Vor dem Schreiben dieses Blogbeitrages bin ich mehre Tage mit dem Thema sozusagen schwanger gegangen. Es kam mir in den Sinn, etwas über das sogenannte Gute und das sogenannte Böse zu schreiben. Ich weiß nicht aus welcher Quelle der Gedanke kam. Gleichzeitig stellte sich bei mir aber auch eine Scheu dem Thema gegenüber ein. Hier war das Gefühl, das Thema sei zu groß, ich sei dem Thema nicht gewachsen. Ich nähere mich diesem Thema daher erst einmal recht unsystematisch. Ich greife einige Facetten des Themas auf. Es entstehen eher Fragen als Antworten.
Der nationalsozialistische Täter in der männlichen Ahnenreihe
Ich erinnere mich noch an eine Aufstellung, bei der ein Mann seine männliche Ahnenlinie aufstellen wollte. Was ihn dabei umtrieb und besorgt machte, war ein Großvater, der ein überzeugter Nazi und Mitglied der Waffen-SS war und in dieser Funktion viele Menschen umgebracht hat. Der Mann hatte zwei Kinder, zwei Söhne im Grundschulalter. Seine Sorge war, dass sich der Großvater – auch Sicht der Söhne der Urgroßvater – der ein Täter im Nationalsozialismus war, sich negativ auf die Söhne auswirken könne.
Wir haben das aufgestellt, den Mann mit dem Anliegen, seine Söhne, seinen Vater und dessen Vater, den Nazi-Täter. Und auch noch dessen Vater und den Großvater des Täters.
Ich wollte die Stellvertreter zunächst als eine Reihe von Vätern und Söhnen aufstellen, immer der jeweilige Vater steht hinter seinem Sohn. In der Reaktion der Stellvertreter zeigte sich, dass dies nicht ging. Sowohl der Großvater des Klienten, also der Täter, wollte nicht in dieser Reihe stehen, er stellt sich mit Vehemenz abseits. Aber auch alle anderen in der Reihe, sowohl diejenigen, die vorher waren wie diejenigen die nachher waren, also der Klient und der Vater des Klienten, wollten den Täter nicht in ihrer Reihe haben, mit gleicher Vehemenz.
Über eine Reihe von Zwischenschritten, die ich hier auslasse, war es dann aber als Endpunkt eines längeren Prozesses möglich, dass der Täter in der Reihe stand und seine Vorfahren zu ihm sagen konnten: „Du gehörst dazu!“ Und auch die Nachfahren konnten sich dann umdrehen und dem Vater bzw. Großvater sagen: „Du gehörst dazu!“ Ich hatte die beiden Söhne des Klienten nicht in die Reihe gestellt, sondern sich vor ihrem Vater auf den Boden setzen lassen. Sie hatten dem Geschehen mit Beklemmung zugesehen. Als der Täter in der Reihe stand, die anderen sagen konnten „du gehörst dazu!“ und auch er selber sagen konnte „ich gehöre dazu!“, entspannten sich die Kinder.
Man könnte sagen, die Integration des Bösen bewirkt hier etwas Gutes. In diesem Fall war es so. Können wir das Verallgemeinern? Ich bin da skeptisch, daraus eine Regel machen zu wollen, erscheint mir als Verflachung dessen, was in diesem Einzelfall als gute Kraft erlebt wurde. Aber die offene Frage bleibt: Wie gehen wir mit dem (sogenannten) Bösen um, etwa in unserer Familiengeschichte?
Der Segen der bösen Tat
Im individuellen Bereich kann man manchmal beobachten, dass ein Mensch, der anderen Menschen Schaden zugefügt hat, der also schuldig geworden ist, in dem Erkennen der eigenen Schuld, in dem ehrlichen Bedauern der schädlichen Wirkung eigener Handlungen, zu einer eigentümlichen persönlichen Kraft findet. Ein solcher Mensch kann mitunter Großes leisten für eine Befriedung von Konflikten oder eine Versöhnung. Die Kraft, die hier durch solche Menschen wirkt, finden wir nicht bei Menschen, die immer kindlich unschuldig geblieben sind. Hier fehlt meist die Kraft zu außergewöhnlichen Handlung im Dienste des – und auch hier schreibe ich etwas distanzierend – sogenannten Guten.
Heißt dies, dass wir erst Böses tun müssen, bevor wir zum Guten wirken können? Natürlich nicht. Auch hier: Man kann daraus keine Regel machen. Aber das Phänomen bleibt, das manchmal aus der bösen Tat auf längere Sicht sich gute Wirkungen ergeben.
Bei Schiller heißt es im Wallenstein: „Das eben ist der Fluch der bösen Tat, daß sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.“ Ich will nicht bezweifeln, dass es diesen Fluch der Bösen Tat gibt. Aber es gibt eben auch – mitunter – den Segen der bösen Tat.
Was sollen, was können wir damit machen?
Der Holocaust und der Staat der Juden
Ich hörte vor einiger Zeit einen US-amerikanischen Podcast, in welchem es ein Gespräch mit einem Argentinier gab über ein recht breites Spektrum von geistig-philosophischen und spirituellen Fragen. Der Argentinier, ein noch recht junger Mann, wirkte auf mich erstaunlich weise, eine Art Altersweisheit, die man in diesen jungen Jahren eigentlich nicht erwartet. In Erinnerung geblieben ist mir aber besonders eine Aussage von ihm im Verlaufe des Gesprächs. Er sagte an einer Stelle, ich zitiere jetzt nicht wörtlich sondern sinngemäß aus dem Gedächtnis: Die systematische Ermordung von Millionen Juden in der Zeit des deutschen Nationalsozialismus sei natürlich ein fürchterliches Verbrechen gigantischen Ausmaßes gewesen, aber sie habe auch bewirkt, dass in der Folge ein Staat als Heimstatt für das Volk der Juden entstehen konnte, nach 2000 der Verstreuung, der Diaspora, der Verfolgung und Diskriminierung in vielen Teilen der Welt.
Eine schwierige Aussage. Eine Aussage, die man als Deutscher so nicht, nicht in dieser Unbefangenheit treffen kann. Das könnte schnell zynisch wirken. Es kommt noch hinzu, dass für die Gründung des Staates Israel auch ein Preis zu zahlen war. Den Preis haben die dort lebenden Palästinenser, schon gleich zu Beginn, mit Vertreibung und teilweise Ermordung bezahlt. Und doch bleibt – so erscheint es mir zumindest – in der Aussage etwas unmittelbar Wahres.
Was können wir damit anfangen, wenn die Grenzen zwischen Gut und Böse in unserem Urteil – genau genommen gibt es diese Grenzen nur in unserem Urteil – verschwimmen?
Das Naturschutzgebiet
Wenn wir an das Gute und das Böse denken, erscheint es oft so, dass die guten Kräfte die aufbauenden Kräfte sind und die bösen Kräfte die zerstörerischen Kräfte. Der Tod wäre eine solche zerstörerische Kraft aber auch, wenn wir einmal vom menschlichen Handeln absehen in der Betrachtung, Naturkatastrophen wie Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Tsunamis. Hier wirken gewaltige Kräfte und sie wirken zerstörerisch.
Ich habe einmal ein Naturschutzgebiet besucht, in dem man sich als Besucher nur auf sehr begrenzten Wegen bewegen durfte. Es gab auch Führungen und Erläuterungen durch einen Förster. Die Geschichte dieses Naturschutzgebietes war: Vor gut 40 Jahren gab es an dieser Stelle einen Wald, einen Nutzwald aus überwiegend Nadelbäumen. Dann gab es eine Borkenkäferplage, welche den Wald schwer schädigte und in der Existenz bedrohte. Man hatte sich dann aber entschlossen, nach vielen kontroversen Diskussionen der Fachleute, hier ein Experiment zu starten. Auf einem begrenzten Gebiet, dem jetzigen Naturschutzgebiet, wollte man auf jegliches Eingreifen, jegliche Bekämpfung der Borkenkäfer verzichten. Die allermeisten Bäume starben dann tatsächlich, es entstand eine zunächst tot und unwirtlich wirkende Landschaft aus toten und langsam verrottenden Baumstämmen.
Aber im Verlauf von etwa 30 Jahren entwickelte sich daraus eine neuer Wald, jetzt ein vielfältiger und sehr gesunder Mischwald. Und nicht nur der Wald erholte sich und war danach vitaler und widerstandsfähiger als vorher, auch Tiere, die in dieser Gegend als ausgestorben galten, wurden wieder gesichtet.
Damit dieses sehr vielfältige und lebendige Ökosystem sich bilden konnte, musste erst der alte Wald, die alte Monokultur, zugrunde gehen. Wir sehen hier ein Ineinandergreifen von zerstörerischen und aufbauenden Kräften.
Vorhang zu – und alle Fragen offen
Am Ende von Bertold Brechts Theaterstück „Der gute Mensch von Sezuan“ heißt es:
„Wir stehen selbst enttäuscht und sehen betroffen
den Vorhang zu und alle Fragen offen“
Ich lasse für diesen Beitrag auch den Vorhang fallen. Vielleicht nicht alle, aber doch viele Fragen offen, noch ohne Antworten. Es gibt ein Gedicht mit dem Titel „Die Fragen lieb haben“ von Rainer Maria Rilke, in dem es heißt: „Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.“