Gestalten am Urgrund der Seele

Wenn man sich mit der Seele beschäftigt, sei es zum Zwecke der Selbsterkenntnis, sei es zur Lösung drängender eigener Probleme im Lebensvollzug, sei es im Rahmen einer beratenden oder helfenden Tätigkeit, bei der man anderen Menschen bei der Lösung solcher Lebensprobleme unterstützt oder begleitet, dann bekommt man es mit einer besonderen Situation zu tun. Die Besonderheit liegt darin, wenn wir beschreiben wollen, womit wir es da zu tun haben, bleibt immer eine gewisse Unschärfe. Und: Es sagt sich nicht so leicht. Das liegt weniger daran, dass der Gegenstand komplex oder kompliziert wäre. Das ist manchmal der Fall, manchmal aber auch nicht. Die Schwierigkeit liegt eher darin, dass er – der Gegenstand der Betrachtung – sich der verbalen Beschreibung immer wieder entzieht. Er lässt sich nicht wirklich definieren und schon gar nicht vermessen. Aber er kann verstanden werden. Nur liegt das Verständnis meist zwischen den Zeilen.

Schon das Wort „Seele“ macht es deutlich. Wir alle haben ein gewisses, eher intuitives Verständnis, was „die Seele“ sei. Wir erleben ihre Regungen, die uns auf eigentümliche Weise führt. Und wir erahnen ihre verschiedenen Kräfte, die in uns wirken. Und dies alles haben wir, auch wenn wir nicht wirklich definitiv – also im Sinne einer allgemeingültigen Definition – sagen könnten, was die Seele genau ist. Schon gar nicht können wir sie mit Größenangaben wie Höhe, Breite oder Tiefe versehen oder ihr Gewicht als Zahlenwert messen. Aber wir können darüber sprechen oder schreiben. Dies sind dann tastende Versuche einer Sache habhaft zu werden, die sich aber immer nur in Teilen beschreiben lässt und sich in anderen Teilen dem Zugriff des Verstandes und des rationalen Diskurses entzieht. Jede Beschreibung muss unvollständig bleiben. Aber vielleicht – so die Hoffnung – kann sich durch die Unvollständigkeit der Beschreibung hindurch eine Anmutung des nicht Beschreibbaren einstellen. Etwas im Adressaten des Wortes gerät in Resonanz. Etwas in den Sedimenten der Lebenserfahrung sagt beim Empfang der Worte: „Ja, ich verstehe.“

Manchmal ist in Bezug auf die Seele von Landschaften die Rede, von seelischen Landschaften. Diese Landschaften kann man schauen, man kann sie durchwandern, man kann sie auf sich wirken lassen. Und dann erleben wir vielleicht auch: Es gibt hier verschiedene Arten von Landschaften, so etwas wie Typen von Landschaften. Manche Landschaften ähneln einander, auch wenn sie nie gleich sind. Sie sind aber deutlich verschieden von anderen Arten von Landschaften. Auf ähnliche Art gibt es im Theater verschiedene Arten von Stücken. Es gibt Dramen, Tragödien, Komödien, Volksstücke, Singspiele, Possen, Mysterienspiele und vielerlei mehr. Und obwohl kein konkretes Theaterstück auf dem Spielplan mit einem anderen identisch ist, erkennen wir das Genre.     
Aber zurück zu den seelischen Landschaften als Bild: Wir können sie schauen oder durchwandern, wir erkennen die Art der Landschaft und ihre Wirkung auf uns. Nur eines können wir nicht: Sie vollständig erfassen in ihrer Gesamtheit.

Die Gestalten in den seelischen Landschaften

Aber nicht so sehr von den seelischen Landschaften soll hier die Rede sein, sondern von den Gestalten und Gestaltungen, welche diese Landschaften bewohnen. Und auch diese Bewohner der seelischen Landschaften (die Gestalten) haben eine ähnliche Unschärfe wie die Landschaft selber. Auch hier finden wir bestimmte „Typen“ vor. Aber die Beschreibung, was genau diese Charaktere auszeichnet, ist immer nur hinweisend und unvollständig.

Es soll also um die Bewohner der seelischen Landschaften gehen. Diese Bewohner haben Intentionen und Impulse, sie haben Ziele und Bedürfnisse. Die Bewohner können, anders als die Landschaft, handeln. Und sie handeln in uns und durch uns, manchmal auch hinter unserem Rücken. Besser gesagt: Sie handeln hinter dem Rücken des bewussten Verstandes. Sie treiben in uns ihr Wesen und drücken ihr Wesen in uns und durch uns aus.

Es gibt auch noch ein anderes Bild. Statt von Landschaften und Bewohnern können wir auch von inneren Räumen sprechen und den Bewohnern dieser Räume, die in diesen Räumen anzutreffen sind. Die Metapher wäre hier ein Gebäude. Und was die seelischen Räume und ihre Bewohner angeht, wissen wir eins: Wenn wir mit Ihnen Kontakt aufnehmen wollen, müssen wir nach unten, in die Tiefe. Die seelischen Räume liegen in den verschiedenen Kellergeschossen, also unter der Oberfläche. Zu ihnen müssen wir hinabsteigen. Und da gibt es verschiedene Ebenen.

In den oberen Ebenen der Kellergewölbe treffen wir die Räume und die zugehörigen Gestalten an, die sozusagen persönlich sind. Hier treffen wir Gestalten, die sich aus unserer individuellen Biografie gebildet haben, aus den konkreten Umständen, unter denen wir herangewachsen sind und aus den jeweils besonderen Erfahrungen gebildet, die wir um Laufe unseres Lebens gemacht haben.

Noch einmal eine Etage tiefer treffen wir auf Räume und Gestalten, die wir mit allen Menschen teilen, quer über alle geschichtlichen Epochen und unterschiedlichen kulturellen Prägungen.

Die Archetypen

Um diese Bewohner der unteren Etagen im Keller soll es hier und in den folgenden 12 Monaten des kommenden Jahres 2025 gehen. In diesem Beitrag soll es um eine erste Beschreibung dieser sog. Archetypen gehen. Und im nächsten Jahr will ich mich in jedem Monat jeweils einem Archetyp, einem von 12 Archetypen in der Seele, beschreibend nähern. Aber zunächst zu der Frage: Was sind Archetypen?

Es gibt – so die Behauptung – unterhalb der persönlichen inneren Instanzen noch eine Reihe von Gestalten, die in uns wirksam sind, auch ohne an bestimmte biografische Erfahrungen gebunden zu sein. Diese Gestalten haben wir gemeinsam mit allen Menschen, die jemals gelebt haben. Sie gehören sozusagen zur Grundausstattung der Menschheit als Gattung. Sie leben in den Märchen, den Sagen, den Mythen und allgemein in den Geschichten die erzählt werden, sei es in Form von Romanen, Bühnenstücken oder Filmen. Hier werden sie lebendig, hier werden sie erkennbar. Wir merken es daran, dass uns eine Geschichte (oder eben ein Film) fesselt, fasziniert und in den Bann zieht. Wir identifizieren uns dann vielleicht mit zentralen handelnden Personen, auch dann, wenn wir mit dem Kontext, dem Rahmen in dem die Geschichte erzählt wird, keine eigene Erfahrung haben, keinen biografischen Anknüpfungspunkt.

Diese Gestalten leben im kollektiven Unbewussten und sind kulturunabhängig. Wir können diese Gestalten erkennen und mit ihnen in Resonanz gehen, auch wenn sie in Geschichten aus ganz alten Zeiten oder aus ganz anderen Kulturkreisen uns entgegentreten. Auf einer bestimmten Ebene, auch wenn diese Ebene recht bewusstseinsfern ist, kennen wir diese Gestalten und wir haben sie immer schon gekannt. Wir kennen sie aus allen unseren Leben und Inkarnationen. Diese Gestalten sind so alt wie die Menschheit, sie sterben nie, solange es Menschen gibt, aber sie wechseln natürlich gelegentlich ihr Gewand. Sie leben am Urgrund der Seele und sie repräsentieren Ur-Erfahrungen des Menschseins. Sie müssen nicht individuell als Erfahrung gewonnen werden, sie sind immer schon da, unabhängig von konkretren individuellen Erfahrungen. Und sie begleiten uns durch das Leben – durch jedes Leben. Psychoanalytisch gesprochen: Diese inneren Gestalten sind nicht das Resultat von Verdrängung, Resultat von konflikthaften Erfahrungen, die wir nicht im Bewusstsein halten können oder wollen und die wir daher in den Untergrund der „Illegalität“ abschieben, also verdrängen. Diese Ur-Gestalten wurden nie verdrängt, sie waren immer schon da – und zwar unten, am Urgrund, im Unbewussten. Anders gesagt: Sie waren nie im Bewusstsein.

Wenn wir aber in unserem besonderen Leben auf eine Situation treffen, welche der Grundnatur einer dieser Urgestalten entsprechen, dann regt sich dieser Archetyp in uns. Und oft werden wir dann von gewaltigen Kräften ergriffen. Es fühlt sich dann vielleicht so an, als ob wir mit unserem Willen dagegen ziemlich machtlos wären, irgendetwas, was wir nicht genau verstehen, kommt über uns, ergreift uns und beeinflusst unser Handeln. Wir erfahren dann starke innere Kräfte.        
Meine Vermutung ist, aber es ist wirklich nicht mehr als eine Vermutung, dass diese Kräfte deshalb so stark wirken, weil in den Momenten, wo mir mit einem Archetyp deutlich zu tun bekommen, wir hier etwas kollektiv menschliches ausagieren, nicht nur etwas individuelles. Im Archetyp steckt die gesamte Energie der Gattung Mensch.

Die Beobachtung, dass es im Unbewussten Bereiche gibt, die nicht rein individuelle Erfahrungen sind, sondern Erfahrungen der ganzen Menschheit, der ganzen Gattung, geht zumindest in der westlichen Moderne auf Carl Gustav Jung zurück. Er nannte diesen Bereich das kollektive Unbewusste. Und auf ihn geht auch die Bezeichnung „Archetypen“ zurück, welche er für die Ur-Gestalten wählte, die man in diesen kollektiven Bereichen des Unbewussten antreffen kann. Der Begriff kommt aus dem Altgriechischen. Hier meint „arche“ so etwas wie Ursprung. Und als Wortteil in einem zusammengesetzten Wort meint es dann so etwas wie „ur-“ oder „haupt-“. Und „typos“ leitet sich ab vom Verb „typein“, welches Schlagen bedeutet. In der Zusammensetzung bedeutet „typos“ dann so etwas wie eine Grundprägung oder eine Urform, so wie eben z.B. bei der Prägung einer Münze das Bild in das Metallstück hineingeschlagen wird. Man könnte „Archetyp“ also als Urform oder Grundgestalt oder auch Grundcharakter übersetzen.

Die Archetypen als etwas Überpersönliches

Ich hatte in diesem Blog kürzlich bereits in insgesamt vier Beiträgen in den Monaten Juli bis Oktober 2024 verschiedene Dinge angeführt[1], die man manchmal in einer Aufstellung über eine Stellvertreterperson sprechen lässt, obwohl es sich nicht wirklich um konkrete Personen handelt. Dies kann ein Land oder eine Region als Heimat sein, eine Krankheit oder ein Symptom, oder auch ein Haus oder einen Betrieb oder mitunter auch so etwas wie Gott, aber in manchen Aufstellungsformen auch Ziele oder Entscheidungsalternativen. Hier haben wir dann unpersönliche oder überpersönliche Positionen / Akteure in der Aufstellung.

Die Archetypen sind auch etwas Überpersönliches, weil es sich ja um Charaktere aus dem kollektiven Unbewussten handelt. Und manchmal erweist es sich als hilfreich oder gar notwendig, bei einem bestimmten Anliegen in einer Aufstellung auch einen Archetyp aufzustellen, der besonders mit dem Thema zu tun hat. Ich mache dies meist so, dass dieser Archetyp – also sein Steilvertreter – auf einen Stuhl gestellt wird. Damit wir zum Ausdruck gebracht, dass der Archetyp groß ist, viel größer als jeder Mensch. Man kann auf diese Weise in einer Aufstellung einem Archetyp begegnen, ihn kennen lernen, etwas darüber erfahren, wie er in meinem Leben wirkt, was er von mir will.

Die Archetypen als kollektive Gestalten gibt es in jedem von uns, und zwar alle. In diesen Kelleretagen hat jeder Archetyp einen Raum in jeder Seele. Allerdings in höchst unterschiedlichen Gewichtungen. Nicht jeder Archetyp ist in jedem Leben wichtig oder zentral. Meist sind das nur wenige oder auch nur einer, der wirklich bedeutsam ist. Die anderen gibt es auch in mir als Grundformen von seelischen Regungen, aber sie drücken sich vielleicht nur in Kleinigkeiten aus und werden kaum bemerkt. Auch kann es sich in unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedlich darstellen, ein Archetyp, der in einer bestimmten Lebensphase sehr dominant präsent war, verliert im älter werden an Bedeutung. Dagegen können sich in späteren Lebensabschnitten dann vielleicht andere Archetypen deutlich vernehmbar bemerkbar machen, die bislang kaum eine Rolle gespielt haben.

Als Analogie kann man sich dies vorstellen wie bei einem Theaterstück. Da gibt es Hauptrollen, welche durchgängig im Zentrum der Bühne und im Fokus der Scheinwerfer stehen. Und es gibt Nebenrollen, die vielleicht nur in einer Szene überhaupt auftreten und dort womöglich auch nur einen Satz haben. Und es gibt noch Statisten / Komparsen, die einfach nur anwesend sind im Hintergrund ohne eigenen Text. Und so ist es auch mit den Archetypen im Stück deines Lebens. Nur wenige sind Hauptdarsteller, die Mehrzahl wirkt unauffällig im Hintergrund. Aber je nach Akt des Dramas kann sich die Betonung ändern, es kann sein, dass eine Person / Rolle in den Vordergrund der Bühne und damit der Aufmerksamkeit gerät – aber eben nur in diesem einen von fünf Akten.

Wie gesagt: Im nächsten Jahr (2025) soll jeweils einer der monatlichen Beiträge in diesem Blog einem bestimmten Archetyp gewidmet sein. Wir werden uns jeweils einen konkreten Archetyp vor Augen führen. Ich werde diesen einen Archetyp jeweils in seinem Grundcharakter und seinem Wirken in unserer Seele ein wenig beschreiben. Eigentlich sollte ich hier besser sagen: Ich werde das versuchen, wohl wissend, dass meine Beschreibung vermutlich immer hinken wird und mit Sicherheit immer unvollständig bleibt. Allerdings hege ich die Hoffnung, dass die Beschreibungen für die Leserinnen und Leser ein Fingerzeig sein mögen. Wenn die Beschreibung in dir, liebe Leserin und lieber Leser, Assoziationen auslöst und Anlass bietet, dich mit dieser inneren Gestalt und ihrem Wirken in dir ein wenig zu beschäftigen, dann wäre das Ziel des jeweiligen Textes erreicht.

Widmung

Ich widme diesen Beitrag und auch die kommen zwölf Beiträge meinem großen Lehrer Peter Orban, der kürzlich verstorben ist. Alles Wesentliche, was ich über die Archetypen meine verstanden zu haben, habe ich von ihm.

Wenn ich versuche, mein gegenwärtiges Verständnis eines Archetyps in Worte zu kleiden, geschieht dies in dankbarer Erinnerung an das Wirken von Peter Orban, auch wenn meine Texte nicht an die Beschreibungen von Peter Organ heranreichen werden. Es soll eine Würdigung sein.


[1] Das Land als Heimat (Juli 2024)          
Krankheiten und Symptome (August 2024)         
Häuser, Wohnungen, Betriebe und Ähnliches (September 2024)   
Was sonst noch seelische Bedeutung haben kann (Oktober 2024)

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