Überpersönliche Gestalten in einer Aufstellung: Das Land als Heimat

Mitunter erweist es sich in einer Aufstellung als notwendig für ein bestimmtes Thema, nicht nur Stellvertreter für die Person selbst und z.B. wichtige Mitglieder der Herkunftsfamilie aufzustellen, sondern in die Aufstellung auch als Position etwas einzuführen, was überpersönlich ist. Dies kann etwa das Herkunftsland sein, wenn jemand oder seine Familie das Herkunftsland und dessen Kultur verlassen hat und in ein anderes Land und eine andere Kultur migriert ist.

Wenn wir solch eine Position in einer Aufstellung haben, spreche ich von „Gestalten“, um damit auszudrücken, dass es sich hier nicht um konkrete Personen handelt, sondern um etwas Überpersönliches oder etwas Kollektives.    
In einer Aufstellung geht es ja um Bewegungen der Seele und in unserer Seele – in jedem Menschen – hausen eben auch Gestalten und damit verbundene seelische Kräfte, die nicht oder nicht nur mit konkreten Personen aus meiner Herkunftsfamilie verbunden sind, sondern die einen übergreifenden Charakter aufweisen.

In diesem Beitrag will ich mich damit beschäftigen, in welcher Weise Länder in einer Aufstellung eine Rolle spielen (können). Andere solche überpersönlichen Gestaltungen in der Seele können die sogenannten „Archetypen“ sein. Dies sind mythologische Figuren, die wir aus Märchen, Sagen und Göttervorstellungen kennen und die im kollektiven Unbewussten von Menschen verankert sind. Ebenfalls unpersönlich bzw. überpersönlich kann man manchmal auch eine Krankheit als Position in eine Aufstellung einführen, oder auch ein Unternehmen oder eine Ideologie oder dergleichen, wenn es seelische Bedeutsamkeit hat und für das Anliegen, welches in der Aufstellung bearbeitet wird, wichtig ist.

Hier soll es aber – wie gesagt – um Länder gehen. Und dies muss ein wenig erläutert werden, weil hier Missverständnisse möglich sind, durch welche dann mit einem Mal alles falsch wird. Hier wäre zuallererst auf den Unterschied zwischen Land und Staat einzugehen.

Land und Staat

In einer Aufstellung interessiert uns die Wirkung, die ein Land auf meine Seele hat. Und hier müssen wir, nach dem Eindruck, den ich bislang in Aufstellungen gewonnen habe, zwischen Land und Staat unterscheiden. Ein Staat ist im Kern ein verwaltungstechnisches Konstrukt, welches bestimmt, welchen gesetzlichen Bestimmungen ich unterliege und welche Steuern ich an welche Institution zu zahlen habe, wenn ich in diesem Staat wohne. Ein Staat hat aber keine Seele und damit keine seelische Qualität in der Wirkung auf seine Einwohner. Anders sieht es mit einem Land aus, wenn wir damit das Lebensgebiet einer Bevölkerung meinen, die durch eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Kultur, gemeinsame Bräuche und vielleicht auch gemeinsame Geschichten und Mythologien verbunden ist. Dies hat eine seelische Qualität und somit auch seelische Auswirkungen, die wir vor allem damit verbinden, was wir unsere Heimat nennen.

Die seelische Wirkung von einem Land als Heimat ist natürlich auch über meine Familie vermittelt. Hier wäre vor allem die Muttersprache zu nennen, die wir erlernen in der frühen Kindheit. Allein das Wort „Muttersprache“ verweist ja sehr deutlich auf die Mutter, also auf einen Elternteil. In einem weiteren Sinn kann man vielleicht auch sagen, wo meine Heimat ist, wird dadurch bestimmt, wo die Gebeine meiner Vorfahren in der Erde liegen. So hat es zumindest Bert Hellinger einmal ausgedrückt. In der Familienaufstellung geht es bei den Vorfahren ja immer um meine Wurzeln, und die Gegend auf diesem Globus, wo die Vorfahren beerdigt sind, verwurzelt uns somit seelisch mit dieser Gegend, diesem Landstrich und den dortigen Sitten und Gebräuchen.

Auch hier sieht man – wie ich finde – den Unterschied zu einem Staat. Ein bestimmtes Land mit seinem Volk und seiner Kultur kann im Rahmen von geschichtlichen Prozessen zum Beispiel von einem anderen Staat erobert und in das Staatsgebiet eingegliedert werden. In der Seele bleibt das Land aber über Sprache und Kultur präsent. Um ein Beispiel zu nennen: Durch die historischen Teilungen hat es Polen in verschiedenen Phasen der Geschichte als Staat nicht gegeben, das Gebiet und seine Bevölkerung wurden staatlich z.B. zwischen Preußen, Russland und Österreich aufgeteilt. Trotzdem lebte das polnische Volk und sein Sprache und Kultur natürlich weiter. Und dieser Aspekt ist der seelisch relevante, Politik, Verwaltung und Staatsgrenzen interessieren die Seele nicht. (Obwohl sie natürlich praktisch im Alltagsleben große Auswirkungen haben können.)

Die Wirkungsweise von Ländern in der Seele

In einer Aufstellung behandeln wir Länder – im Sinne eines Sprach- und Kulturraumes – wie Personen. Das bedeutet, für die Aufstellung wird eine Stellvertreterperson ausgewählt, in der Aufstellung platziert und nach ihren Emotionen, ihrem Befinden und ihren Beziehungen zu anderen Positionen der Aufstellung befragt. Allerdings handhabe ich es meist so, dass ich Länder bzw. die Stellvertreter für Länder in einer Aufstellung auf einen Stuhl stelle. Da es sich hier um etwas handelt, was kollektiv ist, ist diese Gestalt in einer Aufstellung größer als jede einzelne Person und dies kann man eben dadurch adressieren, dass die Stellvertreterperson auf einem Stuhl steht.

Was sich in Aufstellungen zeigt ist, dass Länder gegenüber den ihnen zugehörigen Personen oft wie Eltern gegenüber ihren Kindern empfinden. Noch genauer: Eigentlich wie eine Mutter gegenüber ihren Kindern, weshalb meinem Eindruck nach Länder in einer Aufstellung auch eine deutlich weibliche Qualität haben.

Und was möchte eine Mutter normalerweise für Ihre Kinder? Sie möchte, dass es Ihnen gut geht, dass sie sich entwickeln können, dass sie ein erfülltes Leben haben. Ein Land leidet, wenn es der Bevölkerung – aus welchem Grund auch immer – nicht gut geht. In vielen Fällen – allerdings nicht immer – ist ein Land auch traurig, wenn seine Kinder, die Landeskinder, das Land verlassen oder verlassen müssen. Aber diese Trauer ähnelt eher dem manchmal durchaus etwas wehmütigen Abschiedsschmerz, den Eltern empfinden mögen, wenn ein Kind das Elternhaus verlässt um in die Eigenständigkeit des eigenen Lebens aufzubrechen. Und Länder erfreuen sich daran, wenn es den Landeskindern im fremden Land gut geht. Es erscheint mir manchmal so, als ob das Land sagen würde: „Durch dein Dasein und dein Wirken im fremden Land: Künde dort von mir!“. (Aber vielleicht ist das auch nur eine Vorstellung oder ein Phantasie, welche ich an den Prozess herantrage, ich bin mir da nicht ganz sicher.)

Was ich aber häufiger schon erlebt habe: Es ist einem Land sehr recht, wenn die Landeskinder, auch wenn sie ihr ganzes Leben oder einen großen Teil ihres Lebens in der Fremde verbracht haben, nach dem Ableben in der Erde dieses Landes beerdigt werden.

Das Kind mit Eltern aus zwei unterschiedlichen Kulturen

Nun gibt es natürlich auch oft die Situation, dass sich zwei Menschen mit unterschiedlichen Heimatländern zusammen tun und gemeinsam ein Kind (oder auch mehrere Kinder) haben. Wie verhält es sich hier? Hier habe ich es mehrfach erlebt, dass es sich gut auswirkt für diese Kinder, wenn sie auf die beiden Heimatländer der Eltern schauen und zu jedem Heimatland sagen können: „Ich bin eines deiner Kinder. Und ich gehöre aber auch – gleichzeitig – zu jenem anderen Land.“

In diesem Fall ist es auch nicht ganz unwichtig, wie die Beziehung der beiden Länder untereinander sich gestaltet. Ich habe da auch schon gewisse Eifersüchteleien zweier Länder erlebt bei der Frage, zu wem denn nun dieses Menschenkind „eigentlich“ oder zumindest stärker gehört.

Variation des Themas: Das Gebiet

Im Rahmen von Aufstellungen in den letzten knapp 25 Jahren habe ich aber noch ein anderes Phänomen beobachten können, das ähnlich wie ein Land / Volk / Kulturraum reagiert, aber ohne Bezug auf ein konkretes Volk bzw. eine konkrete Kultur.

Manchmal verhalten sich besondere Gebiete oder Regionen, etwas was man in einem Nationalstaat vielleicht als Provinz bezeichnen könnte, zu ihren Bewohnern und den Menschen, die dort geboren werden und aufwachsen wie Länder zu ihren Landeskindern.

Ein prägnantes Beispiel, dass ich bereits häufiger in Aufstellungen erleben durfte, wäre Schlesien. Diese Gegend fungiert öfter für Menschen als Heimat (im Sinne von: wo meine Vorfahren lebten und begraben sind) unabhängig von Sprache, Kultur und Nationalität. Oder besser gesagt: Übergreifend über Sprache, Kultur und Nationalität. Ich habe das schon bei hier in Deutschland lebenden Polen erlebt, wo sich als wirksamer Bezugspunkt in Bezug auf Heimat eben nicht „Polen“, sondern „Schlesien“ ergab. Und ganz ähnlich bei Deutschen, deren Vorfahren in Schlesien lebten und welche vielleicht geflüchtet sind oder vertrieben wurden.

Hier scheint es so, als ob die Gestalt Schlesien auch Landeskinder hat und sie ist diesen ihren Landeskindern gleichermaßen zugewandt, völlig unabhängig davon, ob die Sprache und Kultur dieser Landeskinder polnisch, deutsch oder auch böhmisch, tschechisch oder was auch immer sein mag. Die Zugehörigkeit dieses Gebietes Schlesien zu Staaten oder (König)Reichen war ja in der Geschichte höchst wechselhaft, mal gehörte das Gebiet zu Böhmen, mal zu Preußen, mal zur österreichischen K&K-Monarchie, mal zu Polen und mitunter in unterschiedlichen Aufteilungen zu Mehrerem gleichzeitig.

Vielleicht, aber das ist nur eine Vermutung, bildet sich eine solche eigenständige Identität einer Region, eigenständig gegenüber Ländern als Sprach- und Kulturräumen und dann eben auch eigenständig in der seelischen Wirksamkeit, besonders dann heraus, wenn diese Region für lange Zeit umkämpft und umstritten war und diese Region dann auch von unterschiedlichsten Volksgruppen besiedelt wurde?

Variation des Themas: Der Bauernhof

Ich habe es auch einmal in einer Aufstellung erlebt, dass das Land eine zentrale Rolle für die Aufstellung spielte, aber in einer sehr viel kleineren Einheit, was das Land anging. In dem Fall ging es nämlich um einen Bauernhof und das zugehörige zu bewirtschaftende Land. Der Mann, für den wir die Aufstellung gemacht haben, stammte aus einer Bauernfamilie und das Land, welches sein Vater als Landwirt bewirtschaftet, war schon seit Generationen im Familienbesitz. Eigentlich wäre dieser Mann als Nachfolger seines Vaters vorgesehen gewesen, also dass er den Hof erbt und den bäuerlichen Betrieb weiterführt.

Er hat sich dann aber dagegen entschieden und stattdessen das Dorf und den Bauernhof verlassen, um in einer Großstadt zu studieren. Hier hat er auch sehr erfolgreich einen sehr guten Abschluss gemacht, hatte allerdings danach die schwer erklärliche Situation, dass er trotz bester Qualifikation beruflich nie wirklich erfolgreich sein konnte in seinem Beruf.

In der Aufstellung hatten wir dann irgendwann einen Stellvertreter für den Bauernhof und das damit verbundene Land eingeführt in die Aufstellung. Und es ergab sich die Lösung dadurch, dass der junge Mann den Hof intensiv anschaute und ihm in etwa sagte: „Ich bin bei dir auf die Welt gekommen und groß geworden. Du hast viele meiner Vorfahren mit einem Einkommen und einem Lebenssinn versorgt. Dafür danke ich dir! Es fällt mir auch nicht leicht, mich von dir zu lösen, aber mein Lebensweg ist ein anderer. Mich ruft beruflich etwas Anderes.“ Der Hof war sehr traurig und äußerte etwas in der Art: „Ich wäre gerne weiter mit deiner Familie verbunden geblieben, mit dir in der nächsten Generation und vielleicht auch darüber hinaus mit einem Sohn von dir.“ Der entscheidende Schritt war dann, als der junge Mann den Hof bat: „Bitte segne mich, wenn ich in einem anderen Beruf erfolgreich werde!“ und der Hof diesen Segen, durchaus mit schwerem Herzen aber trotzdem von Herzen erteilte.

Hier wirkte auch das Land und die Heimat (und auch die Familientradition) deutlich in die Seele dieses Mannes hinein. Allerdings nicht in der größeren Form als Land und Heimat eines ganzen Volkes, sondern in der kleineren Form als Hof und Land und Heimat einer Familie.