eine bestimmten Satz sagen zu lassen. Aber schon beim Hereinführen der Stellvertreterperson in das Feld wurde deutlich, der Platz gegenüber ist nicht passend, die Krankheit musste hinter die Person gestellt werden. Und dann entwickelte sich die Aufstellung – ohne Worte – so, dass die Krankheit noch näher an diesen Mann heranging, bis sie unmittelbar hinter ihm stand. Als der Mann die Krankheit hinter sich fühlte, lehnte er sich ein wenig zurück. Er lehnte sich leicht an die Krankheit an. Dann tat er ein paar tiefe Atemzüge, seufzte – und plötzlich wurden sein Antlitz, seine Gesichtszüge, friedlich. Er war im Frieden, angelehnt an seine Krankheit.
Ähnliche Bewegungen habe ich dann später auch in anderen Aufstellungen beobachten können, etwa bei sexuellem Missbrauch, wenn der Missbrauch (nicht etwas der Täter!) aufgestellt wurde.
Wir verstehen es nicht wirklich, aber es scheint so zu sein, dass ein schweres Schicksal eine besondere Kraft vermitteln kann, wenn ich mich diesem Schicksal anvertraue, mit an es anlehne. Dann kann es eine segensreiche Wirkung haben, allerdings unter Verzicht auf jegliches sich Beklagen über dieses Schicksal.
Bert Hellinger hat einmal mit einer querschnittsgelähmten Frau im Rollstuhl gearbeitet, die sehr verbittert über ihre Querschnittlähmung war. Er hat sie dann aufgefordert, einmal die Augen zu schließen und ihr gesamtes Leben mit der Querschnittlähmung noch einmal innerlich zu betrachten. Nach einer Weile, nachdem sie damit durch war, schlug er ihr vor, noch einmal die Augen zu schließen und sich ihr Leben ohne die Querschnittlähmung vorzustellen, es vor dem geistigen Auge ablaufen zu lassen. Dann stellte er die Frage: „Welches der beiden Leben ist kostbarer?“
Die Frau reagierte zunächst mit Widerwillen auf diese Frage, dann ließ sie sich aber darauf ein. In ihrem Gesicht war eine zeitlang ein innerer Kampf zu beobachten. Dann sagte sie: „Dieses Leben ist kostbarer“ und die Augen strahlten dabei.
[1] Abgeleitet von „Logos“, einem Wort aus dem Altgriechischen, dass in etwa „göttliche Vernunft“ oder „umfassender Sinn“ bezeichnet.