Die Verstrickung über Erwartungen

Manchmal bleiben wir mit wichtigen Personen in unserem Leben, wie z.B. Eltern oder anderen wichtigen Personen, auf eine ungünstige Weise verbunden. Gemeint ist diejenige Art von Verbundenheit, die wir bei Familienaufstellungen auch als „Verstrickung“ bezeichnen. Dabei werden aus dem Feld des Familiensystems über eine unbewusste Identifizierung fremde Gefühle übernommen oder auch fremde Schicksale, Verhaltensweisen, Konflikte oder gar Erkrankungen. Gemeint ist hier also nicht die gesunde Bindung an andere Menschen oder das Herkunftssystem. Die gesunde Bindung ist lebensfördernd, sie dient dem Fluss der ursprünglichen Liebe und macht frei für Neues und für eigenständiges, mir gemäßes Handeln. Die ungünstige Bindung als Verstrickung macht dagegen unfrei, sie blockiert den natürlichen Lebensfluss und hält uns in ungünstigen Mustern im Verhalten fest.

Spezifisch geht es in diesem Beitrag um Erwartungen an wichtige Personen in unserem Leben, an denen wir festhalten, ohne es oft wirklich zu merken. Und noch genauer geht es um Erwartungen, bei denen wir aus Erfahrung wissen, dass sie von der fraglichen Person nicht erfüllt werden. Zusätzlich ist es meist auch so, dass die Erfüllung dieser Erwartungen in der Vergangenheit, also etwa in der Kindheit oder Jugend, sinnvoll und notwendig gewesen wäre, die Erfüllung der Erwartungen also schmerzlich vermisst wurde, aber in meinem Jetzt als erwachsene Person vielleicht gar nicht mehr angemessen wäre.

Die nicht perfekten Eltern und die seelischen Wunden der Kinder

Am deutlichsten wird dies in der Beziehung zu unseren Eltern. Das kleine Kind kommt sehr abhängig und bedürftig auf die Welt. Es ist auf Fürsorge und die liebevolle Zuwendung durch die Eltern angewiesen. Im Idealfall wird ein als Kind als Neugeborenes voller Freude willkommen geheißen und die wichtigen Bezugspersonen sind willens und in der Lage, diesen neuen Erdenbürger – den Nachwuchsmensch im Trainee-Programm, welches wir Kindheit und Jugend nennen – in all seinen Besonderheiten nicht nur zu sehen, sondern auch in der Entwicklung der ganz einzigartigen Anlagen zu fördern. Aber: Dies beschreibt eben ein Ideal. Und kein Ideal ist im Leben tatsächlich ohne Abstriche verwirklichbar. Eltern sind nicht perfekt[1], sie sind Menschen und somit fehlbar.

Das Kind erlebt also im Laufe des Heranreifens ein gewisses Ausmaß an Enttäuschungen von Erwartungen. Und ich meine hier jetzt nicht beliebige selbstsüchtige Ansprüche, sondern ich meine die Erwartungen, die wir alleine durch unsere Biologie mitbringen. Wir sind als Menschen – auch – Säugetiere, und zwar Säugetiere mit einer besonders langen Adoleszenz. Und hier gibt es von Anfang an ein Gefühl dafür, was man als komplexes Lebewesen benötigt, um sich gedeihlich zu entwickeln. Das Gefühl für stimmige Entwicklungsbedingungen ist von Anfang an vorhanden, auch wenn es erst sehr spät in der Entwicklung, wenn überhaupt, sprachlich ausgedrückt werden kann. Und das Gefühl äußert sich, wenn etwas fehlt, etwas vermisst wird.

Nun sind diese Enttäuschungen von Erwartungen wie gesagt gar nicht zu vermeiden. Es ist eine Frage des Ausmaßes. Ein gewisses Ausmaß an nicht erfüllten Erwartungen ist vermutlich sogar notwendig und im Effekt entwicklungsförderlich. Allerdings: Wenn es an wichtigen Voraussetzungen für eine gedeihliche Entwicklung in einem bedeutsamen Ausmaß und dauerhaft fehlt, dann entstehen so etwas wie „seelische Urwunden“. In einem therapeutischen Kontext kann man auch von Traumata sprechen, und zwar in Form von Entwicklungstraumata (im Gegensatz zum Schocktrauma).     
Ich bin den verschiedenen Formen von solchen seelischen Urwunden hier im Blog in einer 9-teiligen Artikelserie zwischen August 2023 und April 2024 ausführlich nachgegangen[2]. Hier geht es mir um etwas Anderes.

Die unterschwellige Bindung an das noch Offene und Unerledigte

Es gibt in unserer Psyche einen Mechanismus, der dafür sorgt, das noch offene Fragen oder auch unabgeschlossene Handlungen unterschwellig weiter verfolgt werden. Wenn ich eine Handlung begonnen, aber noch nicht abgeschlossen habe, wird ein Teil meiner geistigen Kapazität dafür verwendet, die Erinnerung daran, dass hier noch etwas zu tun ist, unterschwellig am Leben zu halten. Wenn wir ein Gespräch oder eine Veranstaltung mit einer für uns interessanten offenen Frage verlassen, dann arbeitet unser Geist im Unbewussten, manchmal sogar leicht merkbar im Randbewussten, an der Beantwortung dieser Frage, auch wenn wir uns mit dem normalen Tagesbewusstsein mit ganz anderen Dingen beschäftigen. Auch bei Lebensplänen oder sog. „Lebensskripten“ ist es oft so: Wenn ich den Weg zu einem größeren Lebensziel eine bestimmte Wegstrecke gegangen bin und dann diesen Weg durch bestimmte Umstände unterbrechen musste, dann bleibt in meinem Geist immer latent die Tatsache präsent, dass hier noch etwas unerledigt und nicht abgeschlossen ist. Und diese gedankliche Präsenz des Unabgeschlossenen hat einen großen Aufforderungscharakter.

Ähnlich ist es auch mit wichtigen Gefühlen und Emotionen, die auf etwas Fehlendes und Unabgeschlossenes verweisen und eben auch mit den Dingen, die bei uns in der Kindheit und Jugend gefehlt haben und die wir schmerzlich vermisst haben. Diese Dinge entfalten in unserem Innenleben und im seelischen Raum eine Bindung – die uns aber nicht immer gut tut. Ich möchte fast sagen, das was uns früher im Leben intensiv gefehlt hat, was also eine Art seelische Wunde damals war, entwickelt einen „klebrigen“ Charakter. Und das tut uns oft nicht gut, schränkt uns ein oder blockiert uns. Ein Teil unseres Potentials, was wir jetzt vollbringen könnten im Leben, ist gebunden an das, was früher gefehlt hat und steht nicht zur vollen Nutzung zur Verfügung.

Die unausgesprochenen Erwartungen

Natürlich sind hier die Eltern besonders wichtig für diejenigen Formen der Aufmerksamkeit, Anerkennung, Unterstützung usw., deren wir damals in unserem jüngeren Selbst so dringend bedurft hätten, die wir aber von unseren Eltern damals eben nicht erhalten haben. Warum auch immer das so war, ob die Eltern es gar nicht bemerkt haben, ob sie es gar nicht konnten – das ist einerlei.

Mein Eindruck, auch über viele Beispiel in Familienaufstellungen, ist: Warum wir uns so schwer lösen können von dem, was uns damals gefehlt hat, was wir jetzt aber als Erwachsen nicht mehr von Anderen benötigen, sondern selber erledigen können, hat damit zu tun, dass wir das damals Fehlende immer noch von unseren Eltern erwarten. Dies ist sicherlich oft höchst unbewusst, allenfalls manchmal vielleicht randbewusst, d.h. mit viel Selbstaufmerksamkeit und hinspüren bei mir selber kann ich es als feine Regung bemerken. Es ist dieser Wunsch oder die Erwartung, es möge im Kontakt mit meinen Eltern einmal anders sein, einmal möchten wir es erleben, dass wir das damals Fehlende doch noch, sozusagen nachträglich, von unseren Eltern erhalten. Vielleicht eben eine bestimmte Form der Anerkennung oder das wir in unserem So-Sein, in unserer Besonderheit gesehen und bestätigt werden.

Wie gesagt: Wir sind uns meist dieser Erwartungen an unsere Eltern nicht bewusst. Es ist eine unausgesprochene Erwartung, unausgesprochen auch vor uns selber. Und gerade dieser latente oder unterschwellige Charakter dieser Erwartung hält uns besonders gefangen und verhindert, dass wir uns lösen können von diesem Anspruch. Wenn wir uns den unausgesprochenen Erwartungen bewusst wären, dann würden wir in den meisten Fällen auch sofort erkennen: Es ist nicht zu erwarten, dass ich von meinen Eltern das damals Fehlende doch noch einmal bekomme. Wir wüssten sehr schnell, dazu kennen wir sie lange genug, an genau dieser Stelle haben sie vielleicht einen sog. „blinden Fleck“ oder sind einfach für dieses Bedürfnis nicht wirklich „schwingungsfähig“, so wie sie nun einmal sind mit ihren Eigenheiten und mit dem, wodurch sie geprägt wurden in ihrem Leben. Und wir würden vielleicht auch Bemerken: Jetzt, als erwachsene Person, benötige ich dasjenige, was mir als jüngerem Selbst gefehlt hat, auch eigentlich gar nicht mehr wirklich. So wie ich mit einem bestimmten Spielzeug, dass ich als Kind vielleicht gerne gehabt hätte aber eben nicht hatte, heute nicht mehr so wirklich viel anfangen könnte.

Die lösende Bewegung

Ich habe im Rahmen von Familienaufstellungen festgestellt, dass die in Erwartungen an unsere Eltern gebundene Energie wieder freigesetzt werden kann. Dazu benötigt es eine bestimmte (innere) Bewegung. Wenn ich etwa im Rahmen einer Aufstellung meiner Mutter oder meinem Vater gegenüber stehe, dann schaue ich auf das Elternteil, ich schaue den Vater oder die Mutter an und schaue ihm oder ihr in die Augen. Kurz: Ich schaue hin! Ich schaue nicht (nur) auf mich und mein Defizit.

Und ein wesentlicher Teil der lösenden Bewegung ist dann, dass ich Kontakt aufnehme und deutlich spüre, was ich von meinen Eltern tatsächlich erhalten habe. Und das Wichtigste dabei ist: Von ihnen habe ich das Leben erhalten. Von Ihnen habe ich mein Leben empfangen. Und das ist so fundamental, dass es die Einschränkungen, den Mangel und die Defizite überwiegt. Und dafür kann ich dankbar sein, wie auch immer die sonstigen Umstände gewesen sein mögen.  
Dieser Teil der lösenden Bewegung gehört sozusagen zur Ur-DNA der Familienaufstellungen. Das Leben erhalten zu haben, ist ein großes Geschenk. Auch wenn manches schwer war, oder schlimm war. Wie zentral diese Grundtatsache des Lebens ist, kann man ermessen, wenn man sich die Frage stellt: Wäre es besser, wenn es mich nicht gäbe?

Zur lösenden Bewegung gehört aber meinem Eindruck nach dann aber auch, dasjenige, was damals bedeutsam gefehlt hat, klar zu benennen. Es geht hier um einfache Aussagesätze, nach Möglichkeit ohne Vorwurf, eher als Feststellung. Auch hier: Wir stehen Vater oder Mutter gegenüber, schauen sie an, fassen sie in ihrem gesamten So-Sein ins Auge und sagen: „Damals, als Kind, hat mir xxx von dir sehr gefehlt.“ Oder: „Damals hätte ich mir von dir xxx so sehr gewünscht.“ Und xxx steht natürlich für das, was gefehlt hat und was einmal möglichst klar, aber auch einfach und kurz benannt werden sollte. Und evtl. fügen wir noch an: „Und damals war das schwer für mich“ oder auch „damals war das schlimm für mich“. Wir beziehen uns also auf die Vergangenheit, so wie wir sie erlebt haben. Wie es uns damals als Tochter oder Sohn mit den Eltern ergangen ist.
Dieser Teil ist nach meinem Eindruck in den Familienaufstellungen erst später mit der Entwicklung der Familienaufstellungen üblicher geworden. Aber dieser Schritt in der inneren Bewegung ist genauso wichtig, er ist die Ergänzung zum ersten Schritt, der Dankbarkeit für das Leben. Beides muss sich ergänzen, in einem gewissen Gleichgewicht sein.

Und dann benötigt es noch einen dritten Schritt in der Bewegung, der mir erst kürzlich wirklich klar geworden ist. Wir schauen immer noch auf Vater oder Mutter und sagen: „Damals hätte ich xxx gebraucht. Aber jetzt, wo ich schon einige Zeit erwachsen bin, erwarte ich es nicht mehr von dir.“ Auch hier: Wir sagen das ohne Bitterkeit, sondern gesammelt und als einfache Tatsachenfeststellung. Ich bin jetzt anders, meine Lebenssituation ist jetzt anders. Und wenn wir diesen Satz sagen, spüren wir nach, wie es uns mit dem Satz ergeht. Stimmt er? Können wir uns wirklich vollständig lösen von der Erwartung? Wenn wir es (noch) nicht können, verändern wir den Satz. Vielleicht in die Form: „Aber jetzt, als Erwachsener, bemerke ich, es wäre gut für mich, wenn ich von meiner Erwartung an dich lösen könnte, in dem Ausmaß, wie es für mich gerade möglich ist.“     
Dieser letzte Schritt der Bewegung löst den Anspruch, den ich vielleicht noch habe gegen meine Eltern, vielleicht auch ohne es zu merken. Ich löse mich von dem Anspruch, gehe in meine wahre Größe und Kraft und bleibe handlungsfähig.

Mir scheint, dass diese Bewegung in allen drei Teilen der Bewegung dazu beiträgt, dass die seelischen Wunden von früher jetzt für mich nur noch Narben sind. Ich kann mich erinnern, mit Blick auf die Narbe: Da war mal etwas und damals war es schmerzhaft. Aber jetzt schmerzt es nicht mehr, die seelische Wunde ist ausgeheilt. Es bleibt lediglich: Die Erinnerung … und eben die Narbe.


[1] Nebenbei bemerkt: Gäbe es „perfekte“ Eltern, wäre es durchaus fraglich, ob dies wirklich wünschenswert wäre. Einerseits, weil ein gewisses Ausmaß an Schwierigkeiten, an nicht perfekten Lebensbedingungen überhaupt erst Entwicklung und Reife ermöglicht und uns als Persönlichkeit ein „seelische Gewicht“ verleiht. Im Sport sagt man: Die Charakterbildung erfolgt anhand der Niederlagen, nicht anhand der Siege und Triumphe. Aber auch unabhängig davon: Wären wirklich perfekte Eltern überhaupt auszuhalten für die Kinder? Was für eine Art von Druck würde dies allein über das Lernen am Vorbild in den Kindern erzeugen? Ich vermute, wenn es perfekte Eltern gäbe, wäre dies für die Kinder eine im Wortsinne unmenschliche Situation.

[2] Die Teile der Artikelserie finden sich hier: Teil1, Teil2, Teil3, Teil4, Teil5, Teil6, Teil7, Teil8 und Teil9.

Die Wunden der Ahnen und ihre Heilung

In den letzten Beiträgen habe ich etwas behandelt, was ich die seelischen Urwunden nannte und was man auch als Entwicklungstraumata beschreiben könnte. Diese seelischen Wunden (oder wunden Punkte) entstehen in der individuellen Biografie, besonders infolge von Bedingungen, welche das Aufwachsen geprägt haben.

In diesem Beitrag möchte ich die Betrachtung von seelischen Wunden erweitern auf die Vorfahren, die Ahnen, die Familiensippe – was auch immer man hier als Wortmarke verwenden möchte. Eine der Grunderkenntnisse der Familienaufstellungen von Anfang an war, dass wir alle in unserem Erleben, in unserem grundlegenden Lebensgefühl und in unserem Lebensvollzug beeinflusst sind von Vorgängen und Geschehnissen in unserem Familiensystem. Oft wirken diese Einflüsse einschränkend. Die Einflüsse bestehen unabhängig davon, ob wir etwas von den konkreten Ereignissen wissen oder diejenigen Personen in unserem Ahnensystem, welche diese Ereignisse durchlebt und durchlitten haben, noch selber kennen gelernt haben.

Hier greift ein größeres Informationsfeld, welches die Erlebnisse der Ahnen und hier insbesondere die schweren Schicksale der Vorfahren umfasst, in das seelische Feld der Nachgeborenen hinüber. Oder wir könnten auch sagen, ein größeres, kollektives Feld ergreift (teilweise) Besitz von einem individuellen Feld, das größere Feld wirkt in das kleinere Feld hinein.
Daneben gibt es manchmal auch noch größere Felder, etwa das Feld von ganzen Völkern oder Völkergruppen, insbesondere wenn hier Verfolgung und Völkermord im Spiel ist, welche auf später Geborene teilweise deutlich wirken. In diesem Beitrag soll es aber um das Feld der Ahnen gehen.

Ein Beispiel

Ich habe kürzlich eine Fallgeschichte einer US-amerikanischen Therapeutin gelesen. Diese hatte eine Klientin, welche unter der Wahnvorstellung litt, verhungern zu müssen. Die Klientin war materiell gut situiert, ihr war kognitiv durchaus klar, dass die Gefahr nicht real besteht, aber die entsprechende Angst war trotzdem stark ausgeprägt.

Nachdem eine Reihe von „normalen“ therapeutischen Interventionen keine Besserung nach sich zogen, fragte die Therapeutin nach, wer von den Vorfahren der Klientin mit Hunger konfrontiert war. Es stellte sich heraus, die Klientin war irischer Abstammung, ihre Vorfahren waren im Rahmen der Hungersnot in Irland in den Jahren 1845 bis 1849 zusammen mit Millionen anderer Iren in die USA ausgewandert, der Not gehorchend.

Bei der Besprechung des Schicksals der Vorfahren kam jetzt spürbar etwas in Bewegung bei der Klientin, nach Eindruck der Therapeutin war ein Resonanzpunkt berührt worden.  
Die Therapeutin schlug also der Klientin das Folgende vor: Sie, die Klientin, solle sich einen Abend Zeit nehmen und für diesen Abend verschiedene Speisen vorbereiten, alles was Sie gerne isst. Die Speisen sollten in Vielfalt und Menge einen Überfluss an Nahrungsmitteln deutlich ausdrücken. Dann solle sich die Klientin an den Tisch mit den vielen verschiedenen Speisen in ihrer Fülle setzen und diese Speisen und ihren Überfluss erst einmal auf sich wirken lassen. Sie sollte also die Speisen anschauen und dabei bewusst sich innerlich sagen: Dies alles steht mir zur Verfügung, ich leide keinen Mangel. Und dann sollte die Klientin – und dies scheint mir der entscheidende Teil zu sein – in Gedanken eine Verbindung zu ihren Vorfahren von vor 170 Jahren aufnehmen. Natürlich hat die Klientin diese nicht persönlich gekannt. Aber sie sollte sich die Personen aus ihrer Familiengeschichte, die damals dem Hunger in Irland nur durch Auswandern in die USA entkommen konnten, vor dem geistigen Auge vorstellen. Und dann sollte die Klientin diesen Ahnen den reich mit Speisen im Überfluss gedeckten Tisch zeigen und ihnen sagen: Schaut einmal, so geht es mir jetzt hier. Weil ihr damals eure Heimat verlassen habt, geht es mir heute gut, ich muss nicht hungern.

Das hat die Klientin so gemacht und danach war die wahnhafte Angst, verhungern zu müssen, von ihr abgefallen. Zumindest wird es so berichtet.

Die Heilung der Ahnenlinie

Mich hat dieses Fallbeispiel beeindruckt, nicht nur, weil es recht eindrücklich beschreibt, wie weit zurück die Wirkung der „großen Seele“, der Seele der Ahnen auf die Einzelseele reichen kann. Noch stärker hat mich die Lösung berührt. Es scheint mir so, auch wenn die erwähnte Therapeutin selber es nicht so schreibt und deutet, als ob hier mit der Heilung einer wahnhaften Angst bei einer Nachfahrin auch gleichzeitig die Ahnenlinie mitgeheilt wird.

Das ist vielleicht eine etwas starke Behauptung und auch etwas spekulativ. Aber das Bild, was bei mir vor dem inneren Auge beim Lesen dieser Fallgeschichte entstand, war: Die Geister der Ahnen finden sich am reich gedeckten Tisch der Nachfahrin ein und sie erfahren dabei zwei Dinge: Zum Ersten erfahren sie, dass ihre Not erinnert wird, dass ihr Schicksal noch lebendig ist in den Nachfahren. Zum Zweiten sehen sie aber auch: Es war nicht umsonst. Es ist danach gut weitergegangen. Unser Verlust, der Verlust der Heimat, hat sich gelohnt und er hat segensreich auf nachfolgende Generationen gewirkt. In dem Bild, was vor meinem inneren Auge entstand – und natürlich ist es nur mein inneres Bild, ob es wirklich so war, weiß ich nicht – kamen die Vorfahren dabei zur Ruhe. Irgendetwas wird befriedet im Reich der Geister, im geistigen Feld in diesem Familiensystem.

Meine Heilung heilt die Traumata der Ahnen mit

Tatsächlich würde ich in einem ähnlich gelagerten Fall in einer Familienaufstellung ähnlich vorgehen. Ich würde die Klientin den Blick auf die Ahnen einnehmen lassen, auf ihre Herkunft und auf die Menschen, die lebensbedrohlichen gehungert haben. Und dann würde man der Klientin vielleicht vorschlagen, einen Satz zu sagen in der Art: „Ich sehe euer schweres Schicksal. Und ich schaue auf euch und euer Schicksal mit Achtung.“ Und anschließend, nachdem dies innerlich vollzogen wurde, schlägt man der Klientin vielleicht vor, einen Satz zu sagen zu den Ahnen in der Richtung: „Mit mir ist es gut weitergegangen.“ Oder vielleicht auch: „Euer Opfer war nicht umsonst.“ Und noch ein weiterer Satz könnte hier angebracht sein: „Auch wenn es mir besser geht als euch, bleibe ich mit euch verbunden.“ Manchmal kann auch ein Satz sich anbieten, der etwa so lauten könnte: „Bitte segnet mich, wenn ich die Fülle der Lebensmittel in meinem Leben genieße!“

Zwei wesentliche Schritte zur Heilung

Wir sehen hier dieselbe Struktur wie bei der Heilung individueller seelischer Wunden: Wir müssen zunächst hinschauen und benennen, was war, ohne Beschönigung. Das was war, war schlimm. Wir müssen uns trauen, mit dem Schrecken und dem Schweren und manchmal auch dem Grauenhaften wirklich in Kontakt zu treten, uns davon innerlich bewegen zu lassen. Und der zweite Schritt ist dann, zu sagen: Ja, so war es – aber mit Betonung auf war. Jetzt ist es anders, jetzt habe ich andere Möglichkeiten, ich muss das Drama von damals nicht immer wieder neu inszenieren. Jetzt kann ich es anders machen, es mir gut gehen lassen.

Wie gesagt: Mein Eindruck ist, wenn ein Nachgeborener im Ahnensystem es schafft, mit einem tradierten einschränkenden Muster zu brechen, etwas Neues und Besseres zu machen, das Leiden zu durchbrechen – dann macht diese Person das nicht nur für sich selbst, sondern für die Leiden der Ahnen gleich mit. Ich kann es nicht „beweisen“, dass es so ist. Der einzige Hinweis, den ich dazu habe, ist: Man kann in Aufstellungen mitunter beobachten, dass die Stellvertreter der Ahnen irgendwie aufatmen, ruhiger werden, wenn ein Nachfahre ein einschränkendes Muster auf eine positive Art durchbricht. Dieser Durchbruch bedeutet dann nicht die Abgrenzung von den Ahnen gemäß dem Motto, was geht mich euer Schicksal an? Der Durchbruch bedeutet: In Anerkennung eures Schicksals und mit Achtung von eurem Schicksal mache ich es anders – ein wenig auch euch zuliebe.

Auf diese Weise erhält die Heilung eigener seelischer Wunden oder Traumata eine andere Tiefe. Ich mache es nicht nur für mich selbst, es ist nicht egozentrisch. Sondern ich nehme – ein wenig – alle mit, mit denen ich über die Herkunft und über das jeweilige Thema verbunden bin.        
Wenn etwas daran ist, das wir vielfältig verbunden sind auf eine höchst unterschwellige Art, nicht nur mit Lebenden sondern auch mit den Toten, dann ändern wir mit unserer eigenen Heilung auch etwas für die Toten. Nicht in dem Sinne, dass das Schicksal der Toten dadurch anders wäre, als es nun einmal war. Aber in der Form: Es war nicht vergeblich, es hatte einen Sinn, es ist gut weitergegangen. In welcher Form genau sich das in der Sphäre auswirkt, wo die Toten sind und existieren, in dieser geistigen Sphäre, über die wir wenig wissen und der Beschaffenheit wir nur ahnen können, darüber sollte man nicht allzu viel spekulieren. Aber die Vorstellung, es hat eine Auswirkung auch im Reich der Toten, kann sehr kraftvoll in meinem Leben wirken.

Die seelischen Urwunden – Teil 9: Eine Rückschau

Ich beschließe diese kleine Serie von Blogbeiträgen zu seelischen Urwunden mit einer Rückschau. Wir starteten damit, einen Betrachtungsrahmen aufzuspannen. Es ging dabei um die Frage, was braucht ein Mensch, der als Baby auf die Welt kommt, um sich gut und seiner Eigenart gemäß zu entwickeln. Es ist ja so, dass der Mensch unter allen Säugetieren die längste Adoleszenz aufweist und damit auch eines großen Maßes an Betreuung und Fürsorge in der Entwicklung bedarf. Der Bezugsrahmen für das Thema seelische Urwunden war nun die Überlegung, wie sollte ein neuer Mensch am Anfang seiner Entwicklung idealerweise in dieser Welt willkommen geheißen werden?

Es soll hier noch einmal darauf hingewiesen werden, dass dieser Bezugsrahmen idealisiert ist. Und ein Ideal ist in der Realität nicht perfekt zu erreichen. Es geht auch weniger darum, etwa den Eltern oder der Gesellschaft oder wem auch immer die Schuld zu geben. Der Bezugsrahmen diente nur dazu, vor dem Hintergrund dieser Folie zu beschreiben, wenn man so will, was alles schief gehen kann. Noch genauer: Was alles auf einer grundlegenden, existenziellen Ebene schmerzlich vermisst werden kann. Wobei – auch dies sei hier noch einmal betont – wir von einem Fehlen von gedeihlichen Bedingen sprechen, welche wirklich schwerwiegend und dauerhaft sind, welche die natürlichen Bedürfnisse des Kindes bedeutsam verletzt, das Ur-Vertrauen signifikant in der einen oder anderen Weise erschüttert. Dann entsteht im Prozess des Heranwachsens eben eine Ur-Wunde, ein manchmal lebenslang bleibender wunder Punkt.

Vor dem Hintergrund dieser Folie wurden die folgenden sieben Urwunden in einzelnen Beiträgen beschrieben:

  • Verlassen werden / getrennt werden
  • Nicht gesehen werden, nicht beachtet werden
  • Verkannt oder verwechselt zu werden
  • Nicht oder nicht vollständig da sein dürfen (Du bist zuviel!)
  • Betrogen zu werden, hintergangen zu werden
  • Gedemütigt werden oder eklatante Ungerechtigkeit zu erleben
  • Nicht oder nicht genug geliebt zu werden.

Man kann hier natürlich fragen: Sind es genau diese sieben Urwunden, die es gibt? Oder auch: Hängen diese Urwunden nicht auch miteinander zusammen, was sicherlich richtig ist. Man könnte auch fragen: Ist nicht die letztgenannte Urwunde, nicht oder nicht genug geliebt zu werden, die zentrale Urwunde, alles andere nur konkrete Ausformungen davon? Dies mag alles sein. Es ist sicherlich kein trennscharfes oder gar diagnostisches System. Es sind beobachtbare Phänomene, die sich sicherlich auch anders benennen oder gruppieren lassen.

Urwunden als Entwicklungstraumata

Was hier mit der Bezeichnung Urwunde bezeichnet wurde, lässt sich auch als Trauma oder Traumatisierung beschreiben. Wir reden hier von Entwicklungstraumata im Gegensatz zum Schocktrauma. In so fern wäre für alle angeführten Urwunden etwas Generelles nachzutragen. Jeder einzelne Blogbeitrag zu jeder einzelnen Urwunde hat ja am Ende einen Teil, der sich damit befasst, was hier helfen kann. Und da gilt eben für alle erwähnten Urwunden gemeinsam, dass hier alle Methoden helfen, die sich mit der Heilung von Entwicklungstraumata beschäftigen. Und dies ist ein weites Feld …

Seelische Urwunden als spezifische Ausformung eines Entwicklungstraumas aufzufassen, bringt uns aber auch noch auf eine andere Spur, die für alle genannten seelischen Urwunden gleichermaßen gilt.

Überlebensstrategien statt Leben

Entwicklungstraumata bewirken, dass ein Mensch sich bestimmte Überlebensstrategien aneignet. Diese helfen, den existentiellen Mangel auszuhalten, ihn teilweise zu kompensieren. Diese Überlebensstrategien waren, zu dem Zeitpunkt, wo sie erlernt wurden, wichtig und meist notwendig. Viele dieser Überlebensstrategien bestehen darin, etwas zu verleugnen, zu verdrängen und sich unempfindlich zu machen gegen seelische Schmerzen. Diese Überlebensstrategien waren einmal eine Lösung. Sie waren oft die einzige Lösung, die einem Kind, besonders einem kleinen Kind, zur Verfügung stand.

Später, im Leben als Erwachsener, erweisen sich diese gelernten Überlebensstrategien aber oft als einschränkend und hinderlich, als dysfunktional. Um wirklich vollständig zu leben, müssen die Überlebensstrategien der Vergangenheit losgelassen werden. Und dies ist nicht so einfach.

Eine Schwierigkeit ist, dass wir uns mit unseren Überlebensstrategien sehr identifiziert haben. Wenn wir hier umlernen, unsere Spielräume erweitern und unser Leben vollständiger leben wollen, erleben wir – zumindest am Anfang – ein sehr unvertrautes Gefühl. Es kann sein, dass wir merken, es geht uns besser – aber gleichzeitig fühlt es sich irgendwie wie „Nicht-Ich“ an. Und das alleine ist beunruhigend. Es gibt einen Teil des Nervensystems, der unbedingt am Vertrauten festhalten möchte, auch wenn es negativ ist. Aber es ist eben bekannt und für diesen Teil des Nervensystems ist das Bekannte gleichbedeutend mit Sicherheit. Alles andere ist bedrohlich, weil es unbekannt ist. Jede ernsthafte Veränderung muss sich, zumindest eine Zeit lang, mit dem Gefühl mangelnder Vertrautheit konfrontieren und dieses Gefühl aushalten, den Rückstellkräften zum Alten widerstehen.

Eine andere Schwierigkeit liegt darin begründet, dass die Aufgabe einer Überlebensstrategie uns mit dem Schmerz von damals in Kontakt bringt. Der Sinn der Überlebensstrategie ist ja gerade, einen zu großen, nicht bewältigbaren Schmerz nicht fühlen zu müssen. Wenn eine Überlebensstrategie losgelassen wird, muss oft der Schmerz, der damals vermieden wurde zu fühlen, noch einmal gefühlt werden. Wir müssen diesem Schmerz erlauben, sich zu entfalten und durch unseren Körper zu fließen, wir müssen ihm erlauben, da zu sein. Wir müssen uns trauen, diesem Schmerz jetzt fühlend unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Das ist nicht leicht und bedarf oft einer kundigen Begleitung. Wir brauchen hier ein heikle Balance, in welcher mir in Kontakt kommen mit dem Schmerz, ohne dass er uns überwältigt und hinwegschwemmt. Anders formuliert: Was losgelassen werden soll, muss sich erst noch einmal vollständig zeigen (dürfen).

Eine Vorstellung vom guten uns vollständigen Leben

Wenn das Lösen bzw. Ablösen von einer einschränkenden Überlebensstrategie nicht einfach, manchmal auch schmerzhaft und in fast allen Fällen von Unsicherheiten begleitet ist, braucht es natürlich gute Gründe für diesen Prozess, welcher gleichzeitig eben auch ein Heilungsprozess bezogen auf eine Urwunde ist.

Manchmal wird man durch das Leben scheinbar dazu gezwungen. Dies kann eine schwere Erkrankung sein oder auch eine Veränderung in den Lebensumständen, welche ein anderes Ausmaß an Verantwortung gerade auch für andere Menschen mit sich bringt. Wir sind dann sozusagen am Ende der Tauglichkeit der Überlebensstrategie angekommen.

Für eine erfolgreiche Veränderung (im Sinne der Heilung einer Urwunde) ist es aber auch gut, neben der Notwendigkeit des Lösens vom Alten eine Aussicht auf die Vorzüge und Freuden des Neuen zu haben. Meist gibt es in der Vergangenheit eine Referenzerfahrung, wo wir für einen Moment aus der Überlebensstrategie herausgefallen sind und dadurch uns freier, glücklicher oder erfüllter gefühlt haben, auch wenn es vielleicht nur für einen kurzen Moment war. Solche Referenzerfahrungen, wo wir einmal von dem vollständigerem Leben gekostet haben, sind wichtig zu erinnern. Ebenso benötigen wir in die Zukunft hinein eine Vorstellung, vielleicht manchmal auch nur eine Ahnung, über die Fülle eines nicht nur auf das Überleben fokussierten Lebens.

Eine Metapher für die Heilung von seelischen Urwunden: Die seelische Narbe

Bei etlichen körperlichen Verletzungen entsteht am Ort der ursprünglichen Verletzung eine Narbe. Narbengewebe ist sehr fest und sehr wiederstandsfähig. Wenn wir auf eine solche Narbe an unserem Körper schauen, können wir uns erinnern: Das war damals, als ich diesen bestimmten Unfall hatte. Wir können uns erinnern, wie es damals war. Wir können uns vielleicht auch erinnern, welche Schmerzen wir damals hatten. Und manchmal kommt uns zu Bewusstsein, dass wir aus der Erfahrung etwas Wichtiges gelernt haben. Nur: Auch wenn wir uns an die damaligen Schmerzen erinnern können, fühlen wir jetzt nicht diesen Schmerz. Der liegt in der Vergangenheit, die Erinnerung ist nur eine Erfahrung, derer wir uns bewusst werden. Jetzt ist die Wunde verheilt und schmerzt nicht mehr.

Dies wäre das Bild, im übertragenen Sinne, für eine Heilung von seelischen Wunden. Wir können uns erinnern, wie es damals war und auch, wie schmerzhaft es damals war. Da muss nichts beschönigt oder verdrängt werden. Es war so, wie es war – und damals war es schmerzhaft. Und gleichzeitig wissen wir: Es ist vorbei, jetzt ist es anders. Im Zusammenhang mit seelischen Urwunden bedeutet dies vor Allem: Jetzt bin ich nicht mehr das kleine Kind, jetzt verfüge ich über andere Handlungsmöglichkeiten.

Vielleicht ein letzter Aspekt im Vergleich mit einer körperlichen Narbe: Viele Narben sind nicht unmittelbar sichtbar, sondern meist von Kleidung bedeckt und nur Menschen, die uns nahe stehen, bekommen die Narben zu Gesicht.    
Bei seelischen Narben, nachdem die Urwunde verheilt ist, kann es ähnlich sein. Nicht jeder muss meine seelische Narbe kennen und sehen, dass hier einmal eine seelische Wunde war, welche ihre Spuren hinterlassen hat. Aber wer mir (genügend) nahe steht, darf um die Narbe wissen, die auf eine alte Verletzung verweist.