Sind wir alle verstrickt?

Eines der großen und immer wiederkehrenden Themen bei Familienaufstellungen ist etwas, was wir als „Verstrickung“ bezeichnen. Gemeint ist damit, dass ein Mensch – meist höchst unbewusst – etwas übernimmt und trägt, was eigentlich zu jemand anderem im Herkunftssystem gehört. Dieser Mensch hat dann Gefühle und zeigt Verhaltensweisen, die sich aus dem eigenen Leben und der eigenen Biografie nicht recht erklären lassen. Wenn diese Übernahme, die Identifizierung mit jemand anderem in meiner Ahnenreihe, sich auf ein schweres Schicksal bezieht, dann wird eben genau dieses Schwere nachgeahmt und führt zu erheblichen Einschränkungen im Lebensvollzug.

Beispiele wären etwa ein Mann, der trotz vorhandener Fähigkeiten und Talente und trotz guter Ausbildung beruflich erfolglos bleibt und in einer Familienaufstellung tritt zu Tage, dass er innerlich seinem Vater treu ist, der auch nicht beruflich erfolgreich war. Oder eine Frau, welche für sie unerklärlich ohne Partnerschaft und kinderlos bleibt und in einer Aufstellung stellt sich heraus, sie ist identifiziert mit einer Tante, welche ihre große Liebe aufgrund der Intervention der Eltern nicht heiraten konnte und dann als Nonne in ein Kloster ging. Und es ist dann so, also ob die Frau zu innerlich zu ihrer Tante sagt: „Ich mache es wie du. Ich bleibe auch ohne Mann und ohne Kinder.“ Oder ein Mensch, der ohne es zu wollen ständig umzieht und es nie schafft, irgendwo heimisch zu werden. In einer Aufstellung zeigt sich dann vielleicht eine Verbindung zu einem Zweig der Herkunftsfamilie, welcher nach dem zweiten Weltkrieg als Flüchtlinge oder Vertriebene durch verschiedene Städte irrten und nirgendwo gut gelitten waren, nirgendwo wirklich lange bleiben konnten.

In all diesen Fällen liegt ein schweres Schicksal aus der Vergangenheit wie ein Schatten auf dem Leben eines Nachgeborenen. Ich wurde kürzlich gefragt, ob es sein könne, dass letztlich jeder Mensch irgendwo und auf die eine oder andere Weise verstrickt sei.  
Mir scheint, dass es so ist, allerdings nicht immer in der bislang beschriebenen dramatischen Form einer Verstrickung. Wenn wir vielleicht etwas allgemeiner von „Bindung“ an etwas aus der Herkunftsfamilie denken, dann kann man schon sagen, dass es kaum einen Menschen geben dürfte, der nicht an irgendeiner Stelle sich an Sitten, Gebräuche, Rituale, einen Glauben, Überzeugungen, Wertvorstellungen oder einfach Gewohnheiten, welche in seiner Herkunftsfamilie Gültigkeit hatten, gebunden ist und sich ihnen verpflichtet fühlt.

Das Eingehen von Bindungen – und das Lösen von Bindungen

Aus der Entwicklungspsychologie wissen wir, dass ein Kind für eine gute Entwicklung einer sicheren Bindung an enge Bezugspersonen bedarf. Das Kind sucht auch diese Bindung. Wenn diese sichere Bindung nicht gelingt, wird es schwer für ein Kind und auch für die spätere erwachsene Person, wirklich gut im Leben anzukommen und in seiner Kraft zu sein.

Die kindliche Bindung ist zunächst eine Bindung an Personen, aber in diese Bindung an eine Person ist immer hineingewebt eine Bindung bestimmte Gebräuche und Gewohnheiten, an Ansichten und Vorstellungen. Wie gesagt: Für das Kind, insbesondere für das kleine Kind ist eine solche Bindung ein Grundbedürfnis. Die Bindung dient hier dem Leben, sie dient der guten Entfaltung der im Kind angelegten Potentiale.

Aber auch das Gegenteil ist wichtig für das Leben. Manchmal müssen solche Bindungen auch gelöst oder zumindest gelockert werden, damit Wachstum und weitere Entwicklung möglich ist. Hier dient dann das sich Lösen aus einer Bindung, besonders aus einer Bindung an bestimmte Vorstellungen, wie etwas zu sein hat, dem Leben und der Entwicklung.

Das Beispiel der familiären Weihnachtsrituale

Dieser Beitrag wird am 1. Advent 2022 geschrieben, mit ihm beginnt die eigentliche Weihnachtszeit. Und die Weihnachtsbräuche in Familien sind vielleicht ein ganz gutes Beispiel, das illustrieren mag, wie die „Mechanik“ von Bindung und Lösung oft in einem guten Sinn arbeitet.

Wenn ein Paar sich findet, wenn sie Eltern werden und Kinder haben, dann spielt in aller Regel das gemeinsame Weihnachtsfest eine nicht unbedeutende Rolle. Jetzt kommen hier aber zwei Menschen zusammen mit Bräuchen und Gewohnheiten aus ihrer Herkunftsfamilie, denen sie auch zu einem gewissen Maß verpflichtet sind. In der einen Familie war es vielleicht Tradition, dass am heiligen Abend Würstchen mit Kartoffelsalat gegessen wird, in der anderen Familie muss es der traditionelle Gänsebraten sein. In der einen Familie wird der Tannenbaum mit Lametta geschmückt, in der anderen ist dies strikt verpönt. In der einen Familie sind „richtige“ Kerzen – möglichst aus reinem Bienenwachs – am Baum ein Muss, in der anderen Familie wird dies strikt vermieden und mit der Brandgefahr begründet.

Hier ließe sich noch etliches mehr aufzählen. Der Punkt ist: Wenn diese beiden Mensch als Paar eine eigene Familientradition zu Weihnachten entwickeln wollen, wird jede Seite hier etwas „opfern“ müssen. Vielleicht wird man manches von der einen Seite übernehmen, anderes von der anderen Seite und in gewissen Dingen ganz andere Wege beschreiten. In jedem Fall wird aber die Bindung an das, was in der eigenen Herkunftsfamilie als richtig angesehen wurde, gelockert. Diese – zumindest teilweise – Lösung von der Bindung an die Bräuche und Gewohnheiten der Herkunftsfamilie erweist sich lebensdienlich, in so fern nur so die neue Familie ihre eigenen Gewohnheiten entwickeln kann.                   
Und die Lösung von den Bräuchen, von dem was als richtig galt in der Herkunftsfamilie, muss keine Abwertung der alten Gebräuche bedeuten. Es ist aber eine Abwendung. Eine Abwendung im Dienste des Neuen.

Dieses Beispiel zur Illustration der Polarität von Bindung und Lösung mag trivial erscheinen. Aber der Weg ist auch in den schwierigeren Fällen, wie dem eingangs erwähnten Mann, der aus Treue zu seinem Vater erfolglos bleibt, derselbe.       
Wir lösen Bindungen, die nicht mehr dem Leben und der Entwicklung dienen, aber wir tun es mit Achtung, nicht mit Ablehnung.