Kann man den Wahrnehmungen der Stellvertreter vertrauen?

Manchmal stellt sich in einer Aufstellung die Frage: Kann ich dem, was ein Stellvertreter oder eine Stellvertreterin an Eindrücken oder Impulsen äußert, vertrauen? Insbesondere für die Person, für welche die Aufstellung gemacht wird, hat manchmal diese Frage. Besonders, wenn das, was Stellvertreter äußern, im Gegensatz zu dem steht, was diese Person bislang geglaubt hat und wovon sie überzeugt war.

Dazu ein Beispiel: Vor einigen Jahren stand ich in einer Aufstellung als Stellvertreter für den Vater einer Frau. Diese Frau, die ihre Herkunftsfamilie aufstellte, sagte: Ihre Eltern hätten sich getrennt, als sie noch ein Kleinkind war. Und ihre Eltern hätten sich wohl nie wirklich geliebt und nicht zueinander gepasst. Außerdem seien auch beide Familien, sowohl väterlicherseits wie mütterlicherseits, von Anfang an gegen diese Verbindung gewesen und hätten aktiv gegen diese Verbindung gearbeitet, was dann auch zur Trennung beigetragen habe.

Als ich als Vater und eine andere Stellvertreterin als Mutter aufgestellt wurde, stellte sich schlagartig ein großes Gefühl von Liebe zu dieser Frau ein. Und es war völlig klar: Ihr geht es ebenso. Und das trotz der großen räumlichen Distanz, mit der wir zueinander aufgestellt wurden. Dieses Gefühl der Liebe und Verbundenheit war von einer Unmittelbarkeit, Klarheit und Reinheit, wie ich es davor und auch danach nicht erlebt habe als Stellvertreter in einer Aufstellung.

Die Stellvertreter für Vater und Mutter zeigten hier in der Aufstellung also ein Bild, dass konträr zu allem war, was die aufstellende Person bislang geglaubt hatte –und was man ihr vielleicht auch erzählt hatte. Nun ist das ja eigentlich eine sehr schöne Sache. Bedeutet es doch für die aufstellende Person: Auch ich bin ein Kind der Liebe. Auch wenn ich das bislang nicht wusste.
Die Frau, die ihre Herkunftsfamilie aufstellte, hatte aber sichtlich Schwierigkeiten mit diesem Bild. Und sie zweifelte, ob es der Realität entsprach. Ich als Stellvertreter für den Vater und auch die Stellvertreterin für die Mutter hatten das keine Zweifel, dass dies der seelischen Realität zwischen ihren Eltern entsprach – auch wenn die äußeren Umstände vielleicht die Liebe nicht lebbar gemacht haben mögen.

Im Normalfall ist man Leiter einer Aufstellung geneigt, den stellvertretenden Wahrnehmungen der Stellvertreter zu vertrauen. Als die Wahrheit über das, was in der seelischen Dynamik die Wirklichkeit ist. Auch wenn die verstandesmäßige Ausdeutung der realen Personen und ihre Geschichten darüber, wie es war, anders sind.

Die Formulierung „im Normalfall“ deutet aber auch schon an: Es gibt Ausnahmen. Manchmal ist es nicht so klar, was ist jetzt bei den Stellvertretern wirklich etwas, dass aus dem „wissenden Feld“ kommt? Und was davon ist vielleicht eher ein eigenes Thema des Stellvertreters, welches irgendwie durch die Aufstellung „angetriggert“ und dann ausagiert wird?

Ich hatte in dem Blogbeitrag zum „wissenden Feld“ (Teil 1) den Vorgang der stellvertretenden Wahrnehmung im Feld als eine milde Form der Besetzung oder Besessenheit beschrieben. Die Stellvertreterin oder der Stellvertreter wird von einer fremden seelischen Bewegung erfasst für die Zeit der Aufstellung. Danach fällt diese „Besetzung“ wieder ab. Allerdings erfolgt diese „Besetzung“ meistens nicht unmittelbar und sofort[1]. Es bedarf des Einfühlens in die Position, in der man steht. Und das kann eine gewisse Zeit, manchmal 20 Sekunden oder auch ein oder zwei Minuten dauern. In dieser Zeit spürt und lauscht man als Stellvertreter, ob sich irgendwelche Eindrücke, Gefühle und Impulse einstellen – ohne zu wissen, was dies sein mag und worauf man genau zu achten hätte. In dieser Zeit des Einfühlens bin ich aber als Stellvertreter auch noch mit meiner Person und meinem Verstand, meinen Vorannahmen und Überzeugungen vorhanden. Und stelle mir als diese eigene Person vielleicht – mehr oder weniger randbewusst – die Frage: Was wird jetzt von mir erwartet? Welche Rolle soll ich hier spielen? Und wie soll ich die Rolle anlegen. Dann ist das Bewusstsein auf der Suche, wie es aus den meist wenigen Informationen eine Handlungsanleitung erhalten kann. Und das ist alles nicht das, worum es in der stellvertretenden Wahrnehmung geht.

Im Normalfall geschieht aber nach einiger Zeit der Wechsel. Es steigt im Stellvertreter etwas auf und nimmt für eine Zeit partiell Besitz vom Stellvertreter. Manchmal aber gelingt die Ablösung von meiner realen Person nicht oder nicht genügend. Und dann agiere ich als Stellvertreter vielleicht eher mein Eigenes aus, statt im „wissenden Feld“ mitzuschwingen.

Wie erkennt man die Unterschiede zwischen einer „echten“ Wahrnehmung aus dem Feld und dem Ausagieren eigener Anteile des Stellvertreter?

In den meisten Fällen gibt es darauf eine recht einfache Antwort: Man spürt es. Und nicht nur die Aufstellungsleitung spürt es, alle spüren es. Die anderen Stellvertreter, die Beobachter, einfach alle. Das ist ein wenig ähnlich wie bei der Tatsache, dass wir meistens sehr genau spüren, ob jemand z.B. wirklich Trauer empfindet oder sich „Krokodilstränen“ abringt, um einen bestimmten Eindruck bei anderen Menschen zu erzeugen.

Es gibt aber auch einige konkretere Angaben, die man machen kann:

  • Wahrnehmungen aus dem Feld werden in aller Regel unaufgeregt mitgeteilt. Die Stellvertreterperson ist gesammelt und gefasst. Im Gegensatz wirkt eine Stellvertreteräußerung, die nicht aus dem Feld stammt, dramatisiert. Sie ist auf einen Effekt angelegt.
  • Die Wahrnehmungen aus dem Feld werden in einfachen und kurzen Aussagesätzen berichtet. „Mir geht es hier gut“ oder „Meine Knie zittern“ oder „Mein Blich zieht es dorthin“ oder dergleichen. Ohne weitere „Erklärungen“ oder Ausschmückungen. Es ist einfach so. Äußerungen, die nicht aus dem Feld kommen, sind dagegen oft weitschweifig, voller zusätzlicher Ausführung über eine „weil“ oder „aber“ oder über Gründe und Motive.
  • Immer dann, wenn Stellvertreter in einer Aufstellung in eine Diskussion geraten, in eine argumentative Auseinandersetzung, dann weiß man: Sie sind nicht im Feld.

Letztlich ist dies genau der Unterschied zwischen Aufstellungen und anderen Formen psychologischer Ansätze im Bereich Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und Therapie wie Rollenspiel und Psychodrama. Bei diesen Ansätzen geht es um ein ausagieren, bei der Aufstellungsarbeit geht es um das „Anerkennen, was ist[2]“. Und das, was ist, braucht keine Dramatisierung. Es ist einfach. Und es ist einfach.

[1] Das obige Beispiel war in dieser Hinsicht eher eine Ausnahme

[2] So ein Buchtitel von Bert Hellinger.