Über die Dankbarkeit und das Danken

Wofür sind wir dankbar, wann erleben wir Dankbarkeit und welche Wirkungen hat sie? Das erste, was einem vielleicht einfallen mag, ist, wenn wir beschenkt werden. Ein anderer Anlass für Dankbarkeit wäre, wenn wir eine Hilfeleistung erfahren, jemand uns hilft, eine (größere oder kleinere) Not zu wenden. Wir können auch noch allgemeiner sagen: Immer, wenn uns etwas Gutes wiederfährt, erleben wir einen Impuls der Dankbarkeit. Es spielt keine Rolle, welche Größe dieses Gute hat. Es können sog. „Kleinigkeiten“ sein, wie ein freundliches Wort, eine Aufmerksamkeit, eine Zugewandtheit, die wir von einem anderen Menschen erfahren.

Wenn wir aber einmal genauer hinempfinden an das Danken, dann ist es bei vielen der genannten Beispiele so, dass neben dem Gefühl des Dankes sich noch etwas anderes einstellt: Ein Bedürfnis, das Empfangene auszugleichen. Wenn etwa jemand an unseren Geburtstag gedacht hat und uns etwas schenkt, kann es sein, dass neben dem Gefühl des Dankes sich noch ein anderer Gedanke mit hineinmischt. Dieser Gedanke könnte lauten: „Jetzt darf ich aber keinesfalls den Geburtstag dieser Person vergessen, ich muss ihr dann auch etwas schenken.“ Neben der Dankbarkeit entsteht hier also auch ein Gefühl der Verpflichtung, ein Bedürfnis, dass was ich bekommen habe, auszugleichen, in dem ich selber gebe.

Dieses Bedürfnis nach Ausgleich ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis und es regelt unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Nur merken wir hier, wenn wir es genau betrachten, dass wir es dann nicht mehr mit dem Dank in Reinform zu tun haben. Wir nehmen, was wir bekommen – vielleicht durchaus mit wirklich empfundenem Dank! – aber eben auch in der Absicht, dies wieder auszugleichen, in einer näheren oder auch ferneren Zukunft.

Geschenke ohne Gegenleistungsmöglichkeit

Die wirkliche Reinform des Dankes oder der Dankbarkeit können wir erfahren, wo ein Austausch nicht wirklich möglich ist. Also überall dort, wo wir nur nehmen können. Da bleibt uns nur die Dankbarkeit und deshalb erleben wir sie hier in Reinform.

Was sind das für Gegebenheiten, bei denen wir nur nehmen können? In allererster Linie ist es hier das Leben selbst, die Tatsache, dass wir atmen und leben. Das Leben haben wir empfangen, wir können aber nicht entsprechend dafür zurückgeben.

Von wem haben wir das Leben empfangen? Zunächst haben wir es von unseren Eltern. Ohne unsere Eltern wären wir nicht. Unsere Eltern haben sich – unter welchen Umständen auch immer – zur Verfügung gestellt, um unser Leben in die Existenz zu bringen. Können wir das in irgendeiner Weise „zurück erstatten“? Nicht wirklich. Dazu ist es etwas zu Großes. Das einzige, was hier bleibt als Möglichkeit, ist Dankbarkeit. Wir nehmen das Leben ganz, mit allem was dazu gehört, auch mit allen Beschwernissen, an. Und wir nehmen es mit Dankbarkeit. Wenn wir es denn können[1].    
Und es gibt beim Leben natürlich noch etwas anderes, wir können es selber weiter geben. Aber auch hier: Wenn wir selber das Leben weiter geben können und dürfen, ist das kein Ausgleich wie eben bei manchen Geschenken und Gegengeschenken.

In diesem Sinne wäre die Dankbarkeit für das eigene Leben ein Beispiel für Dankbarkeit in reiner Form. Da gibt es nichts auszugleichen. Wir können es nur annehmen ohne Vorbehalt. Und wenn wir dann denken, dass wir aus diesem Geschenk etwas machen wollen, dass wir das Leben nicht nur annehmen sondern auch möglichst gut leben wollen, das Geschenk möglichst gut nutzen wollen, was immer das auch im Einzelnen heißen mag, dann stellt sich hier wieder eine Frage. Treffe ich den Entschluss, aus diesem Leben etwas machen zu wollen, es möglichst erfüllt leben zu wollen, aus einer empfundenen Verpflichtung heraus? Oder ist mein Bestreben, etwas Gutes aus meinem Leben zu machen, ein Ausdruck dieser Dankbarkeit?

Wenn wir die (möglichst gute) Nutzung des Geschenks des Lebens als Verpflichtung empfinden, sind wir immer noch der Idee verhaftet, wir könnten dieses Geschenk ausgleichen. Wenn wir es aber tun, also aus unserem Leben etwas zu machen, aus Freude an der Entfaltung der Potentiale und Talente, die uns mitgegeben wurden, so lebt in dieser Entfaltung des Lebens die reine Dankbarkeit, sie findet in der Entfaltung ihren Ausdruck.

Das gütige Schicksal

Aber nicht nur von und durch unsere Eltern haben wir das Leben empfangen. Durch sie hindurch wirkt etwas, das schwer zu greifen ist. Wir könnten es vielleicht „das Leben selbst“ nennen. Oder auch – vielleicht – das Schicksal. Hier schreibe hier zwei Mal „vielleicht“ und ich merke beim Schreiben, dass ich mir nicht wirklich sicher bin, wie ich mich dieser Kraft, die hier wirkt, am besten nähern kann.

Der libanesische Dichter Khalil Gibran schreibt in seinem bekannten Gedicht „Eure Kinder“, Kinder seien die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Dann verdanken wir unser Leben eben dieser Sehnsucht des Lebens nach sich selbst und können dem Leben selbst dankbar sein.

Wir können auch, wenn wir uns unseren Heimatplaneten, die Erde, als Lebewesen (Gaia) vorstellen, also die große Mutter wahrnehmen, der Erde (Gaia) dankbar sein für unser Leben. In gewisser Weise hat auch sie, die große Mutter, uns hervorgebracht und nährt uns bis heute, neben ihren vielen anderen Menschenkindern.

Abhängig von unseren Vorstellungen von Gott, können wir Gott gegenüber dankbar sein für unser Leben, wenn es so etwas wie Gott in unserer Vorstellung gibt.

Es ist auch eine – mitunter sehr hilfreiche – Überlegung, einmal all die glücklichen Fügungen zu bedenken, die dazu beitrugen, dass ich bis hierher lebe. All die Krankheiten, die ich hatte, vielleicht gerade als Kind, und an denen ich nicht gestorben bin. All die größeren oder kleineren Unfälle, an denen ich nicht gestorben bin, die aber, bei leicht anderen Umständen durchaus hätten tödlich ausgehen können.
Aber auch all die verschiedenen Umstände und das Zusammentreffen mit bestimmten Personen, die uns gefördert haben und mit zu dem gemacht haben, was wir jetzt sind. Oder all die glücklichen Zufälle, in denen uns, wie das Wort es schon sagt, etwas zugefallen ist. Hier könnten wir eben dem Schicksal danken, wenn wir es so nennen wollen, dem gütigem Schicksal.

Wenn wir uns die Frage stellen, wer also – neben unseren Eltern – der Adressat für unsere Dankbarkeit für das „am Leben sein“ ist, bewegen wir uns in ein Feld, das etwas mysteriös ist und es auch bleibt, unabhängig davon, wie sehr wir es zu ergründen trachten. Wir kommen hier, auch mit unserer Dankbarkeit, in Kontakt mit etwas Größerem, was unsere Möglichkeiten und unser Ermessen übersteigt. Mit empfundener Dankbarkeit für all die glücklichen Zufälle und Fügungen in unserem Leben erweisen wir diesem Größeren unsere Referenz, wie auch immer wir es innerlich benennen mögen.

Die Dankbarkeit im Kleinen

Bislang habe ich hier viel über die Dankbarkeit gegenüber der fundamentalen Tatsache, am Leben zu sein, geschrieben. Das ist etwas sehr Großes. Aber die Segensreichen Wirkungen von Dank und Dankbarkeit zeigen sich auch im Kleinen.

Mit dem Danken nehmen wir etwas an, wir bestätigen, dass wir etwas erhalten haben, was unser Leben bereichert. Und nur, was wir innerlich wirklich annehmen, also ohne inneren Vorbehalt, kann ungehindert förderlich für uns sein, nur was wir wirklich angenommen haben, ist für uns verfügbar im Lebensvollzug.
Hier hat der Dank, wenn er ehrlich ausgedrückt ist und nicht nur eine Floskel ist, seinen Platz, auch in ansonsten reinen Austauschbeziehungen, wie etwa geschäftlichen Transaktionen. Für den Austausch selber reicht natürlich das Verhältnis von Geben und Nehmen. Wenn wir aber z.B. mit einer Dienstleistung besonders zufrieden sind oder sie uns in besonderer Weise genutzt hat, so fügt der ehrlich empfundene und ausgedrückte Dank dem noch etwas hinzu. Ja, ich habe für die Dienstleistung (im Beispiel) bezahlt und damit meine Teil dazu getan, aber der Dank bestätigt, vor allem für mich selbst, dass mich der Austausch wirklich bereichert hat, er nährt das Bewusstsein von Fülle in mir.

Der Dank als Erleichterung einer Trennung

Aber noch etwas anderes wohnt dem Dank inne. Er erleichtert Trennungen. Beziehungen zu einer vergangenen Partnerin oder einem vergangenen Partner sind oft innerlich erst dann wirklich getrennt, wenn wir innerlich dieser Person gedankt haben für alles, was gut war in dieser Beziehung. Dieser Dank macht frei für einen Neuanfang, mit dem Danken für das, was gut war, stellen wir unseren Ex-Partner oder unsere Ex-Partnerin frei von weiteren Ansprüchen, aber auch uns selber stellen wir damit frei.

Ähnlich sieht es aus bei einem beruflichem Wechsel, sei es, wir wechseln die Arbeitsstelle im gleichen Tätigkeitsbereich oder wir wechseln den Tätigkeitsbereich selber. Natürlich wird es für so einen Wechsel Gründe geben, d.h., wir sind nicht zufrieden und das treibt uns zur Veränderung. Aber trotz der Unzufriedenheit kann ich danken für das, was mir meine bisherige Stellung oder meine bisherige Tätigkeit gegeben haben, etwa ein Einkommen, dass es mir erlaubte, mein Leben zu erhalten.    
Dieser Dank richtet sich dann an etwas Abstraktes, etwas Unpersönliches wie eine Firma oder eben eine bestimmte Tätigkeit. Wir haben hier also keinen Menschen als Adressaten des Dankes und doch, so scheint mir, gelingt der Neuanfang besser, wenn wir dem Alten gegenüber dankbar sein können für das, was es uns gegeben hat. Es liegt, so scheint es, eher ein Segen auf dem Neuanfang, wenn wir den Abschied vom Alten in Dankbarkeit gestalten können.

Die Dankbarkeit als Rückweg ins Leben

Einen letzten Aspekt möchte ich noch anführen, die Dankbarkeit kann auch therapeutisch wirksam sein. Gerade bei schwer depressiven Menschen oder bei Menschen, die sich aus welchen Gründen auch immer in der „tiefen Nacht der Seele“ befinden, die sich von Gott und der Welt verlassen erleben, kann es ein Heilungsweg sein, wenn es möglich ist, möglichst täglich Dankbarkeit für 3 bis 5 Dinge im Leben laut auszusprechen. Das können ganz kleine Dinge sein oder auch Dinge, die man für selbstverständlich halten könnte. Man könnte den Dank dafür aussprechen, dass ich Kleidungsstücke zur Verfügung habe, mit denen ich mich kleiden kann. (Auch wenn diese mir nicht gefallen.) Ich kann dankbar dafür sein, dass ich ein Dach über dem Kopf habe. (Auch wenn ich vielleicht schon gekündigt bin mit dieser Wohnung, aber jetzt, in diesem Moment, habe ich sie noch.) Ich kann dankbar dafür sein, dass heute Morgen für 1 Stunde die Sonne geschienen hat. (Auch wenn insgesamt schon seit 14 Tage der Himmel grau verhangen ist und mir langsam aufs Gemüt schlägt.)

Bei allen anderen Kontexten der Dankbarkeit, über die ich hier geschrieben habe, würde ich sagen, dass die positive Wirkung der Dankbarkeit davon abhängt, dass diese nicht nur geäußert sondern auch „geinnert“, also innerlich empfunden wird. Hier ist es anders. In Phasen intensiver Verzweifelung wird es kaum gelingen, Dankbarkeit wirklich vollständig auch zu empfinden. Aber gerade hier zeigt sich eine therapeutische Wirkung, wenn es gelingt, diesen kleinen Dingen gegenüber Dankbarkeit auszusprechen, auch wenn es in dem Moment nicht so empfunden wird. In diesem Kontext kann allein das Aussprechen, wenn es regelmäßig geschieht, ein möglicher Weg der Heilung, ein Teil des Weges aus der Dunkelheit ins Licht, ein Teil des Rückkehr in das Leben sein.


[1] Es gibt viele Gründe, warum die Dankbarkeit den Eltern gegenüber für das Leben, das wir empfangen haben, überlagert sein kann und deshalb diese ursprüngliche Dankbarkeit nicht empfunden werden kann. Und viele dieser Gründe haben – auch – eine sehr gute Berechtigung. Ich will hier nicht näher darauf eingehen, weil ich beim Thema Dankbarkeit bleiben möchte. Hier nur so viel: Die Dankbarkeit für das Leben, das über und durch unsere Eltern zu uns gekommen ist, ist nicht als „moralische“ Forderung zu verstehen. Es geht nicht darum, ein Imperativ zu formulieren etwa in der Art: „Sei gefälligst dankbar!“ Damit würde alles falsch und schräg.

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