Über das Hinsehen

Das genau Hinsehen zu etwas, auf einen Zustand, einen Gegenstand, eine Beziehung oder auch auf mich selbst, ist ein Merkmal der Aufmerksamkeit und der Wachheit. So erkennen wir Situationen und können – oft intuitiv – angemessen handeln. Den Hinsehen entgegen steht meist eine Form von geistiger Abwesenheit, ein „in Gedanken sein“, manchmal auch ein in Vorurteilen verhaftet sein.

Eine besondere Bedeutung hat das Hinsehen im zwischenmenschlichen Kontakt. Und hier hat noch einmal eine besondere Stellung der Augenkontakt, wenn er etwas länger als nur flüchtig und für den Bruchteil einer Sekunde gehalten wird.
Man sagt, die Augen seien der Spiegel der Seele. Und tatsächlich spielt der Blickkontakt bei seelischen Bewegungen eine besonders bedeutsame Rolle.

In Familienaufstellungen ist ein Muster recht häufig zu beobachten, wenn die Beziehungen stark belastet sind, wenn es Vorwürfe, Verurteilungen und Abwertungen gibt: Es fällt den Protagonisten – egal ob in der eigenen Rolle oder als Stellvertreter – schwer, zu der Person wirklich hin zu schauen, geschweige denn Blickkontakt zu halten, mit der es eine erhebliche Belastung in der Beziehung gibt. Die einzige Ausnahme, die ich hier bislang festgestellt habe, ist: Wenn das Gefühl zur wichtigen anderen Person Wut ist und diese Wut wirklich ein Primärgefühl[1] ist. Dann geht es meist auch mit Blickkontakt.

Aber wenn die Belastung in der Beziehung dergestalt ist, dass es noch Vorwürfe gibt („das hättest du damals nicht tun dürfen!“) oder das es noch Forderungen gibt („du bist mir noch etwas schuldig!“) oder das ich versuche, im Nachhinein noch etwas zu erhalten, was früher gefehlt hat an Liebe, Zuwendung und Aufmerksamkeit, wenn ich jammere oder quengele, dann stellt sich fast immer ein, dass ich meinem Gegenüber nicht in die Augen sehen kann.

Und im Gegenzug, wenn ich z.B. einer Aufstellung, aufgefordert werde „schau da mal hin“ oder „sieh ihm/ihr in die Augen dabei“, zeigt sich: Die alte Emotion fällt in sich zusammen. Meist geschieht auch eine unmittelbare Veränderung in der Körperhaltung. Und oft bricht dann, in diesen Momenten, die ursprüngliche Liebe sich Bahn, insbesondere im Verhältnis von Eltern und Kindern.
Und dann kann man oft beobachten: Wenn jetzt der Protagonist in der Aufstellung wieder wegschaut, auf den Boden schaut, an die Decke schaut oder gar die Augen schließt, dann geht sofort das Gedankenkarussell der Urteile, der Verurteilung und der Verbitterung wieder los.
Manchmal schwanken Menschen in Aufstellung zwischen diesen beiden seelischen Bewegungen, dem Hinschauen und dem sich wieder Abwenden (und damit den alten Gefühlen und Verurteilungen wieder sich wieder Zuwenden) mehrmals hin und her. Und immer ist es das Hinschauen und der Blickkontakt, der – wenn überhaupt – die alten emotionalen Blockaden aufbrechen kann.

Ein kleines Experiment – der virtuelle Blickkontakt

Man kann dieses Phänomen auch ganz leicht selber nachfühlen. Wenn du dir einmal für einen kurzen Moment eine Person vorstellst, mit der du (noch) nicht im Frieden bist. Das kann eine Familienmitglied sein, besonders ein Elternteil, aber vielleicht auch ein ehemaliger Freund, der dich betrogen hat, ein Arbeitskollege, der dich hintergangen hat … oder … oder … oder …

Jedenfalls: Du stellst dir diese Person innerlich vor, du stellst sie bildlich vor dich hin. Und auch du stehst, in einem Abstand von vielleicht 3 Metern direkt vor dieser Person.
Und dann schaust du dieser Person in die Augen. Und du hältst den Blick, lange und ruhig. Ohne dabei etwas zu sagen. Und ohne mit dem Blick etwas mitteilen oder etwas erfahren zu wollen. Du schaust einfach. Du schaust dieser Person in die Augen.

Was passiert in diesem Moment mit deinen Urteilen über diese Person? Denkst du noch an diese Urteile? Denkst du überhaupt noch? Was ist mit deinem „übel nehmen“? Ist es in diesem Moment, in diesem Blickkontakt, noch präsent?

 


[1] Ein Primärgefühl ist meist heftig, aber kurz, es erfasst uns für einen Moment komplett. Es ist rein und unverfälscht. Es ist der Situation angemessen und wird sofort von jedem außenstehenden Beobachter verstanden. Primärgefühle ebben meist schnell ab und haben eine reinigende Wirkung.
Sekundärgefühle sind dagegen oft „theatralisch“, lassen dritte Personen verwirrt zurück und wirken insgesamt nicht echt. Sie sind häufig manipulativ, sie werden ausgedrückt, um etwas bei jemand anderem zu erreichen. Und sie sind häufig „Deckgefühle“. Hinter oder unter dem präsentierten Gefühl steht eigentlich ein anderes Gefühl, dass aber nicht gezeigt wird. Wenn Wut z.B. ein Sekundärgefühl ist, steht dahinter oft Trauer, die vermieden werden soll. Nach dem Motto: Bevor ich traurig werde, werde ich lieber wütend. Mehr dazu hier.