Der Bruch in der männlichen Linie

Es ist ein Grundzug von Familienaufstellungen, dass es einem Menschen oft ermöglich wird, in seine oder ihre Kraft zu kommen, indem die Eltern, die Vorfahren und die Ahnen in den Blick genommen werden. Oft gibt es hier etwas zu bereinigen und zu Lösen in Bezug auf wichtige Personen in meiner Herkunftsfamilie. Und wenn diese „Verstrickung“, wie wir es oft nennen, auf eine gute Art gelöst ist, ohne dass die Verbindung zur Herkunft verleugnet oder abgelehnt wird, erwächst oft ein sichtbarer Zuwachs an Kraft, an Kraft für eigenständiges Handeln.

Oft wird es in Verlaufe einer Aufstellung, meist gegen Ende der Aufstellung, so gemacht, dass man die Eltern und vielleicht deren Eltern und vielleicht noch zusätzlich zumindest im Geiste weitere Generationen der Person, um die es geht, in den Rücken stellt. Und die Person schaut nach vorne, auf ihr Leben, ihre Aufgaben und spürt gleichzeitig die Ahnen, die verschiedensten Menschen, die zu seiner Herkunft und seinem Sein beigetragen haben, als eine bestimmte Kraft von hinten. Man fühlt sich dann im eigenen Handeln eingebunden in einen größeren Zusammenhang, getragen von einer größeren Kraft, die vor mir war und auch nach mir sein wird.

In vielen Fällen geht es aber nicht so sehr um die ganze Herkunftslinie. Gerade wenn meine Schwierigkeiten etwas mit meinem Sein als Mann oder als Frau zu tun haben, liegt die Lösung oft in der Fokussierung auf die weibliche oder männliche Ahnenlinie. Wir stellen also vielleicht nur die Mutter einer Frau in den Rücken und dahinter deren Mutter und dahinter deren Mutter usw. Oder eben bei einem Mann die Väter über verschiedenen Generationen, möglicherweise (zumindest gedanklich) bis in die Tiefe der Zeit.

Der Fluch der bösen Tat

Speziell bei der Aufstellung der männlichen Herkunftslinie habe ich es mitunter erlebt, dass sich die kraftspendende Wirkung (zunächst) nicht einstellt. Stattdessen ergab sich ein deutlich wahrnehmbarer Bruch in der Linie. Einzelne Personen aus der männlichen Linie, oft geht es 2-3 Generationen zurück, können nicht in der Linie stehen. Es gibt den starken Impuls, sich zur Seite zu drehen oder deutlich zur Seite hin herauszutreten aus der Linie, was nonverbal die deutliche Botschaft verkündet: „In dieser Linie mag ich nicht stehen!“.

Bislang habe ich dieses Phänomen nur beobachtet, wenn es in der Linie einen Täter gab, zum Beispiel aus der Zeit der Nationalsozialismus. Da wenden sich dann die nachgeborenen in der männlichen Linie von ihren Vätern ab. Und es kommt zu einem Bruch in der männlichen Linie, die männliche Kraft ist in ihrem Fluss unterbrochen, oft mit Auswirkungen über Generationen hinweg. Die nächste Generation von Söhnen kann dann ihren Vater auch nicht wirklich nehmen, wenn dieser seinen Vater abgelehnt hat.

Der Vater als Vergewaltiger

Ein anderer Fall fällt mir ein, da war der Bruch noch näher an der Person, um die es ging. Dieser Mann war der Sohn einer Mutter, die von einem Unbekannten vergewaltigt wurde. Als ein Resultat der Vergewaltigung wurde die Mutter mit eben diesem Sohn schwanger. Dieser Mann ist also nicht nur ohne seinen Vater aufgewachsen, ohne ihn zu kennen und je kennen zu lernen, man kann sich auch vorstellen, wie die Mutter zu diesem Vater gestanden haben muss. Und das hat dieser Mann als Kind natürlich gespürt.

Die Lösung

Es gibt in diesen Fällen eine Lösung, die aber sehr schwer ist. Sie kostet Überwindung. Auch für Stellvertreter in einer Aufstellung, die ja selber nicht betroffen sind, ist es meist sehr schwer und gelingt mitunter erst im zweiten Anlauf.

Die Lösung ist, wenn der Sohn sich seinem Vater zuwendet, auf ihn zugeht, und sagt: „Du bist für mich genau der Richtige!“. Dieser Satz meint: Als mein Vater bist du der Einzige, den es geben kann als meinen Vater, einen anderen gibt es nicht. Hätte ich, als Sohn, einen anderen Vater, wäre ich ein Anderer. Weil ich aber der bin, der ich bin, ist genau dieser Vater auch der einzig mögliche und der einzig richtige für mich.

In einem zweiten Schritt, besonders wenn der Bruch sich über mehrere Generationen hinzieht wie etwa bei NS-Tätern in der Herkunftsfamilie, kann es heilsam sein, wenn der Sohn des Täters sich seinem Sohn zuwendet, auf den Täter (Vater bzw. Großvater für den Sohn) weist und sagt: „Er gehört dazu!“. Man kann dann noch hinzufügen: „Auch wenn er Täter ist!“  
Und noch etwas anderes ist hier wichtig: Mit der Hinwendung zum Täter in der männlichen Linie wenden wir uns auch den Opfern dieses Täters zu, nehmen sie in den Blick. Sie gehören ebenfalls dazu, mit allem, was es sie gekostet hat.

Wir können uns vorstellen, warum es schwer ist, diese Sätze zu sagen und auch wirklich so zu meinen. Aber warum lösen sie?

Man könnte meinen, wenn wir die Täter wieder als zugehörig mit hineinnehmen, erkennen wir damit an, dass auch sie vielleicht verstrickt waren, tragisch verstrickt, schuldig verstrickt, aber eben verstrickt. Das mag so sein. Es kann ein Teil dessen sein, was hier lösend wirkt. Mit der Anerkennung der Zugehörigkeit der Täter hört es auch auf (oder lässt doch nach), dass wir uns moralisch über sie erheben. Und das alleine kann lösend wirken. Aber, diese Denkfigur der Verstrickung kann auch manchmal einer allzu wohlfeilen Bemäntelung der Taten dienen. Mir scheint, hier wirkt noch etwas anderes lösend.

Zweierlei Haltungen

Ich hole hier noch etwas weiter aus. Als Mann sind vielleicht zwei verschiedene Haltungen zu den männlichen Tätern in der Linie meiner Vorfahren denkbar. (Und in jedem Mann gibt es in dieser Linie mit Sicherheit Täter, es ist nur eine Frage, wie weit man zurückgehen müsste.)

In der einen Haltung versuche ich mich zu distanzieren, ich verzichte auf die männliche Tatkraft, die eben auch Täterenergie sein könnte. Ich sage, die gehören nicht zu mir oder ich gehöre nicht zu denen, wie herum das gedacht wird ist eigentlich egal. Aber der Preis ist eine geschmälerte Lebensenergie, ich schneide mich ab von einem Teil des Stroms des Lebens, in dem ich stehe.

Die andere Haltung wäre, ich schaue auf die Täter, auf die Taten und auch auf die Opfer und auf das, was es die Opfer gekostet hat, ohne Beschönigung. Und dann sage ich: Und trotzdem stelle ich mich in diesen Lebensstrom, nutze seine Kraft, auch wenn in diesen Wassern das Blut der Opfer geschwommen ist.         
Im günstigsten Fall nutze ich diese Energie, diese Tatkraft, die durch mich fließt, für etwas, was dem Leben dient. Nicht nur meinem Leben, sondern auch dem Leben anderer Menschen.

Wenn wir uns fragen, welche der beiden Haltungen ehrt das, was es die Opfer gekostet hat, mehr – dann scheint es mir die zweite Haltung zu sein. Ebenso erscheint mir die zweite Haltung, gerade weil sie schwieriger zu gewinnen ist, eine andere Größe zu haben.    
Aber auch dies ist natürlich eine Wertung, die vielleicht anmaßend ist, und die ich somit hier wieder relativiere.

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