Über das Seelische (I): Die Beseelung als Lebendigkeit

Gibt es eine Seele? Hat schon einmal jemand eine Seele gesehen oder gar vermessen. Kann man überhaupt über die Seele oder das Seelische, wenn es so etwas gibt, etwas sagen? Drei Fragen.

Die erste Frage werden die meisten Menschen bejahen wollen. Wenn man jemanden fragen würde, ob er oder sie eine Seele habe oder ein beseeltes Wesen sei, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass diese Annahme bestätigt würde. Manche Menschen allerdings würden die Existenz einer Seele bestreiten. Es gibt auch manchmal die Ansicht, dass Alles als seelisch erlebte nur der subjektive Widerschein von Mustern neuronaler Aktivität ist, die sich naturgesetzmäßig entwickeln. Und diese Naturgesetze und naturgesetzlichen Prozesse in den Nervenzellen sei das einzig Reale, das empfundene subjektive Erleben dagegen eine Illusion.

Zur zweiten Frage gibt es einen recht bekannten Witz von einem Chirurgen, der gesagt haben soll, er habe schon Tausende von menschlichen Körpern aufgeschnitten, dabei alles mögliche zu sehen bekommen, aber noch nie so etwas wie eine Seele.

Dies bringt uns gleich zur dritten Frage: Wenn die Seele also nicht sichtbar und nicht naturwissenschaftlich beziffert werden kann, wie kann man dann über darüber sprechen? Wie fassen wir etwas mit sprachlichen Mitteln, dass nicht zu sehen und zu greifen ist, von dem wir aber ahnen oder spüren, dass es vorhanden ist?

Nun, tatsächlich könnte man zur letzten Frage sagen: Eigentlich kann man über die Seele nichts sagen. Zumindest nichts was definitiv wäre, was unstrittig wäre und was gleichzeitig die Seele und ihr Wirken umfassend beschreibt. Die Seele in ihrer Gänze entzieht sich einer solchen Beschreibung. Allerdings zeigt sich die Seele und die Wirksamkeit von seelischen Bewegungen immer wieder, allerdings immer nur teilweise, als kleinen Zipfel, den wir erhaschen, als Fragment dessen, was wir als das Seelische zu fassen bekommen möchten. Die Seele in Gänze zu fassen zu bekommen, dieses Vorhaben ist wohl zum Scheitern verurteilt. Mir scheint: Dazu sind wir als Menschen zu klein und sie ist dafür zu groß.

Allerdings können wir uns ihr annähern. Wir können sie sprachlich umkreisen. Wir können auf einige Zipfel in der Wirkung der Seele mit Sprache hinweisen. Unser Verständnis der Seele wird dabei unvollständig bleiben (müssen) und vielleicht scheitern, aber die Hoffnung bleibt, es könnte ein Scheitern nach vorne oder nach oben sein.

In diesem Blogbeitrag und in weiteren in den folgenden Monaten will ich den Versuch unternehmen, zumindest einige dieser Zipfel, die wir manchmal erhaschen können, zu beschreiben.

Die Seele als das Prinzip des Lebendigen im Körper

Wenn wir unseren Körper betrachten, so ist er lebendig bis wir sterben. Was heißt das? Im Körper finden eine unermessliche Vielzahl von Prozessen statt, die Organe sind in ihrer Funktion aufeinander abgestimmt und greifen ineinander, um das Leben aufrecht zu erhalten. Innerhalb der Organe leisten eine Vielzahl von Zellen dasselbe, innerhalb der Zellen eine Vielzahl von Organellen und Zellfunktionen ebenso. Die einzelnen Zellen erneuern sich ständig, Zellen sterben ab und werden durch neue ersetzt, manche Zellen erneuern sich ständig in wenigen Tagen, andere innerhalb von Monaten oder Jahren. Und trotz des beständigen Austausches von Zellen, bei dem in uns nach spätestens sieben Jahren keine Zelle mehr identisch ist, bleiben wir derselbe Mensch. Bis wir sterben. Dann erlischt die Organisation des lebendigen Prozesses. Das Fleisch zersetzt sich, löst sich auf, bis irgendwann vom Körper buchstäblich nichts, aber auch gar nichts mehr übrig ist.

Wir könnten also sagen, dass die Seele das Organisationsprinzip des Lebendigen ist. Was lebendig ist, ist beseelt. Und am Umschlagspunkt, wenn das Leben den Körper verlässt und die Organisation des lebendigen Körpers zum Erliegen kommt, dann sagen wir, dass die Seele den Körper verlassen hat. Ab diesem Punkt gibt es im Körper nur noch Zerfall. Mit der Seele ist das Leben gewichen.

Aber nicht nur im Körper des einzelnen Menschen dient die Seele offenbar dem Lebendigen. Sie dient auch dem Fortbestand des Lebendigen über die einzelnen Körper hinaus. Das Leben setzt sich fort in unseren Kindern. Und die Liebe in der Paarbeziehung, die Sexualität, die Liebe und Fürsorge der Eltern für die Kinder sind offensichtlich Prozesse mit seelischer Beteiligung, die für den Fortbestand des Lebens verantwortlich sind.

Die Seele im Gegensatz zum maschinellen Automatismus

Im Film „Modern Times“ mit Charlie Chaplin von 1936 gibt es eine recht bekannte Szene, die „Factory Szene“, die Fabrik-Szene (4:09 Minuten):

Was wird hier gezeigt? Wir sehen, wie ein lebendiger Mensch zur Maschine wird, zu einem Anhängsel einer großen Maschinerie, bis er selber buchstäblich in die Maschine hineingesogen wird. Wie passiert dies? Es passiert dadurch, dass er sich in seiner lebendigen Körperlichkeit vorher selber zur Maschine gemacht hat, sich zur Maschine hat machen müssen. Die Arbeitsbewegungen des Körpers selber sind maschinell geworden.
Man kann beim Ansehen der Szene direkt sehen, wie der Körper im mechanischen Vollzug „seelenlos“ geworden ist. Das trifft es nicht ganz, „seelenarm“ trifft es wohl besser. Man kann förmlich sehen, wie die Seele in diesen monotonen körperlichen Verrichtungen sich – gelangweilt – schlafen legt. In diesem Sinn ist der Film in seiner Zeit verstanden worden: Als bildhafte Anklage gegen eine seelenlose, besser seelenverarmte Arbeitswelt. Und in dieser Botschaft wirkt er auch heute noch.

Aber wir sehen auch, wie sich die Seele wehrt (ab 1:20 Minuten), wiederständig wird, wie sie sozusagen „hinterrücks“ wieder in den Körper einzieht und am Bewusstsein vorbei die Kontrolle über den Körper übernimmt. Dies erscheint von außen betrachtet als Verrücktheit, was es im Wortsinne auch ist. Irgendetwas in unserem Protagonisten ist an eine andere Stelle gerückt. Im Film wird daraus Komik generiert.

Die lebendige Seele in uns wirkt also im Gegensatz zum Maschinenhaften in uns, im Gegensatz zu unseren Automatismen. Auch dies ist ein Aspekt des Lebendigen, im Vergleich erscheint die monotone Routine tot, unlebendig.

Die Seele im Gegensatz zu „toten“ Gedanken und Ideen

Und noch in etwas anderem erscheint uns das Seelische als Prinzip des Lebendigen und damit im Gegensatz zu etwas Erstarrtem, Geronnenem, Unlebendigem und Toten: In der Welt der Ideen, gedanklichen Konzepte und Ideologien. Ein gedankliches Konzept oder eine Ideologie selber ist in sich erst einmal etwas Totes. Sie finden ihren Ausdruck (im Wortsinne!) im gedruckten oder auch im gesprochenen Wort, aber sie leben nicht.

Um zu leben, müssen sich Ideen lebendiger Körper bemächtigen. Und das geht nur über die Seele. Eine Idee, die einen Menschen oder auch sehr viele Menschen erfasst und sie beseelt, kann diese Menschen dann in Bewegung bringen, in Aktivität, in körperlichen Vollzug und oft genug in den Kampf. So können Ideen sehr wirkmächtig werden, aber nur wenn sie über die Seele lebendige Körper ergreifen und steuern. Für sich alleine ist eine Idee impotent. Dieser Prozess der „Begeisterung“ (eine „Geist“, eine Idee senkt, sich in den Körper und beseelt ihn) geht nicht ohne Seele. Die Resultate dieser Begeisterung mögen „gut“ oder fortschrittlich oder auch fatal und zerstörerisch in ihrem politischen oder religiösen Fanatismus sein, sie sind in jedem Fall ein seelischer Prozess.

Was passiert aber, wenn Ideen oder Ideologien ihre Macht verlieren, nicht mehr auf lebendige Resonanz in lebendigen Menschen stoßen? Sie sterben. Sie werden wieder zu dem, was sie waren, bevor sie die Be-Geist-erung lebendiger Menschen erfasste: Tot. Tote Worte.

Auch die Ausflüsse von Ideologien in Form von Regeln erscheinen dann als seelenlos, sinnlos, wenn diese Ideologien sich überlebt haben und „aus der Zeit“ gefallen sind. Die Seele reibt sich dann an diesen Regeln, sie werden nur noch als sinnfreie Einschränkung des Lebendigen und der seelischen Impulse erlebt.

Dies wäre also eine erste Antwort auf die Natur des Seelischen: Es ist das Prinzip des Lebendigen, das organisierende Prinzip der Materie im Körper, der Gegensatz sowohl zu starren Abläufen und Automatismen wie auch zu überlebten Ideen und Regeln.

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Wie bereits erwähnt ist dies der erste Teil einer kleinen Folge von Beiträgen, die sich in den nächsten Monaten mit dem Seelischen und seinen Eigenheiten beschäftigen werden.
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