Die seelischen Urwunden – Teil 4: Verkannt oder verwechselt werden

Im letzten (3.) Beitrag dieser kleinen Reihe, in der es um die seelischen Urwunden geht, war das „nicht gesehen werden“ Thema. Hier geht es jetzt um ein verwandtes, aber doch anders gelagertes Problem. In diesem Beitrag geht es um die Situation, wenn ein Kind von seinen wichtigen Bezugspersonen – vornehmlich die Eltern – zwar gesehen wird, aber nicht als die Person, welche sie ist. In dem Kind wird etwas anderes gesehen. Das Kind wird nicht erkannt, sondern verkannt.

Was meine ich damit? Vielleicht lässt es sich am Besten an zwei prominenten Beispielen verdeutlichen.      
Da ist zum einen der Maler Vincent van Gogh. Sein Wikipediaeintrag weiß bezüglich seines Geburtstages am 30. März 1853 zu vermelden: „Genau ein Jahr zuvor war ein nicht lebensfähiger Bruder geboren worden, der ebenfalls den Namen Vincent erhalten hatte.“ Da ist also ein Kind direkt nach der Geburt gestorben. Und dem genau ein Jahr danach geborenen Sohn wird derselbe Name gegeben.    
Zum anderen denke ich hier an den Dichter Rainer Maria Rilke. Auch hier gab es ein Jahr zuvor – wenn auch nicht auf den Tag genau wie bei van Gogh – ein Geschwisterkind, welches als Frühgeburt nur etwa eine Woche gelebt hat. Wieder weiß Wikipedia zu berichten, die Mutter „band ihren einzigen Sohn René – französisch für „der Wiedergeborene“– an sich und drängte ihn in die Rolle der verstorbenen Schwester. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr fand sich Rilke so als Mädchen erzogen; frühe Fotografien zeigen ihn mit langem Haar im Kleidchen.[1]

Hier werden also Kinder sozusagen als „Ersatz“ für ein anderes Kind gesehen, ein früh verstorbenes Kind, ein Kind mit einem schweren Schicksal. Aber eben ein anderes Kind. Haben diese Eltern über den Tod des anderen Kindes ausreichend getrauert? Ich weiß es nicht wirklich, aber die Vermutung drängt sich auf, dass es vielleicht nicht der Fall gewesen sein könnte. Es mag eine Verführung sein, statt zu trauern – was schwer ist – all die unerfüllten seelischen Bestrebungen, die ansonsten dem verstorbenen Kind gegolten hätten, an das lebende nachgeborene Kind heranzutragen. Es sind ganz subtile Dinge, über die wir hier reden, aber Kinder haben einen sehr ausgeprägten Sinn für diese seelischen Unterströmungen. Man wird dann schnell zum „Ersatz“ für jemand anderen. Das Kind merkt: In mir wird eigentlich – zumindest auch – jemand anderes gesehen. Und als Kind sieht man sich zu weiten Teilen eben so, wie die anderen einen sehen, insbesondere die Eltern.

Es ist naheliegend, in solche einer Situation Probleme mit der Herausbildung einer eigenständigen Identität zu vermuten.

Aber es muss nicht immer ein verstorbenes Geschwisterkind sein. Die Situation, dass ein Kind zwar gesehen, aber verwechselt oder verkannt wird, gibt es auch, wenn Eltern eigene nicht erfüllte Sehnsüchte auf ihre Kinder werfen. Das kann eine Mutter sein, die gerne eine Karriere als Künstlerin gemacht hätte, die aber durch Umstände verhindert wurde. Und diese Mutter sieht dann vielleicht in einem ihrer Kinder die Künstlerin oder den Künstler, das Kind soll das erreichen, was mir versagt blieb, auch wenn vielleicht Eignung und Neigung bei diesem Kind gar nicht in diese Richtung geht. Oder ein Vater sieht in einem Sohn die Karriere in einem Leistungssport, für die es bei ihm selber nicht wirklich gereicht hat. Oder aber in einem Sohn z.B. wird von klein an immer der Erbe des elterlichen Betriebes gesehen, obwohl dieser Sohn vielleicht ganz andere Präferenzen hat und keinerlei kaufmännische Interessen.

Natürlich ließen sich noch weitere Beispiele aufzählen, aber die genannten Beispiele genügen vielleicht um zu veranschaulichen, um welche Art von seelischer Urwunde es hier geht.

Die Folgen des verkannt Werdens

Es ist sehr naheliegend, bei einer solchen Verkennung daran zu denken, dass die Entwicklung eines stabilen „Ich-Gefühls“ schwierig sein dürfte. Bei Menschen, denen es schwer fällt, die eigenen Wünsche und Ziele überhaupt zu empfinden, kann als Hintergrund eine solche Verkennung als Kind bestehen. Auch die Ausbildung eines starken eigenen Willens mag beeinträchtigt sein. Man kann auch an das Erleben einer gewissen Selbstentfremdung denken als Folge dieser seelischen Urwunde. Man hört ja manchmal Menschen Sätze sagen wie „ich glaube ich lebe gar nicht mein Leben, ich lebe das Leben eines anderen“.

Was kann man tun?

Wenn ein Mensch von dieser seelischen Urwunde betroffen ist, scheint es mir nützlich zu sein, als erwachsener Mensch bewusst Eigenarten zu kultivieren und zu pflegen. Die Leitfrage könnte sein: Was ist an mir besonders, anders als bei anderen Menschen, eben im Wortsinne „eigenartig“?

Es kann auch helfen, in der Vorstellung sich vor die Eltern hinzustellen und ihnen einfach lange und schweigend in die Augen zu schauen. Im langen Blickkontakt verschwinden die Projektionen, das gilt in gewissem Grad auch, wenn es nur in der Vorstellung passiert.        
Man kann sich auch – wenn man das aushält – einmal vor einen Spiegel setzten und sich selber lange in die Augen schauen.

Als Abschluss

Zum Ende dieses Beitrages möchte ich noch einmal auf Rilke zurückkommen. Es gibt von ihm ein Gedicht mit dem Titel „Engellieder“. Wenn man den Begriff Engel so versteht, dass er als Bote eines jenseitigen Landes daherkommt, in dem unter Anderem die Toten wohnen, kann man dieses Gedicht als Verarbeitung seiner Identifikation mit der vor ihm verstorbenen Schwester verstehen. Der Anfang lautet:

Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.

Da hab ich ihm seine Himmel gegeben, –
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt…

(Das vollständige Gedicht findet sich online z.B. hier)


[1] Wo der zweite Vorname von Rainer Maria Rilke herrührt, müssen wir eigentlich kaum erwähnen. Ja, natürlich: Die Schwester hätte Maria geheißen.