Der siebte Archetyp: Das Nicht-Ich in mir

Vorbemerkung: Dieser Text ist Teil einer 12-teiligen Serie über bestimmte Gestalten am Urgrund einer jeden menschlichen Seele, die wir in der Psychologie mit der Bezeichnung „Archetyp“ belegen. In jedem der 12 Teile wird jeweils einer der 12 wesentlichen Archetypen vorgestellt. Diese Gestalten gibt es bei jedem Menschen als innere Personen. Allerdings spielt nicht jede einzelne Gestalt in jedem Leben eine bedeutende Rolle. In Schauspiel meines Lebens gibt es natürlich Hauptrollen, aber eben auch Nebenrollen und Komparsen. Manche dieser kollektiven Urgestalten in mir kenne ich bis zu einem gewissen Grade. Andere sind mir völlig unbekannt und wenn sie dann doch einmal kurz in einer Szene auftauchen, bin ich überrascht.   

Manchmal erweist es sich in Familienaufstellungen als sinnvoll oder sogar notwendig, einen der Archetypen über Stellvertreter aufzustellen. Entweder, weil das Thema eng mit diesem Archetypus verbunden ist oder weil bei der Person, um die es geht, dieser Archetypus erkannbar dominant im Vordergrund steht. 
Die Beschreibungen des jeweiligen Archetyps sollen dich, liebe Leserin / lieber Leser, anregen, diese Gestalt in dir zu entdecken und vielleicht auch, mit ihr Kontakt aufzunehmen und in einen Austausch zu treten.

Einen Artikel darüber, was Archetypen allgemein sind und wie sie in unserer Seele wirken, findest du hier. Das dort gesagte gilt übergreifend für
alle Archetypen.

Widmung:

Diese Artikelserie ist meinem großen Lehrer Peter Orban gewidmet, der im Oktober des vergangenen Jahres verstorben ist. Lieber Peter, alles was ich über Archetypen meine verstanden zu haben, habe ich von dir. Wenn ich jetzt mein Verständnis der Archetypen beschreibe, möge dies ein Indiz dafür sein, dass deine Saat aufgegangen ist. Ein wenig lebst du weiter in denen, die von dir lernen durften.

Die siebte wesentliche Gestalt in meiner Seele hat eine ganz besondere Aufgabe. Sie sorgt für Begegnungen, vor allem bringt sie mich mit anderen Menschen zusammen. Aber es geht hier nicht um jede beliebige Begegnung, nicht um irgendwelche anderen Menschen. Diese innere Person hat die Aufgabe, mich mit Menschen (und manchmal auch mit Dingen oder Themen) in Kontakt zu bringen, die in irgendeiner Weise genau das verkörpern, was ich nicht bin. Diese innere Person führt mich zu meinem Gegenteil, zu allem, was ich nicht bin.

Aber „Gegenteil“ ist hier nicht im Sinne von Opposition gemeint, also etwas was ich reflexhaft bekämpfe und weghaben möchte, sondern Gegenteil im Sinne einer Polarität, im Sinne der polaren Ergänzung. Diese innere Person präsentiert mir in der äußeren Welt jemanden, der eine passende Ergänzung, ein passender Ausgleich zu mir ist. Ich werde auf Personen aufmerksam gemacht, die in der Weise mein Nicht-Ich, mein Gegenteil verkörpern, dass sie mich ergänzen, wo mir etwas fehlt. Dies meint natürlich auch, dass ich für diese Person, der ich in meiner äußeren Welt begegne, ebenso eine Ergänzung darstelle, weil ich etwas verkörpere, was dieser Person fehlt. Aber diesen zweiten Aspekt der Ergänzung und des Ausgleiches erleben wir nicht so deutlich wie den ersten Aspekt.

Diese innere Person arrangiert also Begegnungen, sie lenkt meine Aufmerksamkeit auf andere Personen, die in irgendeiner Weise mich ergänzen können, mich vollständig machen, mich heilen im Sinne von „ganz machen“. Wenn diese innere Person am Werke ist, werden wir auf jemanden aufmerksam und in diesem aufmerksam werden liegt eine eigenartige Faszination. Unsere Seele ahnt in der Begegnung etwas, wovon der Verstand und die Vernunft nichts weiß und nichts wissen kann. Die Seele ahnt: Hier ist eine Gelegenheit, vollständiger zu werden. Hier kann ich etwas finden als meine Ergänzung, von dem ich bislang gar nicht wusste, dass ich auf der Suche danach war.

Und das ist genau die Art, wie diese innere Teilperson in meiner Seele arbeitet. Sie verwaltet meine Defizite und generiert daraus eine Art Suchbild. Und sie meldet sich mit einem leisen, aber deutlich hörbaren „Pling“ wenn in meiner äußeren Welt jemand auftaucht, der zu diesem Suchbild passt. Ich selber weiß meist nichts von diesem Suchbild, diese Aufgabe habe so vollständig an diese innere Person delegiert, dass ich gar nicht mehr weiß, dass ich auf der Suche bin. Und ich weiß auch nichts (mehr) von dieser inneren Person, die meine Suchbilder verwaltet.

Am deutlichsten wird das, worum es hier geht, in einem antiken Mythos. Bei Platon wird in seinem Dialog „das Gastmahl“ (Symposion) dieser Mythos erzählt. Er handelt davon, dass es einst eine besondere Form von Menschen gab, die in der Erzählung als Kugelmenschen bezeichnet werden. Sie hatten vier Arme und vier Beine, kugelförmige Rümpfe und zwei Gesichter. Und diesen Kugelmenschen war eine große Kraft und auch ein besonderer Wagemut eigen. Sie gedachten, für sich die Welt der Götter zu erobern. Das konnte den Göttern nicht gefallen, weshalb Zeus, der Vorstandsvorsitzende der Götter GmbH auf die Idee verfiel, die Kugelmenschen in zwei Hälften teilen zu lassen. Der Gott Apollon wurde damit beauftragt, diese chirurgische Operation vorzunehmen, was er auch tat, nicht ohne die danach die Operationswunden wieder zu verschließen. Er ließ aber am Nabel eine Erinnerung an die Teilung zurück, so wie wir heute auch an vergangene Operationen durch die hinterlassenen Operationsnarben erinnert werden. Diese Erinnerung an die Trennung aus der Ganzheit ließ in den so ins Leben entlassenen Menschen (zweibeinig, zweiarmig und mit einem Gesicht) eine deutlich spürbare Sehnsucht zurück. Sie ahnen, dass sie einmal ein Teil eines Ganzen waren, dass sie von ihrer anderen Hälfte getrennt wurden. Und diese Sehnsucht bewirkt, dass sie ständig unterschwellig auf der Suche sind nach ihrer anderen Hälfte, nach ihrer perfekten Ergänzung.

Eine andere Art, wie wir uns die Aufgabe, um welche sich dieser Archetypus kümmert, vorstellen können, ist das Bild eines Puzzlestückes.

Das Puzzlestück hat Ausstülpungen und Einbuchtungen. Und beim Puzzeln geht es nun darum, das entsprechende Puzzlestück oder die entsprechenden Puzzlestücke zu finden, die mit ihren Ausstülpungen genau zu meinen Einbuchtungen passen und wo meine Einbuchten genau entgegengesetzt zu den Ausstülpungen des anderen Stückes sind. Wenn diese perfekten spiegelbildlichen Ergänzungen sich finden, wird das Bild vollständiger.

Dieser Archetyp verwaltet also meine inneren Suchbilder, meine Sehnsucht nach polarer Ergänzung, in dem er in der Umwelt Ausschau hält nach Personen, die alles verkörpern, was ich nicht bin, was ich aber zu meiner Ergänzung benötige.

Dieser Archetyp in mir sucht also nach meinem Spiegelbild. Psychologisch betrachtet könnten wir auch sagen, die Blaupause, mit welcher der Archetyp herumläuft und auf deren Entsprechungen er die Umwelt ab scannt, diese Blaupause ist mein Schatten. Und mein Schatten steht in der psychologischen Deutung für das Unbewusste.

Wenn wir uns fragen, warum sucht dieser Archetyp in mir ständig nach dem, was ich gerade nicht bin, was aber eben deshalb die passende polare Ergänzung für mich wäre, dann wäre eine Antwort auf die Frage nach dem Warum natürlich meine Sehnsucht. Das ist im Mythos von den Kugelmenschen beschrieben, dass ich eine ganz vage Erinnerung an einen Zustand größerer Einheit habe, von dem ich getrennt wurde. Und ich will zurück in die Einheit, aber dieser Wille ist ebenso vage wie meine Erinnerung an den Verlust. Etwas treibt mich um, aber was ich wirklich suche, kann ich erst dann erkennen, wenn ich es gefunden habe, wenn der Archetyp mir die andere Person als Verkörperung dessen, was in mir fehlt, präsentiert.        
Ich vermute allerdings, es gibt noch einen anderen Sinn in diesem Suchspiel. Ich soll nämlich im Gegenüber, im Nicht-Ich, in meinem polaren Gegenstück mich selber erkennen. Auch deshalb wird mir mein Gegenstück als äußere Person präsentiert, damit ich mich in ihr selber erkenne. Darauf verweist das sprachliche Bild, dass die Suche mir mein Spiegelbild präsentiert. Bei einem Spiegel ist es ja auch so: Ich erkenne mich im Spiegel, ohne Spiegel geht das nicht, allerdings ist die Person, welche mir im Spiegel gegenüber tritt, eben seitenverkehrt. Aber auch davon weiß ich nichts.

Kurz gesagt: Das Wesentliche ist, diese innere Person registriert permanent meine äußere Welt und meldet sich, wenn sie dort ein polares Gegenstück zu mir erkennt. Auf das ich mich in dieser Begegnung mit meinem polaren Gegenstück selber erkenne und etwas heiler1 werde, etwas vollständiger werde.

Die Lebensbereiche, in denen dieser Archetyp tätig wird

Nach der bisherigen Beschreibung, wofür dieser Archetyp in meiner Seele zuständig ist, ahnt man es schon: Der vielleicht wichtigste Punkt, an dem diese innere Gestalt auf mein Leben einwirkt, die die Vermittlung der Begegnung mit einer geeigneten Person für eine Liebesbeziehung, für eine Lebenspartnerschaft. Hier merken wir es ganz deutlich am Gefühl der Verliebtheit, welches sich einer Person gegenüber einstellt, mit der ich in meinem Leben in Berührung komme. Die Verliebtheit zieht mich mit einem starken Sog zu dieser Person hin, in mir steigt eine starke Ahnung auf von einer früheren innigsten Verbindung mit dem fehlenden Teil von mir, der verloren ging und seit dem schmerzhaft vermisst wurde. Und hier, in genau dieser anderen Person, auf welch mich der siebte Archetyp aufmerksam gemacht hat und mit der er mich in Verbindung gebracht hat, spüre ich die Möglichkeit der Heilung dieser ganz alten Wunde aus archaischer Zeit. Es gab früher bei Eheleuten diese Redeweise, dass vom jeweils anderen Ehepartner als „meine bessere Hälfte“ gesprochen wurde, ein entferntes Echo der Legende vom Kugelmenschen, wie wir sie bei Plato beschrieben finden.

Nun gut, in heutiger Zeit sind die Lebensbegleiter oft nur noch Lebensabschnittsbegleiter, aber das ändert nichts an daran, dass es der hier beschriebene Archetyp in meiner Seele war, der auf diese Person aufmerksam gemacht hat und den Kontakt gestiftet hat.         
Aber hier muss ein mögliches Missverständnis gleich ausgeräumt werden: Es ist nicht diese innere Gestalt in meiner Seele, welche dann auch tatsächlich für die Verbindung sorgt. Dafür sind andere innerliche Gestalten zuständig, namentlich der fünfte Archetyp (mein EGO) und der zwölfte und noch mehr der achte Archetyp, welchen wir als nächstes kennen lernen werden.  
Der hier besprochene Archetyp verwaltet mein Suchraster, macht mich darauf aufmerksam wenn auf seinem Radar eine äußere Person auftaucht, welche mit dem Suchraster in Resonanz steht und dieser Archetyp steuert mich auch auf die Begegnung und die Kontaktaufnahme zu. Danach ist sein Job erledigt. Schon das Gefühl des verliebt seins produzieren andere innere Gestalten und das Eingehen einer festen Verbindung liegt ganz im Zuständigkeitsbereich des achten Archetypus, dem wir als nächstes begegnen werden.

Wie gesagt: In der Paarbildung wirkt dieser Archetypus am deutlichsten und auch für uns deutlich vernehmbar. Aber dieser Archetyp vermittelt auch andere Formen, wo Menschen sich einander ergänzend zusammen tun. Dieser Archetyp lässt den Mitarbeiter zum passenden Chef finden, führt zwei Menschen zusammen zum Ziel einer Unternehmensgründung, lässt den Verleger seine Autoren finden und die Autoren den passenden Verleger, er vermittelt dem passionierten Tennisspieler den passenden Doppelpartner oder den passenden Trainer, er sorgt dafür, dass der Meisterschüler den passenden Meister (Lehrer) findet, der spirituell Suchende den passenden Guru usw.

Manchmal präsentiert dieser Archetyp mir auch Dinge oder Tätigkeiten oder Interessengebiete in meiner Außenwelt, wo mich dann etwas fasziniert und diese Dinge oder Tätigkeiten für mich wichtig werden, weil sie ein Weg sind, mich selber näher kennen zu lernen, weil sie mich spiegeln in dem, was ich von Anlage und Neigung nicht bin, wonach ich mich aber sehne.     
Aber die eigentliche Domäne dieses Archetyps sind andere Menschen, die für mich wesentliche andere Person, mein Gegenüber. Mit anderen Menschen will sie mich in Kontakt bringen, wenn diese anders genug sind, dass wir uns fruchtbar ergänzen können.

Der Archetyp „Das Nicht-Ich“ in der bildlichen Darstellung

Wie immer erfassen wir das Wesen eines Archetyps ganzheitlicher über die Bilder, welche diesen Archetyp in seinem Wesen symbolisch aufschlüsseln.

Hier haben wir zunächst das Beitragsbild. In diesem Bild finden wir mehrfach das Symbol der Waage. Die Waage bringt etwas in Ausgleich aber vor allem setzt die Waage etwas in Beziehung. Die Waage setzt zwei völlig unterschiedliche Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, in Beziehung. In der einen Waagschale haben wir eine Tüte Äpfel, auf die andere Waagschale legen wir unterschiedliche Bleistücke bis die Waage sagt: Jetzt passt es, jetzt entspricht es sich. Nun haben Äpfel und Bleistücke nichts gemeinsam. Was passt hier also? Das Gewicht entspricht sich exakt.

Dann finden wir ebenfalls mehrfach in diesem Bild das schon ausführlich besprochene Thema der Paarbildung, der Verliebtheit. Wir finden hier links oben noch eine andere sich ergänzende Verbindung, nämlich die Bühnenfigur und ihr hingerissenes Publikum. Wir finden den Spiegel und der Spiegel ist hier aber noch einmal eingebunden in das Märchen von Schneewittchen, welche im Hintergrund den hundertjährigen Schlaf schläft. Auch hier bedarf es des passenden Gegenstückes, nur ein ganz bestimmter Prinz kann sie erwecken aus ihrem tiefen Schlaf, da muss man vielleicht eine sehr lange Zeit warten, bis die passende Person vorbei kommt.

In der Mitte des Bildes oben finden wir zwei Männer, die per Handschlag eine Verbindung besiegeln unter den durchaus kritischen Augen eines Kopfes, der wie ein Geist aus einem Baumstamm erscheint. Jemand wacht also – durchaus kritisch – über diese Verbindung, auf das sie im rechten Geiste geschlossen werde.

Aber die zentrale Figur in diesem Bild ist ein Frau, welche beide Hände gleichermaßen wie zu einem milden Segen ausbreitet, eben gleichermaßen zur linken wir zur rechten Seite hin.



Karte "Der Partner" gezeichnet von Thea Weller
Aus: Peter Orban, Ingrid Zinnel, Thea Weller: Symbolon. Das Spiel der Erinnerungen. [Kartenset und Erläuterungsbuch]. Kailash-Verlag 20063

Auch die Symbolon-Karte zu diesem Archetyp beschreibt das Wesen dieser Gestalt in Form von zwei Menschen, die sich als Paar gefunden haben.

Hier spüren wir das Wirken dieses Archetyps eben am deutlichsten. Das Paar, ein Mann und eine Frau, tänzeln umeinander, sie schauen sich intensiv in die Augen und erkennen einander. In dem Blick scheinen sie verschmelzen zu einer Einheit, es gibt in diesem Blick nur die andere Person. Es wirkt so, als erkennen sie im Gegenüber eine Ergänzung.

Der Mann sieht hier nicht nur irgendwie eine Frau, er sieht „meine Frau!“ und die Frau sieht nicht irgendeinen Kerl, sie sieht „meinen Mann!“. Es wirkt so, als würden sie im Gegenüber die polare Ergänzung sehen, die aus den beiden Einzelnen ein Paar macht.

Im Moment scheinen sie ganz ineinander aufzugehen. Ob sie wissen, dass sie nicht nur die Ergänzung zu sich selbst sehen, sondern auch sich selber sehen in der anderen Person, nämlich als das, was sie selber jeweils nicht sind?


Der Archetyp „Das Nicht-Ich“ als Personifizierung

Wenn wir uns auch hier diese innere Gestalt wie eine Person vorstellen, ein bestimmtes Rollenfach im Schauspiel oder auch Drama meines Lebens, welches durch eine Person als Schauspieler verkörpert wird, dann haben wir es hier mit einer Schwierigkeit zu tun.

Das Wesen dieses Archetyps ist ja das Nicht-Ich, das Andere, die andere Person, welcher ich für mich bedeutungsvoll im der äußeren Welt begegne. Wir könnten also jetzt verleitet sein, uns diesen Archetyp ebenso vorzustellen, wie die Person, der wie begegnen und wo die Ergänzung spüren als Versprechen durch das anders sein der Person, die mir begegnet.      
Das würde bedeuten, wenn wir es anhand der zentralen Verwirklichung des Wesens dieses Archetyps uns vorstellen, nämlich der Paarbildung: Zumindest im heterosexuellen Bereich würden wir uns diese innere Person dann vorstellen wie mein Idealbild einer Frau (wenn ich ein Mann bin) oder wie mein Idealbild eines Mannes (wenn ich eine Frau bin).

Das stimmt aber so nicht. Die Frau oder der Mann, welchen ich in der ersten Anbahnung einer Partnerschaft begegne, ist ja nicht dieser Archetyp, diese Teilperson in mir. Dieser Archetyp hat nur diese Person, dieses Gegenüber ausgewählt und mir als (möglicherweise) passend präsentiert. Und dieser Archetyp in mir hat mich mit dieser Person bekannt gemacht. Aber der Archetyp in mir ist nicht die Person, die ich kennenlerne.

Wir müssen uns das eher so vorstellen wie früher in der Dienstleistung einer Partnervermittlung. Diese Agentur hat Klientinnen und Klienten, welche passende Personen vermittelt bekommen wollen. Und da ist eben der Dienstleister / die Dienstleisterin. Da ist eine Person, welche mit den Klientinnen und Klienten durchaus tiefgründige Gespräche führt, welche die Klienten genau beobachtet und einschätzt. Sie macht sich ein Bild von der Klientenperson. Wo sind hier die Ausbuchtungen, wo die Einkerbungen. Und dann such sie in ihrer Kartei eine andere Person, welche gleichzeitig möglichst ähnlich wie auch möglichst anders ist. Da wo die eine Person Ausbuchtungen hat, hat die andere eine Einkerbung und andersherum (deswegen sind sie maximal anders), aber es sind die genau gleichen Stellen, wo Ausbuchtung oder Einkerbung vorliegt und die Form von Ausbuchtung bzw. Einkerbung entsprechen sich, nur eben polar entgegengesetzt, eben spiegelverkehrt.

Also: Der Archetyp ist nicht die andere (bedeutsame) Person, die ich kennen lerne. Der Archetyp als Person vorgestellt ist der Heiratsvermittler / die Heiratsvermittlerin mit ihrer Kundenkartei und den dort vermerkten Eigenschaften. Wie kann man sich nun so eine Person vorstellen, die in einem Eheanbahnungsinstitut arbeitet oder ein solches betreibt? Eigentlich beliebig. Diese Person kann weiblich oder männlich sein, groß oder klein, dick oder dünn, alt oder eben nicht wirklich alt. (Zu jung darf sie allerdings nicht sein.) Wie gesagt: Dieses Rollenfach kann fast beliebig – vom äußeren Erscheinungsbild her – besetzt werden mit Schauspielern. Der Klient, also ich, will ja nicht den Ehevermittler heiraten, sondern jemanden, den er in seiner Kartei hat und den er mir vorstellt. Das äußere Erscheinungsbild ist als unwichtig, wenn wir uns eine innere Person vorstellen. Aber wir müssen sie und als jemanden mit einer gut gefüllten Kartei vorstellen, jemanden der um die richtigen und wichtigen Kriterien weiß und deshalb in der Karteikarte keine Nebensächlichkeiten vermerkt. Wir müssen uns eine Person vorstellen mit einem guten Blick für Eigenheiten von Menschen und eine Person mit Empathie und guter Gesprächsführungskompetenz. Aber vor allem müssen wir uns eine völlig uneitle Person vorstellen. Im Erfolgsfall, wenn sie zwei Personen zusammengeführt hat, zieht sie sich diskret zurück. Die beiden sollen am besten vergessen, dass sie eine Dienstleistung beansprucht haben. Natürlich schickt sie noch eine Rechnung, aber auch das diskret.

Die mit dem Archetyp verbundenen Wesenszüge und Energien

Fassen wir also noch einmal zusammen, mit welchen Qualitäten wir es zu tun bekommen, wenn dieser Archetyp in uns sich regt.

Ausgleich und komplementäre Ergänzung

Diese innere Instanz bringt Gegensätze zusammen und in einen Ausgleich. Die Gegensätze werden hier aber als wechselseitige Ergänzung vereint. Aus den Teilen entsteht etwas neues, was mehr ist als die Summe der Teile.

Darin liegt eine oft nicht wirklich wahrgenommene Kreativität. Aus der Verbindung der Gegensätze entsteht im geglückten Fall etwas völlig neues. Das Neue enthält beide Seiten des Gegensatzes, geht aber über beide Seiten hinaus, verwandelt beide Seiten.
Das hat überhaupt nichts mit dem Finden eines Kompromisses zu tun, wo man sich bei gegensätzlichen Interessen irgendwo in der Mitte einigen würde. Es geht überhaupt nicht darum, die beiden Pole des Gegensatzes abzuschleifen, dass sie nicht mehr ganz so gegensätzlich sind. Es geht darum, was neu entsteht, wenn die beiden Pole des Gegensatzes zusammenfallen, gleichzeitig zur Geltung kommen.

Gerechtigkeit

Dieser Archetyp möchte beide Seiten eines Gegensatzes vereinen. Dazu muss er beiden Seiten gleichermaßen gerecht werden. Er muss beide Seiten in ihrem So-Sein anerkennen ohne Wertung. Dieser Archetyp ist unparteiisch, besser noch überparteilich. Er hat keine eigenen Interessen. Er möchte nur eine gute Verbindung zwischen verschiedenen Seiten vermitteln.

Die salomonische Weisheit

Mit der Qualität der Gerechtigkeit verbunden ist hier noch etwas anderes, nämlich eine bestimmte Form der Weisheit2, die man salomonische Weisheit nennt. Es geht hier um eine Weisheit im Kontext einer Beurteilung, eines Urteils, eines Richterspruchs. Und ein solcher Richterspruch geht, wenn er weise ist, über die bloße Gerechtigkeit hinaus. Bei einem weisen Richterspruch werden beide streitenden Parteien durch den Richter in ihrem Wesen erkannt ebenso wie die verborgene Struktur des Streites selber erkannt wird. Ein weiser Richterspruch ist nicht nur objektiv (unvoreingenommen) und tut dem Gesetz genüge, er adressiert darüber hinaus eben auch das innere Wesen der Parteien und die verborgene Ursache des Streits. Ein solcher Richterspruch ist überraschend, unkonventionell und meist unerwartet einfach.

Ästhetik, Sinn für das Schöne und Stilempfinden

Das Wesen dieses Archetyps ist es, etwas miteinander in Kontakt zu bringen anhand eines Kriteriums, nämlich, dass da etwas zusammen passt, auf eine gute und sich ergänzende Weise zusammen passt. Das etwas passt, ist oft an der Oberfläche nicht zu sehen. Dieser Archetyp hat aber ein ausgeprägtes Empfinden und eine entwickelte Sensibilität dafür, wo etwas eben unterhalb der Oberfläche, eben in der Tiefenstruktur, im Wesen und im Wesentlichen zusammen passt.

Dieses Gespür dafür, was zusammen passt und was nicht, ist natürlich auch die Grundlage für jedes Kunstempfinden, für Stilbewusstsein, Geschmack und Ästhetik. Dieser Archetyp in mir ist also auch für alles Künstlerische in mir zuständig, sowohl in der aktiven Form als künstlerische und gestalterische Betätigung wie auch in der passiven Form als kundiges Publikum von Kunst und im Genuss von Kunst. Hier finden wir ein ausgeprägtes Harmonieempfinden, sowohl im wörtlichen Sinne in der Musik wie auch im übertragenen Sinne, dieser Archetyp ist zuständig für diplomatisches und taktvolles Verhalten im zwischenmenschlichen Bereich.

Das Du und das Wir sind wichtiger als das Ich

Diesem Archetyp ist eine gewisse Selbstlosigkeit zu Eigen. Er sorgt in mir dafür, dass ich mit meiner Aufmerksamkeit und meiner Sorge mehr bei meinem Gegenüber bin, weniger bei mir. „Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt“ lässt Friedrich Schiller seinen Helden Wilhelm Tell im gleichnamigen Schauspiel sagen. Hier spricht der Archetyp des Nicht-Ich sozusagen in Reinform aus dem Titelhelden.


Der Jahreszeitliche Bezug dieses Archetyps

Jahreszeitlich entspricht diesem Archetyp die Zeit zwischen ca. 20. September und ca. 20. Oktober. An den Anfang dieser Zeitqualität fällt die Tag-und-Nacht-Gleiche im Herbst. Das Wesen dieses Archetyps ist ja das Brücken bauen, die Verbindung von Gegensätzen. Hier, am Beginn der Jahreszeit, welche mit den Qualitäten dieses Archetyps verbunden sind, verbinden sich die dunkle und helle Seite, Tag und Nacht miteinander und werden eins, werden gleich. Diese Jahreszeit verbindet auch das Aktivitätsprinzip des Sommers mit dem Ruheprinzip des Winters. Diese Zeit im Jahr hat oft etwas von Beidem. Es ist vielleicht noch irgendwie Sommer in seiner ganz späten Form und gleichzeitig ist der Herbst schon schmeckbar in der Luft, wo die Natur sich vorbereitet auf die Ruhezeit im Winter.

Kurt Tucholsky hat einen wunderbaren Text geschrieben über diesen Brückenschlag zwischen den Jahreszeiten, eine Zeit, über die er die fünfte Jahreszeit nennt und über die er am Ende schreibt:

„ … Spätsommer, Frühherbst und das, was zwischen ihnen beiden liegt. Eine ganz kurze Spanne Zeit im Jahre.
Es ist die fünfte und schönste Jahreszeit.“

Ich empfehle diesen Text in Gänze zu lesen.

Was Tucholsky hier als Qualität einer ganz besonderen Jahreszeit beschreibt, ist fein empfunden oder beobachtet und es ist sehr poetisch beschrieben. Und mit der Qualität dieser besonderen Zeit im Jahreszyklus beschreibt Tucholsky hier auch die Wesensqualität dieses Archetyps.

Astrologische Entsprechung:

In der Astrologie entspricht dieser Archetypus dem 7. Haus, dem Tierkreiszeichen Waage und dem Planeten Venus in ihrer Seite der Waage-Venus.

Die Schattenseiten dieses Archetyps

Wie immer bei den Archetypen kann es im konkreten Fall auch problematisch sein, wenn dieser Archetypus sehr kraftvoll und sehr im Vordergrund in einem Menschen wirkt, aber in einer wenig entwickelten Form wirkt. Wir könnten hier auch von den Schattenseiten sprechen, welche die Wirkung dieses Archetyps in mir, wenn er sich kraftvoll in mir regt, annehmen kann.

Unentschlossenheit

Eine Stärke dieses Archetyps ist es ja, dass er Brücken bauen kann, für Ausgleich sorgen kann und Unterschiede / Gegensätze zu einer neuen Form verbinden kann. Dazu muss er die Seiten, die er verbinden will, verstehen und als jeweils für sich voll gültig anerkennen.

Wenn dieser Aspekt der Gleichwertigkeit von verschiedenen Seiten und Optionen in mir immer und bei jeder Gelegenheit aktiv wird, dann kann ich mich nicht wirklich entscheiden in Situationen, wo eine klare Entscheidung für etwas oder gegen etwas erforderlich ist. Ich werde dann grundsätzlich unschlüssig und zögerlich in meinem Handeln.

Ich-Schwäche

Eine Eigenschaft dieses Archetyps ist ja eine ausgeprägte Empathie. Wenn diese Teilperson in mir das Ruder in der Hand hat, dann kann ich mein Gegenüber sehr gut verstehen. Ich spüre, worum es meinem Gegenüber, der anderen Person, geht. Ich schwinge innerlich mit, wenn mein Gegenüber leidet. Und wenn dies überhandnimmt, vergesse ich dabei, dass es mich ja auch noch gibt. Ich spüre nicht mehr, wo meine eigenen Interessen liegen. Ich komme gar nicht auf die Idee, meine eigenen Bedürfnisse zu vertreten und für mich selber einzustehen, notfalls auch einen begrenzten Konflikt in Kauf nehmend.

Dieser Archetyp zeigt mir mein Gegenüber, das DU ja eben auch, damit ich über das Du, welches anders ist als ich, mich selber erkenne. Eben wie in einem Spiegel. Dieser Sinn, ich lerne über das DU etwas über mich, geht verloren, wenn meine ganze Aufmerksamkeit und Achtsamkeit nur beim Gegenüber ist.

  1. Achtung: Hier ist eine deutliche Warnung auszusprechen. Es geht darum, heiler (also vollständiger, gesünder) zu werden. Es geht hier nicht darum, heilig zu werden. Das wäre etwas ganz anderes und nebenbei gesagt auch nur eine illusionäre Karotte, die ich mir selber vor die Nase halte. Aber der Impuls des heiler Werdens wird mitunter – gerade in spirituellen Kreisen – mit der Bestrebung nach Heiligkeit verwechselt. Das kann unschöne Folgen haben. ↩︎
  2. Eine andere, allgemeinere Form der Weisheit, die Weisheit der Philosophen, werden wir als Wesensmerkmal des neunten Archetyps kennen lernen. Zu dem hier besprochenen siebten Archetyp gehört nicht die Weisheit allgemein, sondern nur die Form der Weisheit im Richterspruch. ↩︎