Unpersönliche Gestalten in einer Aufstellung: Krankheiten und Symptome

Im letzten Blogbeitrag ging es am Beispiel von Ländern oder auch Gegenden um überpersönliche, also kollektive Gegebenheiten, die wie eine Person in einer Aufstellung aufgestellt werden. In ähnlicher Weise soll es in diesem Beitrag um Krankheiten bzw. Symptome gehen, die man in einer Aufstellung durch eine Stellvertreterperson einführen kann und manchmal auch muss. Ich spreche hier von unpersönlichen (statt von überpersönlichen) Gestalten. Wenn wir eine Krankheit oder auch ein Symptom benennen, ist dies natürlich nicht wirklich eine Person, auch wenn eine Person als Stellvertreter dafür aufgestellt wird. Die Krankheit ist etwas eher Abstraktes, etwas Unpersönliches. Aber sie ist nicht in dem Sinne kollektiv, dass alle konkreten Menschen einer bestimmten Menschengruppe eben dazu gehören. Eine bestimmte Krankheit befällt bestimmte Menschen, andere aber nicht. Und auch die Ausprägung der Symptomatik kann individuell sehr verschieden sein.

Wann und warum stellt man Krankheiten oder Symptome auf?

Natürlich ist es oft so, dass eine Erkrankung oder Symptomatik überhaupt der Anlass für eine Aufstellung ist, das Anliegen der Aufstellung ist also dadurch bestimmt. Das bedeutet aber nicht zwingend in jedem Fall, dass man bei solchen Anliegen auch die Krankheit oder das Symptom als eigenständige Position einführen muss. Generell scheint mir, dass man sich bei Krankheiten / Symptomen in einer Aufstellung davor hüten sollte, hier zu „medizinisch“ zu denken oder die Aufstellung als eine Art von „Behandlung“ oder Therapie zu sehen[1].

Bei einer Aufstellung geht es ja – zumindest in meinem Verständnis – um die Bewegungen der Seele. Und das wäre die Leitfrage: Benötige ich in diesem konkreten Fall wirklich die Krankheit als Position in der Aufstellung, um die damit verbundene seelische Bewegung und die mögliche Lösung, wo also die Seele hin will, aufzuzeigen und somit der Person, um die es geht, eine Erleichterung zu verschaffen? Das ist nicht immer der Fall. Das mag erst einmal irritierend klingen. Man könnte ja denken: Ja, wenn es doch um die Krankheit geht, welche den Lebensvollzug einschränkt, wie kann es dann sein, dass die Krankheit nicht aufgestellt wird?

Die Krankheit / das Symptom und der Bezug zur Herkunftsfamilie

Sehr oft ist es so, dass bei einer schwerwiegenden Erkrankung der Bezug zur Herkunftsfamilie unmittelbar augenfällig ist. Wenn z.B. eine Frau an Brustkrebs erkrankt ist und man fragt: „Hatten andere Personen in deiner Herkunftsfamilie auch mit einer Brustkrebserkrankung – oder allgemeiner: mit einer Krebserkrankung überhaupt oder noch allgemeiner: mit einer schweren und lebensbedrohlichen Erkrankung – zu tun?“ und die Antwort dann wäre, dass sowohl die Mutter wie auch die Mutter Brustkrebs hatten und die Großmutter auch daran verstorben ist, dann ist die Hypothese einer systemischen Verstrickung sehr naheliegend.

In diesem Fall würde man vielleicht die Klientin, deren Mutter und deren Großmutter aufstellen. Und es könnte sich zeigen, dass die Seele der Klientin den Brustkrebs als Mittel benutz, um den weiblichen Ahnen nahe zu sein, um mit den weiblichen Ahnen verbunden zu sein und vielleicht auch, um etwas für die weiblichen Ahnen mitzutragen. Und die Lösung wäre vielleicht, dass die Klientin zu den weiblichen Vorfahren etwas sagt: „Ich sehe und achte euer schweres Schicksal!“ Und dann vielleicht an die Vorfahrinnen gewandt noch sagt: „Bitte, segnet mich, wenn ich vollständig gesunde!“ oder auch „Ich bleibe mit euch verbunden, auch ohne die Erkrankung!“

In so einem Fall benötigt man nicht unbedingt die Erkrankung selber als eigenständige Position in der Aufstellung, auch wenn natürlich in meinem Beispiel der Brustkrebs im Feld präsent ist. Aber wir müssen in diesem Fall vielleicht nicht den Brustkrebs als stellvertretende Wahrnehmung dabei haben, um etwas über die Intention des Brustkrebses zu erfahren.

Ich schreibe das hier bewusst vorsichtig in der Formulierung. Das Gesagte soll eben nicht bedeuten: Immer wenn der seelische Hintergrund der Erkrankung eine Verstrickung im Familiensystem bedeutet, eine „ich folge dir nach“ Struktur sich zeigt, man eben die Krankheit selbst oder die Symptomatik nicht aufstellt. Mitunter kann es sich auch in solchen Fällen als hilfreich oder gar notwendig erweisen, die Krankheit aufzustellen, weil sich darüber etwas näher klären lässt, in welcher Weise genau die Erkrankung für die Seele der Ahninnen wichtig war und vielleicht auch dann ähnlich bei der Klientin für die Seele wichtig ist.

Die Krankheit / das Symptom und der jetzige Lebensbezug

In anderen Fällen zeigt sich bei einem Aufstellungsanliegen vielleicht kein (deutlicher) Bezug zum familiären Herkunftssystem. Es erscheint eher so, als ob es für die Seele bei der Erkrankung darum ginge, einen inneren Konflikt zum Ausdruck zu bringen oder eine grundlegende Entscheidung in Bezug auf die Lebensführung zu befördern oder vielleicht auch, über die Erkrankung mit schicksalhaften Kräften in Berührung zu kommen. In so einem Fall schauen wir dann in der Aufstellung nicht auf die Herkunft der Person, um die es in der Aufstellung geht, sondern auf die jetzige Lebenssituation der Fokusperson in der Aufstellung. Welche Entscheidungen stehen hier an? Welche Entwicklungsprozesse und Reifungsstufen stehen vielleicht in Zusammenhang mit der Erkrankung? Wie ist es mit dem Lebenssinn der Fokusperson bestellt? Oder auch: Was wird durch die Erkrankung verhindert, was würde ich sofort tun, wenn die Erkrankung nicht wäre?

In solchen Fällen ist die Erkrankung oder das Symptom als Position in der Aufstellung oft sehr hilfreich. Man kann dann über die Stellvertreter, ihre unmittelbaren Reaktionen aber auch ihre Antworten auf Fragen, Hinweise darauf bekommen, was das eigentliche Anliegen der Erkrankung ist. Worauf möchte die Erkrankung mich aufmerksam machen? Was möchte die Erkrankung bei mir verhindern?

Ebenso spielt hier die Frage eine Rolle: Ist es überhaupt etwas „Persönliches“ in einem engeren Sinne? Geht es der Erkrankung wirklich im Kern um diese konkrete Person? Oder hat sich die Erkrankung im Lebensraum dieser Person niedergelassen, weil es nun mal „ihr Job“ ist, eine bestimmte Anzahl von Menschen zu befallen und diese Person gerade gut verfügbar war? So etwas zeigt sich in der Aufstellung, wenn man die Stellvertreterperson für die Erkrankung danach befragt, wie es ihr mit der Fokusperson in der Aufstellung geht.

Aber auch hier ist es so: Man kann hier keine Regel formulieren etwa in dem Sinne, immer wenn eine Erkrankung das Thema der Aufstellung ist und es nicht zentral um eine Familiensystemdynamik dabei zu gehen scheint, soll man die Erkrankung aufstellen. Auch ohne eine Verankerung des Themas in der Herkunftsfamilie und dem Ahnensystem könnte eine solche Aufstellung ohne eine explizite Stellvertreterperson für die Erkrankung auskommen. Es könnte sein, dass man vielleicht eine Entscheidungssituation aufstellt, also z.B. eine Stellvertreterperson für die eine Alternative und eine andere Stellvertreterperson für die andere Alternative der Entscheidung. Oder man stellt einen inneren Konflikt auf, der mit der Erkrankung zusammen hängt. Oder vielleicht stellt man auch „das Schicksal“ auf. Das wäre dann viel größer und umfassender als die konkrete Erkrankung.

Die Krankheit oder das Symptom aufstellen?

Ich habe bislang immer austauschbar über „die Krankheit“ bzw. „das Symptom“ gesprochen. Mein Eindruck aus den Aufstellungen ist: Dies ist nicht ganz dasselbe. Es macht einen Unterschied, ob ich die aufgestellt Gestalt als eine bestimmte Krankheit aufstelle oder als ein konkretes Symptom. Dieser Unterschied ist auch für die entsprechenden Stellvertreter wichtig. Mir scheint, es macht auch hier einen Unterschied, ob ich mich in eine Krankheit oder in ein Symptom einfühle.

Worin liegt nun dieser Unterschied? Das finde ich schwer zu beschreiben. Die Entscheidung in einer Aufstellung fällt ja auch nicht anhand von irgendwelchen Überlegungen, sondern in welche Richtung die Mitteilungen aus dem Feld gehen. (So sollte es zumindest sein.) In der Leitung einer Aufstellung spüre ich meist schon in der Vorbesprechung deutliche innere Signale, ob hier die Krankheit oder das Symptom aufgestellt werden soll. Aber ich könnte das in der Situation oft nicht wirklich begründen, warum das eine oder das andere.

Rückblickend kann ich vielleicht ein paar grobe Tendenzen beschreiben, aber das ist für mich noch sehr hypothetisch. Vielleicht fällt die Wahl eher auf das Symptom statt auf die Krankheit, wenn es zentral darum geht, was wird durch die Erkrankung verhindert oder auch wird durch die Krankheit ermöglicht für die von der Erkrankung betroffene Person? Dieser Aspekt wäre ziemlich „handlungsnah“. Es geht um die ganz praktische und alltägliche Lebensführung.    
Dagegen würde die Wahl vielleicht eher auf „Krankheit“ statt „Symptom“ fallen, wenn es eher um den Lebenssinn der Fokusperson geht oder auch, wenn über die Erkrankung sich so etwas wie eine „Reifungskrise“ ausdrückt, wenn also ein Mensch einen Übergang in eine grundlegend neue Lebensphase durchlebt und die Erkrankung bei der „Initiation“ in diese neue Lebensphase mitwirkt.

Aber das sind von meiner Seite aus vorläufige und tastende Versuche, den Unterschied zu beschreiben. Und die Beschreibung ist vielleicht nicht mehr als der Ausdruck meines derzeitigen Standes im Irrtum. Es ist für die Aufstellung auch nicht wichtig, zu verstehen, warum genau im Einzelfall entweder die Krankheit oder das Symptom aufgestellt wird, solange aus dem wissenden Feld klare Signale für das eine oder das andere vernehmbar sind.

Die Krankheit / das Symptom als Freund und Begleiter

Ein letzter Punkt scheint mir bei diesem Thema noch wichtig. Wenn in einer Aufstellung eine Krankheit oder ein Symptom über eine Stellvertreterperson aufgestellt wird, ist es in den allermeisten Fällen im Verlauf der Aufstellung so, dass die Fokusperson sich bei der Krankheit bzw. bei dem Symptom bedankt. Dies mag verwundern, weil man ja üblicherweise die Krankheit oder das Symptom eher „weg haben“ möchte. Wir möchten, dass die Krankheit oder das Symptom eben nicht in unserm Leben präsent ist. Vielleicht möchten wir die Krankheit oder das Symptom auch bekämpfen. Der Gedanke, mich bei diesem Gegner auch noch zu bedanken, erscheint bei dieser Intention absurd.

Und doch ist es so, dass der Dank an die Krankheit oder an das Symptom sehr oft eine entscheidende Rolle bei der Lösung spielt. Mit der Dankbarkeit, so sieht es in der Aufstellung oft aus, kann sich die Krankheit oder das Symptom dann auch zurückziehen.

Warum ist das so? Vielleicht können wir sagen, die Erkrankung hilft uns, auf ein bestimmtes Thema aufmerksam zu werden. Die Erkrankung unterstützt uns bei grundlegenden Lebensveränderungen. (Weil: Ohne dies würden wir diese Veränderungen nicht vornehmen.) Und letztlich ist eine schwerwiegende Erkrankung natürlich auch ein langfristiger Begleiter in meinem Leben, ein treuer Begleiter. Hört sich das zynisch an? Ich meine es nicht zynisch. Aber es ist ja eine Tatsache: Eine schwere Erkrankung ist eine Herausforderung! Und wie bei vielen anderen Dingen auch, die für uns schwer und herausfordernd sind, kann man zumindest rückblickend meist ganz gut angeben, warum und in welcher Weise mir diese Herausforderung genutzt hat. Vorausgesetzt natürlich, die Herausforderung war keine Überforderung. Aber auch dies kann meist nur rückblickend entschieden werden.

Ich hatte ja oben davon gesprochen, dass wir natürlich dazu neigen, die Erkrankung als Gegner bekämpfen zu wollen. Dies ist auch die medizinische Denkweise und hier hat sie auch eine gewisse Berechtigung. Vielleicht können wir die Gegnerschaft aber auch so sehen, wie einen Gegner z.B. im Schachspiel oder in einer Sportart wie z.B. Tennis. Wenn wir an diese Dinge denken, ist es überhaupt nicht absurd, wenn ich mich etwa nach einer interessanten Schachpartie bei meinem Gegner bedanke. Er, der Gegner, hat mich vielleicht in dieser Partie an die Grenzen meiner Fähigkeiten gebracht und vielleicht sogar ein kleines Stück darüber hinaus. Und für das, was ich da lernen durfte und für den Anreiz für meine Weiterentwicklung kann ich mich durchaus bedanken, da ist überhaupt nichts Absurdes dabei.
Diese Sichtweise würde natürlich auch bedeuten, das Leben insgesamt (auch!) als Spiel zu betrachten. Ein großes Spiel, ein durchaus oft sehr ernstes Spiel – aber eben doch auch ein Spiel. Und was wäre ein solches Spiel wie Schach ohne einen Gegner?


[1] In einem anderen Beitrag hatte ich etwas dazu geschrieben, ob man eine Familienaufstellung als Therapie ansehen kann bzw. ob Aufstellungen eine Therapiemethode sind. Hier hatte ich die Ansicht vertreten, dass Aufstellungen nicht wirklich eine Therapie oder Therapieform sind, aber profunde therapeutische Wirkungen haben können. Diese therapeutischen Wirkungen stellen sich aber paradoxerweise eher dann ein, wenn man sich von einem therapeutischen Denkansatz, in dem es um die Beseitigung einer Störung geht, löst.

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