In diesem Monat, am 19. September 2019, ist Bert Hellinger im Alter von 93 Jahren verstorben.
Wir Familienaufsteller verdanken ihm Vieles, ja eigentlich das Meiste. Und auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Aufstellung verdanken ihm viel. Ohne ihn gäbe es das Familienstellen nicht.
Dieser Beitrag ist kein Nachruf und auch keine „Würdigung“. Ein solches Unterfangen erschiene mir vermessen. Stattdessen bescheide ich mich mit drei kleinen Reflektionen, die mit der Arbeit, der Person und dem Lebenswerk von Bert Hellinger zu tun haben.
Das Große und das Kleine – das Einfache und das Archaische
Das Wesentliche im Familienstellen hat in den allermeisten Fällen damit zu tun, dass wir als Menschen von etwas Größerem getragen, geführt und oft auf verstrickt werden. So sind Menschen in die schweren Schicksale ihrer Herkunftsfamilie verstrickt, oft ohne es zu wissen. Hier wirkt etwas Größeres. Dem gegenüber bin ich klein – und bleibe es auch. Und ebenso bin ich als Kind meinen Eltern gegenüber immer der Kleine oder die Kleine. Und bleibe das auch. Einfach deshalb, weil ich meinen Eltern mein Leben verdanke. Und was kann es Größeres geben? (Wie auch immer die Umstände im Einzelnen gewesen sein mögen.)
Familienaufstellungen rühren oft an dieses Größere. Demgegenüber erleben wir uns als klein. Aber dieses klein sein hat oft eine heilende Wirkung. Auch als Aufstellungsleiter ist man klein. Wir rühren mit den Familienaufstellungen an seelischen Bewegungen, aber wir kontrollieren sie nicht. Wir gehen – im günstigsten Fall – mit dem, was sich zeigt in diesem Moment. Mehr nicht. Und danach ziehen wir uns zurück und überlassen die Menschen ihrer seelischen Bewegung, ihrer „großen Seele“, ohne uns einmischen zu wollen.
Bei diesen Begegnungen des „Großen“ und des „Kleinen“ im Rahmen von Aufstellungen sind es dann die einfachen Dinge, die lösen und lindern, wenn nicht gar heilen. Es sind einfache Sätze, die in den Aufstellungen die meiste Kraft erzeugen. Einfache Sätze wie „ich bin deine Tochter“, die eine Stellvertreterin in einer Aufstellung zur Stellvertreterin der Mutter sagt. Was ist hier gewonnen? Auf einer intellektuellen Ebene nichts. In der Seele aber kann mit einem solchem Satz buchstäblich alles gewonnen werden, wenn er gesammelt ausgesprochen und innerlich vollzogen wir.
Wir stoßen hier auf etwas, das archaisch ist, uns mit dem Urgrund verbindet. Und so wirken auch manche Sätze, die im ursprünglichen Familienstellen entstanden sind, seltsam „altertümlich“ in der Sprache. Wenn etwa Hellinger einen Klienten in einer Aufstellung sich vor seinem Vater verneigen lässt und zu dem Satz anhält: „Ich gebe dir die Ehre!“.
Allein die Sprache mag rückwärtsgewandt klingen. Und doch wirkt in solchen Sätzen eine besondere Kraft, die man durchaus urtümlich nennen kann. Diese Sätze und die symbolischen Handlungen wie das Verneigen wirken aber nur und haben nur dann Kraft, wenn sie sich wirklich aus dem entwickeln, was sich in der Aufstellung in diesem Moment zeigt. Wenn sie geplant eingesetzt werden, sind sie kraftlos.
Es ist in meinem Empfinden eines der vielen Verdienste von Bert Hellinger, sich vor dieser Urtümlichkeit nicht gescheut zu haben. Es hat ihm viel Kritik eingetragen, die er dann souverän ertragen hat. Mir scheint auch, hier liegt ein Missverständnis bei den Kritikern vor. Der Blick bei diesen archaisch anmutenden Sätzen richtet sich nicht nach hinten, er dient nicht der Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“. Er richtet sich nach unten. Er richtet sich auf den Urgrund, aus dem wir kommen und den wir auch wieder gehen. Es ist ein Blick auf das, was uns erdet.
Die Bewegungen der Seele – Oder: die Härte der Konfrontation mit dem Schicksal
Manche Sätze, die Bert Hellinger zu Klienten in einer Aufstellung gesagt hat, wirken streng und von einer unerbittlichen Härte. Hinzu kommt, dass zumindest in der Anfangszeit des Familienstellens der Fokus fast ausschließlich auf bestimmten Ordnungen in Familiensystemen lag, die einzuhalten oder wieder herzustellen waren.
Das hat Bert Hellinger und dem Familienstellen in machen Kreisen den Ruf eingebracht, autoritär zu sein. Mir erscheint auch dies als ein Missverständnis. Auch in den frühen Aufstellungen von Bert Hellinger, die in Büchern und Videos dokumentiert sind, wird rückblickend betrachtet deutlich: Es ging ihm nie um die „Heiligkeit“ oder gar Rechtfertigung einer gegebenen Ordnung, sondern um die Bewegungen, die erst auf der Grundlage gewisser Ordnungen möglich sind. Es ging ihm um den Fluss der ursprünglichen Liebe, insbesondere zwischen Eltern und Kindern. Es ging darum, diese Liebe wieder ins Fließen zu bringen, wo der Fluss gehemmt war und ins Stocken geraten ist. Des wegen hieß das Buch, mit dem er sehr bekannt geworden ist, auch nicht etwa „Ordnungen im Familienleben“ sondern „Ordnungen der Liebe“. Die Ordnung ist hier also kein Selbstzweck, sondern sie stehen im Dienste der Liebe. Sie sind nur insofern gültig, als sie notwendige Bedingung für die Liebe sind.
Ich möchte das Thema der Härte von mancher Intervention Hellingers einmal an einem Beispiel beleuchten. In dem Buch „Entlassen werden wir vollendet“[1] ist unter dem Titel „Die Krieger“ eine Aufstellung dokumentiert. Zur Aufstellung selber nur so viel:
Eine Frau hat das Anliegen, die Beziehung zu ihrem Vater zu klären. Dieser ist bei einem Unfall, der vermutlich ein Suizid war, verstorben als die Klientin neun Jahre als war. In der Aufstellung zeigt sich, dass dieser Vater als Offizier an der Ostfront im 2. Weltkrieg seelisch sehr tief in eingebunden war in das Sterben sehr vieler Soldaten und Offiziere auf beiden Seiten, auf deutscher wie auf russischer Seite. Die Aufstellung belegt auch beim Lesen sehr eindrücklich, welche gewaltigen seelischen Kräfte hier im Töten und Sterben und auch noch im Tode weiter wirken.
Nun aber zu der Härte Hellingers. Nach Beendigung der Aufstellung wendet er sich an die Klientin mit dem Satz: „Das ist natürlich über deine Situation weit hinaus gegangen.“ Worauf die Klientin antwortet: „Ich weiß immer noch nicht, was meine Eltern für eine Beziehung hatten und was mein Vater zu uns Kindern für eine Beziehung hatte.“ Und nun kommt etwas, was mir recht typisch für Hellinger zu sein scheint. Er antwortet: „Wie klein, angesichts dessen, was abgelaufen ist. Wie kleinlich. Gar kein Mitgefühl mit den Soldaten.“
Da haben wir sie also, die sprichwörtliche Härte Hellingers. Er stößt die Klientin mit ihrem Anliegen vor den Kopf. Die Klientin fragt gewissermaßen: Wo bleibe denn da ich mit meinem Bedürfnis, einen liebenden und sorgenden Vater der gehabt zu haben, der mein Aufwachsen begleitet? Und Hellinger antwortet ihr sinngemäß: Dieses Anliegen ist angesichts der Gewalt des Kriegsgeschehens und dem Schicksal der Soldaten sowie dem Schicksal deines Vaters von geringerem Gewicht.
Ist das hart? Ja, unbedingt. Kann man das Anliegen der Klientin verstehen? Nun, wer könnte es nicht verstehen. Und doch: Man kann sich als Leser dieser dokumentierten Aufstellung der Bewertung, dieser Einwand gegen diese Aufstellung sei „klein“ um nicht zu sagen „kleinlich“ kaum entziehen. Wäre es besser gewesen, der Klientin diese Härte zu ersparen? Man hätte vielleicht zum Abschluss der Aufstellung die Tochter vor den Vater stellen können und sie den Satz sagen lassen: „Ich achte dein schweres Schicksal.“ Und dann vielleicht noch: „Schade, dass du so früh gehen musstest. Ich hätte dich als Kind so sehr gebraucht.“
Für sich genommen ist diese Überlegung müßig. Hätte, wäre, wenn … all dies führt nicht weiter. Mir geht es nur darum: Man lasse es einmal auf sich wirken, die beiden Arten die Aufstellung zu beenden. Einerseits nur die Wucht der Verstrickung des Vaters in Töten und Sterben mit der lapidaren Bewerkung: „Das weist jetzt weit über dich hinaus“. Oder das andere Ende, bei dem der Verlust und der Schmerz des Kindes über sein eigenes Schicksal als Folgeerscheinung des Schicksals des Vaters zum Ausdruck kommen.
Welches von beiden hat mehr Kraft? (Bitte, dies ist ernsthaft als offene Frage gemeint, nicht als Suggestion.)
Die Bewegungen der Seele und die Größe
Im erwähnten Buch schreibt Hellinger im Anschluss an die Dokumentation der Aufstellung:
„Was Bewegungen der Seele sind, konnten wir jetzt beobachten. Dass sie weit über unsere Theorien hinausgehen und unsere Vorstellungen von Gut und Böse. Und dass sie uns zeigen, wie sehr wir eingebunden sind in große Bewegungen, die von ferne her gesteuert sind und denen wir uns einfügen müssen, wie sie sind. Dann ergibt sich aus ihnen die Ernüchterung, die hier deutlich wurde, von unseren Idealen und von Größe. Aus ihnen ergibt sich auch, wie sehr wir in etwas eingebunden sind, das uns führt und trägt und fordert und opfert, je nachdem. Das macht uns sehr bescheiden. Dieser Blick auf das, was das Wesentliche trägt und bewegt, gibt uns ein anders Bild von den Mächten, die uns regieren, wie immer wir sie nennen. Gott oder das Geheimnis oder wie immer wir es nennen, ist nicht, wie wir uns das wünschen, lieb. Es ist viel zu groß, um einfach lieb zu sein.“
Die Geschichten und das Verdichtete bei Hellinger
Neben den Aufstellungen gibt es im Werk von Hellinger noch etwas, was ich erwähnen möchte, weil es auch Nahrung für die Seele ist. Es sind die – oft kleinen – Geschichten und die noch einmal mehr verdichteten Sinnsprüche von Hellinger, die sich in seinen Büchern finden. Beide, sowohl die Geschichten wie die Sinnsprüche, haben eine schwer auslotbare Tiefe und verweigern sich einer einfachen Moral.
Eine Geschichte von Hellinger mit dem Titel „Zweierlei Glück“ war bereits im Mai diesen Jahres Thema eines Blogbeitrages. Hier nun eine andere Geschichte:
Die Mitte
Jemand will es endlich wissen. Er schwingt sich auf sein Fahrrad, fährt in die offene Landschaft und findet, abseits vom Gewohnten, einen anderen Pfad.
Hier gibt es keine Schilder, und so verlässt er sich auf das, was er mit seinen Augen vor sich sieht und was sein Schritt durchmessen kann. Ich treibt so etwas wie Entdeckerfreude, und was ihm vorher eher Ahnung war, wird jetzt Gewissheit.
Doch dann endet dieser Pfad an einem breiten Strom, und er steigt ab. Er weiß, wenn er jetzt noch weiter will, dann muss er alles, was er bei sich hat, am Ufer lassen. Dann wird er sein3en festen Grund verlieren und wird von einer Kraft getragen und getrieben werden, die mehr vermag als er, so dass er sich ihr anvertrauen muss. Und daher zögert er und weicht zurück.
Als er dann wieder heimwärts fährt, wird ihm klar, dass er nur wenig weiß, was hilft, und dass er es den anderen nur schwer vermitteln kann. Zu oft schon war es ihm wie jenem Mann ergangen, der einem anderen auf dem Fahrrad hinterherfährt, weil dessen Schutzblech klappert. Er ruft ihm zu: „He, du, dein Schutzblech klappert!“. „Was?“ „Dein Schutzblech klappert!“ „Ich kann dich nicht verstehen“, ruft der andere zurück, „mein Schutzblech klappert!“
„Irgendetwas ist hier schief gelaufen“ denkt er. Dann tritt er auf die Bremse und kehrt um.
Ein wenig später trifft er einen alten Lehrer. Er fragt: „Wie machst denn du das, wenn du anderen hilfst? Oft kommen die Leute zu dir und fragen dich um Rat in Dingen, von denen du nur wenig weißt. Doch nachher geht es ihnen besser.“
Der Lehrer gab zur Antwort: „Nicht am Wissen liegt es, wenn einer auf dem Wege stehen bleibt und nicht mehr weiter will. Denn er sucht Sicherheit, wo Mut verlangt wird, und Freiheit, wo das Richtige ihm keine Wahl mehr lässt. Und so dreht er sich im Kreis.
Der Lehrer aber widersteht dem Vorwand und dem Schein. Er sucht die Mitte und dort gesammelt wartet er – wie einer, der die Segel anspannt vor dem Wind – ob ihn vielleicht ein Wort erreicht, das wirkt. Wenn dann der andere zu ihm kommt, findet der in dort, wohin er selber muss, und die Antwort ist für beide. Beide sind Hörer.“
Und er fügte hinzu: „Die Mitte fühlt sich leicht an“.
Ein Sinnspruch
„Wer mit seiner Seele im Einklang ist, der ahmt niemals nach“
Anlässlich des Todes von Bert Hellinger sei dieser Sinnspruch mir und auch allen Aufstellerinnen und Aufstellern ins Stammbuch geschrieben.
[1] Bert Hellinger: Entlassen werden wir vollendet. Kösel Verlag. München 2001.