Weihnachten und die Geburt des Christus in dir

Dieser Beitrag ist am 24. Dezember geschrieben, der Tag heißt Heiligabend. Dem Worte nach hat dieser Tag also einen heiligen Abend. Was macht den Abend an diesem Tag heilig? Dass dieser Abend und die ihm folgende Nacht überleitet auf die eigentlichen Weihnachtsfeiertage. Was feiern wir da? In der christlichen Tradition wird hier die Geburt des Jesus gefeiert, der später der Christus werden sollte, der Messias, der Heilsbringer und Erlöser.

Nun gibt es wohl einen Ausspruch von Angelus Silesius[1], einem Arzt, Lyriker und Mystiker der frühen Neuzeit, welcher sinngemäß lautet: Was würde es nützen, wenn der Christus tausendmal in Bethlehem geboren würde, wenn er nicht in dir geboren wird? Der Satz erinnert an ein Bibelwort von diesem Jesus Christus: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme an seiner Seele Schaden?“

Das Christusbewusstsein

Was aber könnte es bedeuten, dass Christus in dir oder in mir geboren würde? Geht es hier um das „Christusbewusstsein“, von dem manchmal die Rede ist? Und was würde dies bedeuten, wenn es in mir geboren wird und erwacht?

Mir scheint, der gemeinsame Nenner in den unterschiedlichen Formen, in denen vom Christusbewusstsein gesprochen wird, vielleicht dies zu sein: Es ist ein Bewusstsein, dass sich mit dem Göttlichen in Verbindung sieht. Was immer dieses Göttliche sein mag, es heißt ja, wir sollen uns kein Bild davon machen, weil alle Bilder diesbezüglich immer falsch sind. Aber wir sehen uns damit in Verbindung, mit der ursprünglichen Quelle aus der Alles kommt. Und so sehen wir nicht nur uns in dieser Verbindung, sondern Jeden und Alles hat diese Verbindung. In Allem ist der göttliche Funke. Und Jeder und Alles ist nur ein unterschiedlicher Ausdruck dieses All-Einen. Das Christusbewusstsein bewegt sich also weg von der Trennung, dem Bewusstsein der Trennung.

Noch etwas anderes ist dann damit verbunden: Die christliche Nächstenliebe. Die Überlieferung, aus der wir unsere Vorstellung über diesen Christus im Leib des Jesu ziehen, lässt diesen Christus an mehreren Stellen sagen: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“          
Das wirft natürlich zunächst einmal die Frage auf, ob wir uns überhaupt selber lieben. Das wäre ja die Voraussetzung, auf der die Aufforderung beruht. Der Satz unterstellt ja, ich würde mich wirklich, und möglichst bedingungslos und ohne Einschränkung lieben. Und dieses Lieben soll ich dann auf meine Mitmenschen erweitern. Aber was, wenn es an dieser Voraussetzung der Selbstliebe fehlt.

Aber noch etwas Anderes ist anzumerken zu diesem Satz. Es gibt mitunter die Ansicht – und ich halte sie für sehr plausibel – der Satz sei einfach etwas falsch übersetzt. Er müsste eigentlich lauten: „Liebe deinen Nächste als dich selbst“. Liebe ihn als Verkörperung desselben Stoffes, aus dem auch du gemacht bist. Du und dein nächster Mitmensch sind gar nicht getrennt, du liebst deinen Mitmenschen, weil du in ihm dich selber erkennst. Hier schließt sich dann die Verklammerung von Nächstenliebe und dem All-Eins-Sein – Bewusstsein. Die Nächstenliebe ist dann keine Anstrengung, sondern ein natürlicher Ausfluss eines Bewusstseins jenseits der Wahrnehmung von Trennung.

Eine letzte Anmerkung sei an dieser Stelle zu dem Bewusstsein des All-Eins-Seins noch gemacht. In der deutschen Sprache hat All-Eins-Sein eine bemerkenswerte Nähe zu Alleinsein. Hier bemerken wir eine profunde Paradoxie. Gerade das Alleinsein wird ja meist – oft schmerzlich – als Trennungsgefühl empfunden. Und doch steckt eine Weisheit in dieser Verbindung. Es gibt nämlich auch die Seite, dass die (vorübergehende) Rückbesinnung auf mich selbst, eine gewisse Beschränkung durch Rückzug, merkwürdigerweise genau zu diesem Erleben einer Ausdehnung des Ichs auf Alles führen kann. So kann dieses All-Eins-Sein gerade in Situationen des alleine seins manchmal erlebt werden, etwas in bestimmten Meditationstechniken

Das Bild vom Christus

Nun hatten wir ja schon gesagt, wir sollen uns eigentlich kein Bild machen vom Göttlichen und damit auch nicht von diesem Christus, in welchem sich ja im christlichen Verständnis das Göttliche verkörpert. Aber geht das überhaupt? Können wir es vermeiden, uns ein (inneres) Bild zu machen? Mir scheint: Eher nein. Aber was wir vielleicht machen können, ist: Wir nehmen unsere inneren Bilder an, aber in dem klaren Bewusstsein, dass sie eben nur genau dies sind: Es sind Bilder. Oder vielleicht noch besser: Abbilder. Und ein Abbild von Etwas ist nicht das Abbild selber. (Das merkt man, wenn man versucht, dass Abbild einer appetitlich angerichteten Pizza mit Messer und Gabel zu traktieren, um es zu essen.)

Und welche inneren Bilder haben wir von diesem Christus, wenn er denn in uns geboren würde?

Es gibt ein Christusbild, da haben wir den Mensch geworden Gott, einen Gott der sozusagen herabgestiegen ist aus einer übermenschlichen Sphäre in die Niederungen der menschlichen Gestalt, aber eben noch ausgestattet mit Fähigkeiten, die eben aus dieser nicht menschlichen oder übermenschlichen Sphäre stammen. Diese Fähigkeiten nutzt er für Wunder und Heilungen, die normalen Menschen nicht möglich sind.      
In dieser Sichtweise wir der Jesus Christus sozusagen auf ein Podest gestellt. Man kann ehrfürchtig zu ihm aufschauen, aber er bleibt unerreichbar, ein unerreichbares Ideal.

Ein anderes Bild machte ihn zu einem mythischen Operettenhelden, der Titelfigur eines Musicals oder einer Rockoper mit dem Titel „Jesus Christ Superstar“ und mit einer eingängigen Melodie im Titelsong mit Gassenhauerpotential, in dem die Frage gestellt wird: „Jesus Christ, Superstar: Do you think you’re what they say you are?“ Hier haben wir eine Pop-Star, eine Figur der Unterhaltungsindustrie. Aber auch hier, wie bei jedem Pop-Star, funktioniert die Verehrung nur durch die Distanz, die Unerreichbarkeit.

Noch eine andere Vorstellung sieht diese mythenumrankte Figur als Prototyp dafür, wie wahres Mensch-Sein eigentlich gemeint war. In dieser Sicht ist die Christusfigur ein Ausdruck für die Potentiale, die in jedem Menschen stecken. Christus ist hier mehr Vorbild als Ideal. Die Figur und die überlieferten Geschichten sind hier eine Erinnerung an die wahre und ursprüngliche Natur des Menschen jenseits von kulturellen Konditionierungen und zivilisatorischen Überformungen.

Diese Sichtweise hat eine Bibelstelle auf ihrer Seite, in der Jesus Christus nach einer Wunderheilung zu seinen Jüngern und zur umstehenden Menge sagt, solche und noch größere Taten würde jeder einzelne zukünftig in der Lage sein, zu vollbringen. Hier, in dieser Sichtweise, erleben wir weniger Trennung zwischen dem Christus und uns.

Liebe Leserin, lieber Leser, ich möchte abschließend eine Frage an dich richten. Angenommen, es würde der Christus in dir geboren werden, ein Christusbewusstsein in dir erwachen, egal ob zur Weihnachtszeit oder zu irgendeinem anderen Zeitpunkt: Was würde es für dich bedeuten? Verbunden vielleicht mit der Frage: Woran würdest du es merken?

Und wo von würdest du erlöst werden? Und wo von müsstest du dich lösen, um erlöst werden zu können.


[1] Ich verdanke diesen Hinweis der Theologieprofessorin und Mystikforscherin Sabine Bobert, die es in einem Vortrag erwähnt hat.

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