Blogartikel zu "Bewegungen der Seele"

Hier findest du alle Blogbeiträge in chronologischer Reihenfolge.

Juni 2017

Das "wissende Feld" und die stellvertretende Wahrnehmung im wissenden Feld

Das Blog beginnt mit einem Beitrag, der von zwei wesentliche Grundannahmen bei jeglicher Form von Aufstellungsarbeit handelt. Egal, ob es sich um eine klassische Familienaufstellung handelt, um Formen der systemischen Strukturaufstellung, eine Organisationsaufstellung oder auch um eher "Spezialformen" wie Horoskopaufstellungen oder Organaufstellungen (wie z.B. Augenaufstellungen) – zumindest zwei Dinge haben alle Formen gemeinsam. Erstens nutzen wir die Wahrnehmung von unvoreingenommenen und auch unwissenden Stellvertretern. Und Zweitens befragen wir diese stellvertretenden Personen nicht einfach (nach dem Motto: Was meinst denn du dazu?), sondern wir bringen die relevanten Stellvertreter in eine Position zueinander, wir "stellen sie auf". Und wir generieren damit ein Feld zwischen den Stellvertretern und nehmen an, dass die Eindrücke der Stellvertreter aus diesem Feld stammen, also nicht von den Stellvertretern selbst kommen. In der Aufstellungsarbeit hat sich eingebürgert, dies als das "wissende Feld" zu bezeichnen.

Der erste Eintrag in diesem Blog geht diesen beiden Phänomen, dem wissenden Feld und der stellvertretenden Wahrnehmung nach. Aufgrund der Länge des Beitrages erscheint er in drei Teilen:

Juli 2017

"Einmal im Leben" – oder: Wie oft aufstellen?

Der Juli-Beitrag geht der Frage nach, ob eine Aufstellung ein mehr oder weniger einmaliges Ereignis ist oder dies sein sollte und wann und unter welchen Bedingungen es sinnvoll ist, mehrere Aufstellungen zu dem gleichen oder auch unterschiedlichen Themen zu machen.

„Einmal im Leben“ – oder: Wie oft aufstellen?

August 2017

Neben-Wirkungen einer Aufstellung – Effekt bei Stellvertretern und Zuschauern

Familienaufstellungen und auch andere Formen von Aufstellungen werden in erster Linie für jemanden gemacht. Es gibt ein Anliegen bei einer Person, jemand möchte etwas klären – zunächst einmal für sich.
Die Erfahrung in der Aufstellungsarbeit zeigt allerdings, dass Aufstellungen auch oft überraschende Wirkungen auf Stellvertreter oder völlig unbeteiligte Zuschauer haben können. Diesen Neben-Wirkungen wird im Beitrag nachgegangen.

Neben-Wirkungen einer Aufstellung

September 2017

Bewegungen der Seele und das klassische Familienstellen

Die Aufstellungsarbeit hat mit dem – nennen wir es einmal – "klassischen" Familienaufstellungen begonnen. Hier ging es um die "Ordnungen der Liebe" und die "guten Lösungen". Das bleibt auch weiterhin relevant und gültig und hat seinen Platz. Allerdings hat sich im Laufe der Jahre herausgestellt, dass dieser Rahmen oft zu eng ist. Wesentlicher als Struktur und Ordnungen in Familiensystemen wie auch anderen Systemen, ist: Mit dem Aufstellen zeigen sich Bewegungen in der Seele. Und die folgen ihrer eigenen Logik. Daraus ergab sich eine Weiterentwicklung im Familienstellen und allgemeiner in der Aufstellungsarbeit. Dies hat weitreichende Auswirkungen in der Grundhaltung, mit der Aufstellungen durchgeführt werden. Diese werden in dem Blogbeitrag beschrieben.

Bewegungen der Seele und das klassische Familienstellen

Oktober 2017

Familienaufstellung – eine Form der Psychotherapie?

Der Blogeintrag vom Oktober 2017 beschäftigt sich mit der Frage, ob man das Familienstellen oder generell die Aufstellungsarbeit als Psychotherapie ansehen kann oder sollte. Es wird im Beitrag argumentiert, warum eine Familienaufstellung per se keine Therapie ist, aber oft profunde therapeutische Effekte hat. Paradoxerweise kann in der Aufstellungsarbeit eine zu starke Konzentration auf ein Symptom oder Leiden, das therapeutisch zu beheben wäre, den Blick auf die wirklich lösende seelische Bewegung verstellen.

Familienaufstellung – eine Form der Psychotherapie?

November 2017

Die innere Haltung – Wie begegne ich einer Aufstellung?

Im Nobember 2017 geht es in diesem Blog um hilfreiche und weniger hilfreiche Haltungen, Einstellung und Erwartungen, die ich an eine eigene Aufstellung herantragen mag.

Die innere Haltung – Wie begegne ich einer Aufstellung?

Dezember 2017

Im Dezember 2017 geht es in diesem Blog um ein "plutonisches" Thema: Über die Folgen, die böse Taten oder schlimme Schicksale haben können. Und warum und wie diese Folgen nicht unbedingt die Charakteristika ihrer Entstehung ("böse", "schlimm") erben müssen. Nicht zuletzt geht es dabei auch um unsere innere Haltung und mit welcher Perspektive wir auf die Geschehnisse und Folgen schauen.

Über die (manchmal) guten Folgen des Schlimmen

Januar 2018

Hier geht es um Gefühle. Genauer gesagt um

  • Primärgefühle
  • Sekundärgefühle
  • Übernommene Fremdgefühle

und was sie kennzeichnet, woran man sie erkennt und unterscheidet. Und natürlich um ihre Rolle im Rahmen von Familienaufstellungen.

Über Gefühle, ihre Qualitäten und ihre Rolle in der Aufstellungsarbeit

Februar 2018

In der Aufstellungsarbeit arbeiten wir wesentlich mit den Wahrnehmungen und Eindrücken der Stellvertreter. Über ihre Reaktionen entwickelt sich die Aufstellung. Es stellt sich da natürlich die Frage: Kann man den Wahrnehmungen der Stellvertreter vertrauen? Dem geht der Blog-Artikel vom Februar 2018 nach.

Kann man den Wahrnehmungen der Stellvertreter vertrauen?

März 2018

(Familien)aufstellungen gelten als eine Form der lösungsorientierten psychologischen Intervention. Aber welche Wirkungen hat es, wenn in einer Aufstellung keine Lösung erreicht wird? Das ist das Thema im März 2018 in diesem Blog.

Aufstellungen ohne Lösungen – können Aufstellungen „scheitern“?

 April 2018

Bei Familienaufstellungen geht es oft darum, die ursprüngliche Liebe, die Liebe eines Kindes zu seinen Eltern, wieder ins Fließen zu bringen. Der April-2018-Beitrag in diesem Blog widmet sich diesem Thema über ein wenig Rap-Musik.

Die ursprüngliche Liebe … und etwas Rap-Musik

Mai 2018

Der Blog-Beitrag im Mai 2018 widmet sich dem Verhältnis zwischen dem Familenstellen einerseits und psychologischen Techniken und Methoden wie dem "Neurolinguistischen Programmieren (NLP)" andererseits.

Familienaufstellungen und „Psycho-Techniken“

Juni 2018

Im Juni 2018 geht es im Blog-Beitrag um die Unterschiede zwischen der stellvertretenden Wahrnehmung im wissenden Feld und Rollenspiel.

Stellvertretung in einer Aufstellung und Rollenspiel

Juli 2018

Mütter und Väter sind in der Familie nicht gleich – und nicht gleichgewichtig. Die Mütter haben im Familiensystem – alleine über die tiefgehenden Erfahrungen von Schwangerschaft und Geburt – eine besondere Bedeutung und ein anderes "spezifisches Gewicht" als Väter. Der Blog-Beitrag im Juli 2018 beleuchtet dieses Verhältnis.

Über das größere spezifische Gewicht von Müttern

August 2018

Der Blogbeitrag in diesem Monat widemet sich einem historischen Ereignis: Dem Kniefall von Willy Brand im Dezember 1970 in Warschau. An diesem Geschehen wird etwas deutlich, was auch in Familienaufstellungen oft eine Rolle spielt: Der angemessen Umgang mit historischer Schuld bei größeren Kollektiven und wie die toten Opfer und Täter in das Seelenleben der Nachbeborenen hineinwirken.

Der Kniefall in Warschau – oder: Vom Umgang mit kollektiver Schuld

September 2018

Insbesondere in Medien und anlässlich politischer und gesellschaftlicher Debatten ist häufig eine gewissen "Empörungskultur" (manche sprechen gar von einer "Empörungsbewirtschaftung") zu verzeichnen. Aber auch bei Familienaufstellungen geht es mitunter um Themen, die leicht zu einer moralischen Entrüstung einladen. Im Blogbeitrag für den September 2018 geht es um Empörung und Entrüstung im Zusammenhang mit Familienaufstellungen.

Über die Empörung und Entrüstung

Oktober 2018

In Familienaufstellungen geht es – das liegt in der Natur der Sache – oft um die Beziehung zu den eigenen Eltern. Sehr häufig steht dann in Form der Stellvertreter ein Kind seinen Eltern gegebnüber und die anstehende "Bewegung der Seele" ist dann,  dass dies Kind auf seine Eltern zugeht. Häufig mit sehr gemischten Gefühlen. Der Blogbeitrag im Oktober 2018 geht der Frage nach, warum diese archetypische Bewegung vom Kind auf die Eltern zu sich vollzieht, und nicht andersherum.

Die Hinbewegung der Kinder zu den Eltern

November 2018

Dieser Beitrag erscheint am Totensonntag 2018 im "Totenmonat" November. Er behandelt, wie die Toten in der einen oder anderen Weise in das Leben der Lebenden hineinwirken und in welcher Form sich dies in der Aufstellungsarbeit zeigt. Insbesondere geht es um die Wirkungen, die ein ehrendes Andenken der Toten für die Lebenden hat.

Die Toten und wir

Dezember 2018

Der Blogbeitrag zwischen den Jahren 2018 und 2019 handelt von dem Weihnachtsversprechen: "Nun soll es werden, Frieden auf Erden". Und davon, wie dieses Versprechen enttäuscht wird und wie es erfüllt werden kann.

Nun soll es werden

Januar 2019

In diesem Monat geht um Heilungen im Rahmen von Familienaufstellungen. Es werden drei verschiedene Arten von Heilungsprozessen beschrieben, die über Familienaufstellungen angestoßen, unterstützt und gefördert werden können.

Familienaufstellung und Heilung

Februar 2019

In jedem menschlichen Leben gibt es Dinge, die wir lieber nicht haben möchten. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der – scheinbar paradoxen – Aufforderung, diesen Gegebenheiten erst einmal vorbehaltlos zuzustimmen.

Die Kraft, die aus der Zustimmung kommt

März 2019

Über Familienaufstellungen gibt es inzwischen ein reichhaltiges Erfahrungswissen. Vieles davon ist auch in Büchern beschrieben. Und doch gibt es kein einheitliches und ausgearbeites "theoretisches Modell" für die Aufstellungsarbeit, wie es etwa für viele Psychotherpieformen durchaus vorliegt. Dieser Beitrag argumentiert, dass ein solches vereinheitlichendes theoretisches Konzept der Aufstellungsarbeit wesensfremd wäre.

Über den Verzicht auf Therorien und gedankliche Konzepte in der Aufstellungsarbeit

April 2019

Im April-Beitrag 2019 geht es um die Beziehungen zwischen Generationen, das Verhältnis verschiedener Familiensysteme zueinander und auch um die Pflege der Eltern im Alter.

Was schulden Kindern ihren Eltern?

Mai 2019

Der französische Schriftsteller Albert Camus hat die überraschende (und verwirrende) Aussage getätigt, man müsse sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. Im Mai 2019 geht es in diesem Blog nicht um Sisyphos, sondern einen andere mythische Figur des antiken Griechenlands: Können wir uns Orpheus, diesen begnadeten Sänger mit seinem tragischen Schicksal, als glücklichen Menschen vorstellen? Und müsste er dazu vielleicht, obwohl ein Sänger bleibend, ein bisschen weniger begnadet und dafür ein wenig weniger tragisch sein? Aber natürlich geht es nicht um Orpheus, sondern um das Glück des normalsterblichen Menschen. Genauer: Um zweierlei Glück.

Orpheus – oder: Das große und das kleine Glück

Juni 2019

In diesem Monat geht es um die Paarbeziehung und den systemischen Hintergrund ihres Gelingens oder Scheiterns.

Wie die Paarbeziehung gelingt

Juli 2019

Anknüpfend an den letzen Beitrag vom Juni 2019 geht es noch einmal um die langjährige Paarbeziehung. In diesem Artikel werden drei Säulen einer funktionierenden Paarbeziehung beschrieben.

Die drei Säulen der Paarbeziehung

August 2019

Die letzten beiden Blog-Beiträge handelten von der Paarbeziehung. Im August-Beitrag wird daran anknüpfend erörtert, was sich ändert, wenn die Paarbeziehung zur Elternschaft führt, also um die Eltern-Kind-Beziehung ergänzt wird.

Die Paar-Beziehung und die Eltern-Kind-Beziehung

September 2019

In diesem Monat, am 19. September 2019, ist Bert Hellinger im Alter von 93 Jahren verstorben. Der September-Beitrag beschäftigt sich anlässlich des Todes von Bert Hellinger in drei kleinen Reflektionen mit dem, was er uns hinterlassen hat.

Zum Tod von Bert Hellinger

Oktober 2019

Der Blog-Beitrag im Oktober 2019 befasst sich mit der Wirkung von seelisch abwesenden Elternteilen und den verschiedenen Möglichkeiten, wie sich dies in Familienaufstellungen zeigt und wie es in Familienaufstellungen adressiert werden kann.

Seelisch abwesende Elternteile

November 2019

Es geht noch einmal – wie schon im November 2018 – um den "Totenmonat" November. Dieser Beitrag ist ergänzt die Gedanken vom letzen Jahr um die Frage: Wie begegnen wir den Toten, besonders wenn es sich um Viele handelt, und wie lösen wir uns wieder davon?

Wir und die Toten – Ein Nachtrag

Dezember 2019

Der Beitrag handelt vom Weihnachtsfest und der Familie – und warum manchmal die Weihnachtsfeste im Familienkreis ungewollt Aspekte einer Familienaufstellung zeigen.

Weihnachten und die Familie

Januar 2020

In Familienaufstellungen werden die Stellvertreter oft angehalten, bestimmte Sätze zu sagen. Meist handelt es sich um sehr einfache Sätze, einfache Aussagen. In diesem Beitrag geht es um die Kraft und die Wirkung dieser einfachen Sätze.

Die Kraft der einfachen Sätze

Februar 2020

Manchmal stellt sich eine Person, die eine Familienaufstellung gemacht hat, im Anschluss an die Aufstellung die Frage: "Was mache ich jetzt damit?" Die Frage zielt auf etwas, was man in Weiterbildungsseminaren als den Aspekt der "Umsetzung" von Seminarinhalten in die Alltagspraxis kennt. Im Rahmen von Aufstellungen ist der Fall aber etwas anders gelagert. Wie genau anders gelagert wird im Blogbeitrag beschrieben.

Aufgestellt … und dann?

März 2020

Das innere Kind, das in jedem von uns lebt und mit seinen unerfüllten Bedürfnissen und Verletzungen in uns wirkt, gehört inzwischen zu den Standardthemen der Psychologie und Psychotherapie. In Familienaufstellungen ist die Heilung des inneren Kindes wie auch die Heilung der Beziehung zu den inneren Eltern fast immer das eigentliche Kernthema – auch wenn es oberflächlich betrachtet nicht immer direkt als Thema deutlich wird. In welcher Form und über welche beiden wesentlichen Bewegungen das innere Kind beim Familenstellen adressiert wird, dem geht dieser Blogbeitrag nach:

Aufstellungen und die Heilung des inneren Kindes

April 2020

Familienaufstellungen waren ursprünglich ausschließlich Gruppenveranstaltungen. Inzwischen haben sich verschiedene Formen entwickelt, wie Familienaufsgtellung auch im Einzelsetting, in der Beratung und der Therapie, durchgeführt werden können. Dabei wird dieselbe Tiefe in den seelischen Bewegungen erreicht und die Wirkungen entsprechen weitgehend den Aufstellungen in Gruppen. Im Beitrag wird für den April 2020 wird das Vorgehen in der Einzelarbeit dargestellt.

Familienaufstellungen in der Einzelarbeit

Mai 2020

In diesem Beitrag geht es um den Erfolg. Den Erfolg im Leben und worauf er gründet, von welchem Ursprung er ausgeht und was die Herkunftsfamilie, insbesondere das Nehmen der Eltern mit dem Erfolg zu tun hat.

Der Erfolg

Juni 2020

In diesem Monat erleben wir – vornehmlich in den USA, aber nicht nur dort – eine Auseinandersetzung im Kampf gegen Rassismus. Dies ist ein Beispiel für einen großen Konflikt zwischen Gruppen von Menschen.
Wenn wir einen Beitrag zur Befriedung in solchen Konflikten leisten wollen, so wird in diesem Beitrag behauptet, fordert dies von uns einen Verzicht. Einen verzicht auf das gute Gewissen. Und einen Verzicht darauf, zu den Besser-Menschen gehören zu wollen.

Der große Konkfikt – und die Bindung an das Gewissen

Juli 2020

In diesem Betrag geht es darum, wie es in der Seele segensreich wirken kann, wenn wir – im rechten Kontext – anerkennen, klein zu sein.

Klein sein

August 2020

Im Blogbeitrag dieses Monats wird das Vergeben thematisiert. Vergeben kann ein sehr befreiender Akt sein, der oftmals aber nur sehr oberflächlich praktiziert wird, so dass die eigentlich Befreiung nicht erreicht wird. In dem Beitrag wird eine kleine Übung vorgeschlagen für einen tiefenwirksamen Vergebungsprozess.

Das Vergeben

September 2020

In diesem Artikel geht es um das Hinsehen, den Blickkontakt und deren Rolle bei der Regulation unserer Emotionen.

Über das Hinsehen

Oktober 2020

Hier geht es um das Helfen und die manchmal hilflosen Helfer, aber auch um den Rahmen und die Grenzen, welche dem Helfen gesetzt sind.

Über das Helfen

November 2020

In dem Beitrag geht es um eine andere Form des "social distancing",  jenseits von Masken und Abstandhalten. Es geht um die verfeindeten Lager in der Debatte um Pandemie-Maßnahmen und wie hier im persönlichen Nahfeld Brücken geschlagen werden können.

Die soziale Distanz

Dezember 2020

In einem Dezember geht es – wie könnte es auch anders sein – auch um Weihnachten, um die Bildung von Weihnachtstraditionen in Familien und in wie weit diese ein Modell sein können für das übergreifende Thema der Bindungen in ihrem fördernden wie auch einschränkenden Aspekten.

Die Bindung und die Zugehörigkeit

Januar 2021

Mit diesem Beitrag beginnt eine kleine Folge von Beiträgen, die sich mit der Seele, der Natur des Seelischen und der seelischen Bewegungen befasst. In dem diesem ersten Teil der Folge geht es um die Seele als das Prinzip des Lebendigen in uns.

Über das Seelische (I): Die Beseelung als Lebendigkeit

Februar 2021

Im zweiten Teil der sprachlichen Umkreisung der Seele und ihrer Bewegungen und Erscheinungen geht es um die Tatsache, dass die Seele im Kern und im Ursprung weiblich ist. Die Weiblichkeit der Seele ist assoziiert mit dem Element Wasser, so dass wir hier von einem grundlegendem Dreiklang sprechen können: Seele-Weiblich-Wasser.

Über das Seelische (II): Die Seele ist weiblich

März 2021

Im dritten Teil dieser Serie von Beiträgen über die Landschaften der Seele geht es um die Tatsache, dass die Seele in ihrem Wesen zwar zutiefst weiblich ist, in ihrem Herzen aber etwas ebenso zutiefst männliches birgt. Es geht hier um unsere Königswürde oder kurz gesagt: Um unser EGO.

Über das Seelische (III): Das Männliche in der seelischen Landschaft

April 2021

Der vierte Teil dieser Serie befasst sich mit Instanz in unserer Seele, die zwischen den Gegensätzen und Polaritäten in meinem Inneren vermittelt. Es geht dabei um einen Integrationsleistung von inneren Anteilen im Dienste des Blühens und Gedeihens der Person.

Über das Seelische (IV): Die Vernunft

Mai 2021

In diesem fünften Teil der Serie geht es um den Atem, seine Verbindung zur Seele und wie die achtsame Beobachtung des Atemprozesses ein Weg zu einer Entdeckungsreise in die Landschaften der eigenen Seele sein kann.

Über das Seelische (V): Der Atem

Juni 2021

Der sechste Teil der Serie über das Seelische befasst sich mit Gefühlen und Emotionen. Gefühle sind natürlich mit das Erste, woran man denken würde, wenn es um die Frage geht, wie sich die Seele eigentlich bemerkbar macht. Allerdings sind nicht alle Emotionen wirklich von einer seelischen Qualität. Um die Klärung dieses Verhältnisses von Seele und Gefühl geht es in diesem Artikel:

Über das Seelische (VI): Gefühle und Emotionen

Juli 2021

Anknüpfend an den Blog-Beitrag vom letzen Monat wird in diesem Artikel der Frage nach dem Unterschied zwischen Gefühlen und Emotionen nachgegangen:

Gefühle und Emotionen – wo ist der Unterschied?

August 2021

Die "unterbrochene Hinbewegung" des Kindes zu den Eltern ist ein Standardthema in Familienaufstellungen und war auch hier im Blog mehrfach Thema. In diesem Beitrag geht es um die Wunden – und auch die Heilung dieser  Wunden – in der Seele, wenn die Hinbewegung zu einem Elternteil auch in einer Aufstellung nicht möglich ist.

Wenn die Hinbewegung zu den Eltern nicht möglich ist.

September 2021

In diesem Monat geht es in einem Beitrag um die Geschwisterliebe.

Oktober 2021

Nach dem im letzten Monat die Geschwisterliebe das Thema war, geht es diesen Monat um die Vaterliebe. (Und ein wenig auch um Krieg und Rockmusik … )

November 2021

Bei Aufstellungen gibt es sehr häufig einen Ablauf in drei groben Schritten: Hinwendung zu einer "alten Wunde", Neuerleben des Damaligen mit dem jetzigen Selbst in einer unterstützenden Umgebung und Reorientierung auf das Jetzt und den nächsten Schritt im Lebensvollzug. In diesem Blogbeitrag werden diese drei Schritte beschrieben und es wird eine Verbindung zum Vorgehen in der Traumatherapie gezogen.

Dezember 2021

Anlässlich des Jahreswechsels geht es in diesem Beitrag um den Zauber, der in jedem Neuem und in jedem Anfang liegt und um den notwendigen Abschied, den jeder Neuanfang beinhaltet.

Januar 2022

Familienaufstellungen haben Grenzen. Sie können zwar manchmal höchst unbewusste Prozesse erhellen und erstaunliche Synchronizitäten hervorbringen – aber sie sind weder ein Orakel noch eine Weissagungsmethode. Der Beitrag "Was eine Aufstellung nicht kann (und was man auch nicht versuchen sollte)" handelt von diesen Grenzen.

Februar 2022

In diesem Monat, im Februar 2022 ist der Krieg wieder unübersehbar in unser Bewusstsein getreten. Der Text "Von den langen Folgen des Krieges" thematisiert die Folgen der Kriege, die sich noch über die Generationen hinweg fortsetzten. Er handelt auch von dem Krieg in unserem Inneren.

März 2022

Wenn das Schicksal oder das Leben uns Schweres zumutet, könnten wir daran in der Seele Schaden erleiden. Es kann aber auch sein, dass wir daraus eine besondere Kraft erlangen, ein besonderes seelisches Gewicht. Davon handelt der Beitrag mit dem Titel "Die Kraft, die aus dem Schweren und dem Leid kommen kann."

April 2022

In diesem Monat geht es im Blog um Krieg und Frieden. Es geht um den Vernichtungswillen und seine Quellen, aber auch darum, in welchem größeren Feld wir uns bei Fragen von Krieg und Frieden bewegen und welcher Zusammenhang mit unserem inneren Frieden besteht:  "Kannst du Frieden machen?"

Mai 2022

Manchmal kommen Familienaufstellungen nicht zu ihrem Ziel, sie scheitern. Mitunter, aber nicht immer, ergeben sich trotzdem gute Folgen aus dieser Aufstellung. Der Blogbeitrag im Mai 2022 geht verschiedenen Formen des Scheiterns einer Aufstellung und ihrer Folgen nach:  "Wenn Aufstellungen scheitern – und manchmal gute Folgen haben"

Juni 2022

Familienaufstellungen und die hier wirkenden seelischen Kräfte und Dynamiken folgen bestimmten Regeln, welche vor allem von Bert Hellinger durch Beobachtung gefunden und unter dem Namen "Ordnungen der Liebe" systematisiert beschrieben wurden. Allerdings gilt auch hier:  Keine Regel ohne Ausnahme! Im Blogbeitrag für den Juni 2022 geht es um die Ausnahmen von den Regeln.

Juli 2022

In diesem Monat geht es im Blogbeitrag um das Schicksal und damit um Alles, was außerhalb unserer Kontrolle und Beeinflussung liegt. Der Beitrag fokussiert auf zwei Aspekte: Auf die segensreichen Wirkungen, die Schicksal neben seinen schlimmen Wirkungen auch hat und auf die Frage, wie wir uns zu unserem Schicksal stellen können. Mehr dazu im Beitrag "Das Schicksal und Ich".

August 2022

In diesem Beitrag geht es um eine Phantasiereise, eine Reise zu deinen Wurzeln, zu deinen Eltern. Noch genauer: Es geht um deine Eltern, als sie noch Kinder waren. Die Phantasiereise, die ich dir hier vorschlage, kann ähnliche Wirkungen wir eine Familienaufstellung haben. Mehr dazu hier: "Eine Familienaufstellung im Geiste".

Unpersönliche Gestalten in einer Aufstellung: Häuser, Wohnungen, Betriebe und Ähnliches

In diesem Beitrag soll es noch einmal darum gehen, dass manchmal in einer Aufstellung Positionen aufgestellt werden, die nicht Personen, konkrete Menschen sind. Nach dem es im vorletzten Beitrag um Länder oder Gebiete als Heimat ging und im letzten Beitrag um Krankheiten und Symptome, soll es hier um einige Weitere Gegebenheiten gehen, die man manchmal mit aufstellen muss, weil sie in engem Bezug stehen zu dem seelischem Geschen, welches als Anliegen eines Menschen das Thema der Aufstellung ist.

Häuser oder Wohnungen

Manchmal spielen Häuser oder Wohnungen so in ein Anliegen hinein, dass man sie als eigene Position aufstellen sollte. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das Haus oder die Wohnung schon länger, über mehrere Generationen hinweg, im Besitz der Familie ist. Die Bedeutung ist mitunter auch noch einmal stärker, wenn für das Thema wichtige Vorfahren oder gar man selber in diesem Haus geboren wurde.

Es mag auf den ersten Blick etwas merkwürdig erscheinen, wenn man z.B. ein Haus nicht nur aufstellt und dann die Person, um die es geht, fragt, wie es ihr mit dem Haus geht, sondern auch das Haus danach fragt, wie es ihm mit der Protagonistin oder dem Protagonisten geht. Hier stellt sich vielleicht die Frage, hat ein Haus überhaupt eine Stimme, ein Wollen, hat ein Haus etwas Seelisches?  
Ob ein Haus eine Seele hat, weiß ich nicht wirklich zu sagen. Aber es gibt etwas – da bin ich mir inzwischen durch Beobachtung in Aufstellungen recht sicher – was man am besten so beschreiben kann: Manchmal ist sozusagen in dem Gemäuer ein Geist eingewoben, zum Beispiel eben der Geist einer Familie über mehrere Generationen, der Geist der Ahnen. Und was dann über das Haus in der Aufstellung spricht, ist vielleicht der Geist der Vorfahren, die sich hier melden.

Grundsätzlich ist es meist so in den Aufstellungen, wenn man ein Haus wie eine Person sprechen lässt, dass ein Haus gerne einen guten Raum oder guten Rahmen bietet, für die Menschen, die es bewohnen. Das Haus ist zufrieden, wenn es belebt ist, wenn es den Bewohnern gut geht und insbesondere auch, wenn in dem Haus neues Leben einen Ort zum Aufwachsen findet, Häuser freuen sich oft über Kinder.

Es gibt aber noch etwas Anderes was hier eine Rolle spielen kann. Wenn den Bewohnern eines Hauses schweres Unrecht angetan wurde mit Bezug zu diesem Haus oder zu Wohnungen in diesem Haus, dann haftet auch dies im Gemäuer und wirkt auf spätere Bewohner, wenn auch mitunter sehr unterschwellig. Im Nationalsozialismus wurden Juden deportiert und ermordet und natürlich waren manche dieser Juden auch Immobilienbesitzer. Die entsprechenden Häuser oder Wohnungen wurden dann „arisiert“, gingen dann an sogenannte „Volksdeutsche“, oft zu einem Preis weit unter Wert. Und dann schwebt in dem Haus eben der geistige Abdruck dieses Geschehens: Das Unrecht aber auch, dass die neuen Bewohner einen Vorteil aus dem Unrecht an den alten Bewohnern gezogen haben.

In so einem Fall ist es zentral, dass das Unrecht und das schwere Schicksal der früheren jüdischen Bewohner anerkannt und gewürdigt wird.

Ähnlich gelagert dürfte der Fall sein, wenn neue Bewohner in Häuser einziehen, deren frühere Bewohner vertrieben wurden, meist unter Zurücklassung des gesamten Inventars wie Möbel und persönliche Gegenstände. Dies ist etwa im Rahmen der „Westverschiebung“ Polens nach dem zweiten Weltkrieg in vielen Fällen passiert. Und die neuen polnischen Bewohner von Häusern und Wohnungen, in denen ehemals Deutsche lebten, waren oft selber Vertriebene aus dem früheren östlichen Teil Polens, der dann zum Staatsgebiet der UdSSR gehörte. Man kann sich leicht vorstellen, dass durch die Übernahme von Möbeln und anderen Einrichtungsgegenständen der früheren Bewohner der Geist dieser ehemaligen Bewohner noch einmal deutlicher präsent ist.

Ich stand auch einmal als Stellvertreter für ein Haus in einer Aufstellung und in diesem Haus war ein Mord an dem Besitzer begangen worden, um sich danach das Haus anzueignen. Der Mord war nie polizeilich ermittelt oder gesühnt worden. Und die Empfindung in der Stellvertretung war eine starke Empörung. Das Haus fühlte sich empört über das Schicksal des früheren Besitzers, über die Tat und insbesondere über die Vertuschung der Tat. Es fühlte sich so an, als ob das Haus böse sei auf die jetzigen Bewohner, welche aber schon die nächste Generation nach dem Täter war. Tatsächlich lag wohl – wie man manchmal sagt – kein Segen auf diesem Immobilieneigentum für die nachfolgenden Bewohner. Es kam zu allerlei in der Häufung schwer erklärbaren Schäden, welche auf die Dauer die Finanzmittel der Nachgeborenen des Täters arg belasteten und es soll eine als „unheimlich“ beschriebene Atmosphäre in dem Haus geherrscht haben.

Firmen und Betriebe

Auch Firmen und Betriebe können eine seelische Auswirkung auf Menschen haben und sind deshalb manchmal in Aufstellungen vertreten. Dies gilt natürlich insbesondere, wenn es um Familienbetriebe handelt.

Wenn der Betrieb oder das Geschäft von der Person, für welche die Aufstellung gemacht wird, selbst gegründet wurde ist ein Zusammenhang mit einem wichtigen seelischem Thema oft unmittelbar evident. Die Gründung eines Unternehmens oder eines Betriebes entfaltet mitunter eine Eigendynamik, das Unternehmen verlangt für sein Gedeihen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Energie. Die Wirkung eines selbst gegründeten Unternehmens ist in mancher Hinsicht auf der seelischen Ebene vergleichbar mit einem eigenen Kind.

Aber auch für Nachfahren der Gründer können solche Familienbetriebe eine seelische Relevanz haben. Über das Unternehmen wirkt auf die Nachfahren der Geist der Ahnen. Die Entscheidung, seinen beruflichen Weg in diesem Familienunternehmen zu gestalten oder eben nicht, ist dann nicht mehr dasselbe wie wenn ich mich im Rahmen von Bewerbungen für den einen oder anderen Arbeitgeber entscheide, mit dem ich aber ansonsten nicht weiter verbunden bin. Die Entscheidung gegen eine Position in einem Familienunternehmen kann sich wie eine Entscheidung gegen die Vorfahren anfühlen. Und in manchen Fällen stellt es sich in einer Aufstellung so dar, dass für den beruflichen Erfolg außerhalb des Familienunternehmens nicht nur das Einverständnis und der Segen der Eltern nötig ist, sonder also ob auch der ausdrückliche Segen des Unternehmens erforderlich ist, um wirklich frei zu sein für eine Tätigkeit außerhalb des Familienbetriebes.

Mir scheint auch, dass ein solcher Einfluss besonders bei landwirtschaftlichen Betrieben besonders stark ist. Ich erinnere mich an eine Aufstellung, die für den Sohn eines Landwirtes durchgeführt wurde. Dieser hatte den väterlichen Hof, der seit Generationen im Familienbesitz bewirtschaftet wurde, nicht übernehmen wollen. Er war zum Studieren in eine Großstadt gezogen, hatte das Studium sehr erfolgreich absolviert, hatte aber große Schwierigkeiten in dem entsprechenden Berufsfeld Fuß zu fassen. In dieser Aufstellung haben wir auch den Hof aufgestellt und es war deutlich, dass es der Hof war, viel mehr als der Vater des Klienten, dem es wichtig war, dass der Hof in der Familientradition weiter geführt wurde. Es fiel dem Hof sehr schwer, sich mit der Vorstellung anzufreunden, dass er in naher Zukunft verkauft und in neue Hände übergehen würde. Und es sah so aus, also ob diese seelisch-geistige Wirkung des Hofes einen beruflichen Erfolg des Klienten in dem fremden Berufsfeld abseits der Landwirtschaft behindern würde. Er hat dann im Rahmen der Aufstellung den Hof gebeten, ihn frei zu geben für eine andere berufliche Tätigkeit. Dies kostete den Hof – in der Empfindung des Stellvertreters – einige Überwindung. Aber als der Hof sich dazu durchrungen hatte, dem Klienten den Segen zu geben für den beruflichen Erfolg abseits der Landwirtschaft, hatte dies eine entscheidende Stärkung und Erleichterung bei dem Klienten zur Folge.

Der Wechsel des beruflichen Tätigkeitsfeldes

In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch etwas erwähnen, was ich in Aufstellung immer wieder einmal sehen konnte und bei dem man es auch mit Gestalten in der Aufstellung zu tun hat, die nicht wirklich menschliche Personen sind.

Wenn ein Mensch nach längerer Zeit in einem bestimmten beruflichen Feld sich dazu entschließt, einen Neuanfang in einem ganz anderen beruflichem Tätigkeitsgebiet zu betreiben, dann ist auch hier in vielen Fällen für das Gelingen der Segen des alten Berufes wichtig. Natürlich wechselt man ein berufliches Feld nur dann, wenn man mit der bisherigen beruflichen Tätigkeit nicht mehr zufrieden ist oder nicht mehr gut zu Recht kommt. Bei einer solchen Entscheidung wird ein Mensch daher natürlich meist keine besonders guten Gefühle für die bisherige Tätigkeit hegen. Es ist ja das, wovon ich weg möchte. Vielleicht, weil es mich nicht mehr erfüllt. Vielleicht weil mir die Sinnerfüllung in dieser Tätigkeit abhanden gekommen ist.

Es ist also nicht gerade naheliegend, sich positiv auf diese Tätigkeit und dieses Berufsfeld zu beziehen. Aber gerade dann erweist sich (meist) als notwendig, sich noch einmal in Dankbarkeit dem Beruf, den ich zu verlassen gedenke, zuzuwenden. Es geht um die Dankbarkeit dafür, was mir der alte Beruf gegeben hat und war mir ermöglicht hat, gerade wenn ich länger in ihm tätig war. Im Kern geht es darum, dem alten Beruf, vertreten durch eine Stellvertreterperson, noch einmal in die Augen zu schauen und zu sagen: „Danke, dass du mich all die Zeit ernährt hast, mir ermöglicht hast, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten!“ Das ist ja nicht gerade unwichtig. Und manchmal ist vielleicht auch ein Dank angebracht für das, was man in diesem Beruf lernen konnte und durfte.

Auch hier wirkt es sich günstig aus, wenn der alte Beruf mir den Segen erteilt für den Erfolg im neuen Beruf. In der Tat ist es oft so, dass der Stellvertreter für den neuen Beruf in der Aufstellung erst dann eine gute Beziehung zum Klienten aufbaut, wenn dieser sich in Dankbarkeit vom alten Beruf verabschiedet und dessen Segen erhalten hat.

Unpersönliche Gestalten in einer Aufstellung: Krankheiten und Symptome

Im letzten Blogbeitrag ging es am Beispiel von Ländern oder auch Gegenden um überpersönliche, also kollektive Gegebenheiten, die wie eine Person in einer Aufstellung aufgestellt werden. In ähnlicher Weise soll es in diesem Beitrag um Krankheiten bzw. Symptome gehen, die man in einer Aufstellung durch eine Stellvertreterperson einführen kann und manchmal auch muss. Ich spreche hier von unpersönlichen (statt von überpersönlichen) Gestalten. Wenn wir eine Krankheit oder auch ein Symptom benennen, ist dies natürlich nicht wirklich eine Person, auch wenn eine Person als Stellvertreter dafür aufgestellt wird. Die Krankheit ist etwas eher Abstraktes, etwas Unpersönliches. Aber sie ist nicht in dem Sinne kollektiv, dass alle konkreten Menschen einer bestimmten Menschengruppe eben dazu gehören. Eine bestimmte Krankheit befällt bestimmte Menschen, andere aber nicht. Und auch die Ausprägung der Symptomatik kann individuell sehr verschieden sein.

Wann und warum stellt man Krankheiten oder Symptome auf?

Natürlich ist es oft so, dass eine Erkrankung oder Symptomatik überhaupt der Anlass für eine Aufstellung ist, das Anliegen der Aufstellung ist also dadurch bestimmt. Das bedeutet aber nicht zwingend in jedem Fall, dass man bei solchen Anliegen auch die Krankheit oder das Symptom als eigenständige Position einführen muss. Generell scheint mir, dass man sich bei Krankheiten / Symptomen in einer Aufstellung davor hüten sollte, hier zu „medizinisch“ zu denken oder die Aufstellung als eine Art von „Behandlung“ oder Therapie zu sehen[1].

Bei einer Aufstellung geht es ja – zumindest in meinem Verständnis – um die Bewegungen der Seele. Und das wäre die Leitfrage: Benötige ich in diesem konkreten Fall wirklich die Krankheit als Position in der Aufstellung, um die damit verbundene seelische Bewegung und die mögliche Lösung, wo also die Seele hin will, aufzuzeigen und somit der Person, um die es geht, eine Erleichterung zu verschaffen? Das ist nicht immer der Fall. Das mag erst einmal irritierend klingen. Man könnte ja denken: Ja, wenn es doch um die Krankheit geht, welche den Lebensvollzug einschränkt, wie kann es dann sein, dass die Krankheit nicht aufgestellt wird?

Die Krankheit / das Symptom und der Bezug zur Herkunftsfamilie

Sehr oft ist es so, dass bei einer schwerwiegenden Erkrankung der Bezug zur Herkunftsfamilie unmittelbar augenfällig ist. Wenn z.B. eine Frau an Brustkrebs erkrankt ist und man fragt: „Hatten andere Personen in deiner Herkunftsfamilie auch mit einer Brustkrebserkrankung – oder allgemeiner: mit einer Krebserkrankung überhaupt oder noch allgemeiner: mit einer schweren und lebensbedrohlichen Erkrankung – zu tun?“ und die Antwort dann wäre, dass sowohl die Mutter wie auch die Mutter Brustkrebs hatten und die Großmutter auch daran verstorben ist, dann ist die Hypothese einer systemischen Verstrickung sehr naheliegend.

In diesem Fall würde man vielleicht die Klientin, deren Mutter und deren Großmutter aufstellen. Und es könnte sich zeigen, dass die Seele der Klientin den Brustkrebs als Mittel benutz, um den weiblichen Ahnen nahe zu sein, um mit den weiblichen Ahnen verbunden zu sein und vielleicht auch, um etwas für die weiblichen Ahnen mitzutragen. Und die Lösung wäre vielleicht, dass die Klientin zu den weiblichen Vorfahren etwas sagt: „Ich sehe und achte euer schweres Schicksal!“ Und dann vielleicht an die Vorfahrinnen gewandt noch sagt: „Bitte, segnet mich, wenn ich vollständig gesunde!“ oder auch „Ich bleibe mit euch verbunden, auch ohne die Erkrankung!“

In so einem Fall benötigt man nicht unbedingt die Erkrankung selber als eigenständige Position in der Aufstellung, auch wenn natürlich in meinem Beispiel der Brustkrebs im Feld präsent ist. Aber wir müssen in diesem Fall vielleicht nicht den Brustkrebs als stellvertretende Wahrnehmung dabei haben, um etwas über die Intention des Brustkrebses zu erfahren.

Ich schreibe das hier bewusst vorsichtig in der Formulierung. Das Gesagte soll eben nicht bedeuten: Immer wenn der seelische Hintergrund der Erkrankung eine Verstrickung im Familiensystem bedeutet, eine „ich folge dir nach“ Struktur sich zeigt, man eben die Krankheit selbst oder die Symptomatik nicht aufstellt. Mitunter kann es sich auch in solchen Fällen als hilfreich oder gar notwendig erweisen, die Krankheit aufzustellen, weil sich darüber etwas näher klären lässt, in welcher Weise genau die Erkrankung für die Seele der Ahninnen wichtig war und vielleicht auch dann ähnlich bei der Klientin für die Seele wichtig ist.

Die Krankheit / das Symptom und der jetzige Lebensbezug

In anderen Fällen zeigt sich bei einem Aufstellungsanliegen vielleicht kein (deutlicher) Bezug zum familiären Herkunftssystem. Es erscheint eher so, als ob es für die Seele bei der Erkrankung darum ginge, einen inneren Konflikt zum Ausdruck zu bringen oder eine grundlegende Entscheidung in Bezug auf die Lebensführung zu befördern oder vielleicht auch, über die Erkrankung mit schicksalhaften Kräften in Berührung zu kommen. In so einem Fall schauen wir dann in der Aufstellung nicht auf die Herkunft der Person, um die es in der Aufstellung geht, sondern auf die jetzige Lebenssituation der Fokusperson in der Aufstellung. Welche Entscheidungen stehen hier an? Welche Entwicklungsprozesse und Reifungsstufen stehen vielleicht in Zusammenhang mit der Erkrankung? Wie ist es mit dem Lebenssinn der Fokusperson bestellt? Oder auch: Was wird durch die Erkrankung verhindert, was würde ich sofort tun, wenn die Erkrankung nicht wäre?

In solchen Fällen ist die Erkrankung oder das Symptom als Position in der Aufstellung oft sehr hilfreich. Man kann dann über die Stellvertreter, ihre unmittelbaren Reaktionen aber auch ihre Antworten auf Fragen, Hinweise darauf bekommen, was das eigentliche Anliegen der Erkrankung ist. Worauf möchte die Erkrankung mich aufmerksam machen? Was möchte die Erkrankung bei mir verhindern?

Ebenso spielt hier die Frage eine Rolle: Ist es überhaupt etwas „Persönliches“ in einem engeren Sinne? Geht es der Erkrankung wirklich im Kern um diese konkrete Person? Oder hat sich die Erkrankung im Lebensraum dieser Person niedergelassen, weil es nun mal „ihr Job“ ist, eine bestimmte Anzahl von Menschen zu befallen und diese Person gerade gut verfügbar war? So etwas zeigt sich in der Aufstellung, wenn man die Stellvertreterperson für die Erkrankung danach befragt, wie es ihr mit der Fokusperson in der Aufstellung geht.

Aber auch hier ist es so: Man kann hier keine Regel formulieren etwa in dem Sinne, immer wenn eine Erkrankung das Thema der Aufstellung ist und es nicht zentral um eine Familiensystemdynamik dabei zu gehen scheint, soll man die Erkrankung aufstellen. Auch ohne eine Verankerung des Themas in der Herkunftsfamilie und dem Ahnensystem könnte eine solche Aufstellung ohne eine explizite Stellvertreterperson für die Erkrankung auskommen. Es könnte sein, dass man vielleicht eine Entscheidungssituation aufstellt, also z.B. eine Stellvertreterperson für die eine Alternative und eine andere Stellvertreterperson für die andere Alternative der Entscheidung. Oder man stellt einen inneren Konflikt auf, der mit der Erkrankung zusammen hängt. Oder vielleicht stellt man auch „das Schicksal“ auf. Das wäre dann viel größer und umfassender als die konkrete Erkrankung.

Die Krankheit oder das Symptom aufstellen?

Ich habe bislang immer austauschbar über „die Krankheit“ bzw. „das Symptom“ gesprochen. Mein Eindruck aus den Aufstellungen ist: Dies ist nicht ganz dasselbe. Es macht einen Unterschied, ob ich die aufgestellt Gestalt als eine bestimmte Krankheit aufstelle oder als ein konkretes Symptom. Dieser Unterschied ist auch für die entsprechenden Stellvertreter wichtig. Mir scheint, es macht auch hier einen Unterschied, ob ich mich in eine Krankheit oder in ein Symptom einfühle.

Worin liegt nun dieser Unterschied? Das finde ich schwer zu beschreiben. Die Entscheidung in einer Aufstellung fällt ja auch nicht anhand von irgendwelchen Überlegungen, sondern in welche Richtung die Mitteilungen aus dem Feld gehen. (So sollte es zumindest sein.) In der Leitung einer Aufstellung spüre ich meist schon in der Vorbesprechung deutliche innere Signale, ob hier die Krankheit oder das Symptom aufgestellt werden soll. Aber ich könnte das in der Situation oft nicht wirklich begründen, warum das eine oder das andere.

Rückblickend kann ich vielleicht ein paar grobe Tendenzen beschreiben, aber das ist für mich noch sehr hypothetisch. Vielleicht fällt die Wahl eher auf das Symptom statt auf die Krankheit, wenn es zentral darum geht, was wird durch die Erkrankung verhindert oder auch wird durch die Krankheit ermöglicht für die von der Erkrankung betroffene Person? Dieser Aspekt wäre ziemlich „handlungsnah“. Es geht um die ganz praktische und alltägliche Lebensführung.    
Dagegen würde die Wahl vielleicht eher auf „Krankheit“ statt „Symptom“ fallen, wenn es eher um den Lebenssinn der Fokusperson geht oder auch, wenn über die Erkrankung sich so etwas wie eine „Reifungskrise“ ausdrückt, wenn also ein Mensch einen Übergang in eine grundlegend neue Lebensphase durchlebt und die Erkrankung bei der „Initiation“ in diese neue Lebensphase mitwirkt.

Aber das sind von meiner Seite aus vorläufige und tastende Versuche, den Unterschied zu beschreiben. Und die Beschreibung ist vielleicht nicht mehr als der Ausdruck meines derzeitigen Standes im Irrtum. Es ist für die Aufstellung auch nicht wichtig, zu verstehen, warum genau im Einzelfall entweder die Krankheit oder das Symptom aufgestellt wird, solange aus dem wissenden Feld klare Signale für das eine oder das andere vernehmbar sind.

Die Krankheit / das Symptom als Freund und Begleiter

Ein letzter Punkt scheint mir bei diesem Thema noch wichtig. Wenn in einer Aufstellung eine Krankheit oder ein Symptom über eine Stellvertreterperson aufgestellt wird, ist es in den allermeisten Fällen im Verlauf der Aufstellung so, dass die Fokusperson sich bei der Krankheit bzw. bei dem Symptom bedankt. Dies mag verwundern, weil man ja üblicherweise die Krankheit oder das Symptom eher „weg haben“ möchte. Wir möchten, dass die Krankheit oder das Symptom eben nicht in unserm Leben präsent ist. Vielleicht möchten wir die Krankheit oder das Symptom auch bekämpfen. Der Gedanke, mich bei diesem Gegner auch noch zu bedanken, erscheint bei dieser Intention absurd.

Und doch ist es so, dass der Dank an die Krankheit oder an das Symptom sehr oft eine entscheidende Rolle bei der Lösung spielt. Mit der Dankbarkeit, so sieht es in der Aufstellung oft aus, kann sich die Krankheit oder das Symptom dann auch zurückziehen.

Warum ist das so? Vielleicht können wir sagen, die Erkrankung hilft uns, auf ein bestimmtes Thema aufmerksam zu werden. Die Erkrankung unterstützt uns bei grundlegenden Lebensveränderungen. (Weil: Ohne dies würden wir diese Veränderungen nicht vornehmen.) Und letztlich ist eine schwerwiegende Erkrankung natürlich auch ein langfristiger Begleiter in meinem Leben, ein treuer Begleiter. Hört sich das zynisch an? Ich meine es nicht zynisch. Aber es ist ja eine Tatsache: Eine schwere Erkrankung ist eine Herausforderung! Und wie bei vielen anderen Dingen auch, die für uns schwer und herausfordernd sind, kann man zumindest rückblickend meist ganz gut angeben, warum und in welcher Weise mir diese Herausforderung genutzt hat. Vorausgesetzt natürlich, die Herausforderung war keine Überforderung. Aber auch dies kann meist nur rückblickend entschieden werden.

Ich hatte ja oben davon gesprochen, dass wir natürlich dazu neigen, die Erkrankung als Gegner bekämpfen zu wollen. Dies ist auch die medizinische Denkweise und hier hat sie auch eine gewisse Berechtigung. Vielleicht können wir die Gegnerschaft aber auch so sehen, wie einen Gegner z.B. im Schachspiel oder in einer Sportart wie z.B. Tennis. Wenn wir an diese Dinge denken, ist es überhaupt nicht absurd, wenn ich mich etwa nach einer interessanten Schachpartie bei meinem Gegner bedanke. Er, der Gegner, hat mich vielleicht in dieser Partie an die Grenzen meiner Fähigkeiten gebracht und vielleicht sogar ein kleines Stück darüber hinaus. Und für das, was ich da lernen durfte und für den Anreiz für meine Weiterentwicklung kann ich mich durchaus bedanken, da ist überhaupt nichts Absurdes dabei.
Diese Sichtweise würde natürlich auch bedeuten, das Leben insgesamt (auch!) als Spiel zu betrachten. Ein großes Spiel, ein durchaus oft sehr ernstes Spiel – aber eben doch auch ein Spiel. Und was wäre ein solches Spiel wie Schach ohne einen Gegner?


[1] In einem anderen Beitrag hatte ich etwas dazu geschrieben, ob man eine Familienaufstellung als Therapie ansehen kann bzw. ob Aufstellungen eine Therapiemethode sind. Hier hatte ich die Ansicht vertreten, dass Aufstellungen nicht wirklich eine Therapie oder Therapieform sind, aber profunde therapeutische Wirkungen haben können. Diese therapeutischen Wirkungen stellen sich aber paradoxerweise eher dann ein, wenn man sich von einem therapeutischen Denkansatz, in dem es um die Beseitigung einer Störung geht, löst.

Überpersönliche Gestalten in einer Aufstellung: Das Land als Heimat

Mitunter erweist es sich in einer Aufstellung als notwendig für ein bestimmtes Thema, nicht nur Stellvertreter für die Person selbst und z.B. wichtige Mitglieder der Herkunftsfamilie aufzustellen, sondern in die Aufstellung auch als Position etwas einzuführen, was überpersönlich ist. Dies kann etwa das Herkunftsland sein, wenn jemand oder seine Familie das Herkunftsland und dessen Kultur verlassen hat und in ein anderes Land und eine andere Kultur migriert ist.

Wenn wir solch eine Position in einer Aufstellung haben, spreche ich von „Gestalten“, um damit auszudrücken, dass es sich hier nicht um konkrete Personen handelt, sondern um etwas Überpersönliches oder etwas Kollektives.    
In einer Aufstellung geht es ja um Bewegungen der Seele und in unserer Seele – in jedem Menschen – hausen eben auch Gestalten und damit verbundene seelische Kräfte, die nicht oder nicht nur mit konkreten Personen aus meiner Herkunftsfamilie verbunden sind, sondern die einen übergreifenden Charakter aufweisen.

In diesem Beitrag will ich mich damit beschäftigen, in welcher Weise Länder in einer Aufstellung eine Rolle spielen (können). Andere solche überpersönlichen Gestaltungen in der Seele können die sogenannten „Archetypen“ sein. Dies sind mythologische Figuren, die wir aus Märchen, Sagen und Göttervorstellungen kennen und die im kollektiven Unbewussten von Menschen verankert sind. Ebenfalls unpersönlich bzw. überpersönlich kann man manchmal auch eine Krankheit als Position in eine Aufstellung einführen, oder auch ein Unternehmen oder eine Ideologie oder dergleichen, wenn es seelische Bedeutsamkeit hat und für das Anliegen, welches in der Aufstellung bearbeitet wird, wichtig ist.

Hier soll es aber – wie gesagt – um Länder gehen. Und dies muss ein wenig erläutert werden, weil hier Missverständnisse möglich sind, durch welche dann mit einem Mal alles falsch wird. Hier wäre zuallererst auf den Unterschied zwischen Land und Staat einzugehen.

Land und Staat

In einer Aufstellung interessiert uns die Wirkung, die ein Land auf meine Seele hat. Und hier müssen wir, nach dem Eindruck, den ich bislang in Aufstellungen gewonnen habe, zwischen Land und Staat unterscheiden. Ein Staat ist im Kern ein verwaltungstechnisches Konstrukt, welches bestimmt, welchen gesetzlichen Bestimmungen ich unterliege und welche Steuern ich an welche Institution zu zahlen habe, wenn ich in diesem Staat wohne. Ein Staat hat aber keine Seele und damit keine seelische Qualität in der Wirkung auf seine Einwohner. Anders sieht es mit einem Land aus, wenn wir damit das Lebensgebiet einer Bevölkerung meinen, die durch eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Kultur, gemeinsame Bräuche und vielleicht auch gemeinsame Geschichten und Mythologien verbunden ist. Dies hat eine seelische Qualität und somit auch seelische Auswirkungen, die wir vor allem damit verbinden, was wir unsere Heimat nennen.

Die seelische Wirkung von einem Land als Heimat ist natürlich auch über meine Familie vermittelt. Hier wäre vor allem die Muttersprache zu nennen, die wir erlernen in der frühen Kindheit. Allein das Wort „Muttersprache“ verweist ja sehr deutlich auf die Mutter, also auf einen Elternteil. In einem weiteren Sinn kann man vielleicht auch sagen, wo meine Heimat ist, wird dadurch bestimmt, wo die Gebeine meiner Vorfahren in der Erde liegen. So hat es zumindest Bert Hellinger einmal ausgedrückt. In der Familienaufstellung geht es bei den Vorfahren ja immer um meine Wurzeln, und die Gegend auf diesem Globus, wo die Vorfahren beerdigt sind, verwurzelt uns somit seelisch mit dieser Gegend, diesem Landstrich und den dortigen Sitten und Gebräuchen.

Auch hier sieht man – wie ich finde – den Unterschied zu einem Staat. Ein bestimmtes Land mit seinem Volk und seiner Kultur kann im Rahmen von geschichtlichen Prozessen zum Beispiel von einem anderen Staat erobert und in das Staatsgebiet eingegliedert werden. In der Seele bleibt das Land aber über Sprache und Kultur präsent. Um ein Beispiel zu nennen: Durch die historischen Teilungen hat es Polen in verschiedenen Phasen der Geschichte als Staat nicht gegeben, das Gebiet und seine Bevölkerung wurden staatlich z.B. zwischen Preußen, Russland und Österreich aufgeteilt. Trotzdem lebte das polnische Volk und sein Sprache und Kultur natürlich weiter. Und dieser Aspekt ist der seelisch relevante, Politik, Verwaltung und Staatsgrenzen interessieren die Seele nicht. (Obwohl sie natürlich praktisch im Alltagsleben große Auswirkungen haben können.)

Die Wirkungsweise von Ländern in der Seele

In einer Aufstellung behandeln wir Länder – im Sinne eines Sprach- und Kulturraumes – wie Personen. Das bedeutet, für die Aufstellung wird eine Stellvertreterperson ausgewählt, in der Aufstellung platziert und nach ihren Emotionen, ihrem Befinden und ihren Beziehungen zu anderen Positionen der Aufstellung befragt. Allerdings handhabe ich es meist so, dass ich Länder bzw. die Stellvertreter für Länder in einer Aufstellung auf einen Stuhl stelle. Da es sich hier um etwas handelt, was kollektiv ist, ist diese Gestalt in einer Aufstellung größer als jede einzelne Person und dies kann man eben dadurch adressieren, dass die Stellvertreterperson auf einem Stuhl steht.

Was sich in Aufstellungen zeigt ist, dass Länder gegenüber den ihnen zugehörigen Personen oft wie Eltern gegenüber ihren Kindern empfinden. Noch genauer: Eigentlich wie eine Mutter gegenüber ihren Kindern, weshalb meinem Eindruck nach Länder in einer Aufstellung auch eine deutlich weibliche Qualität haben.

Und was möchte eine Mutter normalerweise für Ihre Kinder? Sie möchte, dass es Ihnen gut geht, dass sie sich entwickeln können, dass sie ein erfülltes Leben haben. Ein Land leidet, wenn es der Bevölkerung – aus welchem Grund auch immer – nicht gut geht. In vielen Fällen – allerdings nicht immer – ist ein Land auch traurig, wenn seine Kinder, die Landeskinder, das Land verlassen oder verlassen müssen. Aber diese Trauer ähnelt eher dem manchmal durchaus etwas wehmütigen Abschiedsschmerz, den Eltern empfinden mögen, wenn ein Kind das Elternhaus verlässt um in die Eigenständigkeit des eigenen Lebens aufzubrechen. Und Länder erfreuen sich daran, wenn es den Landeskindern im fremden Land gut geht. Es erscheint mir manchmal so, als ob das Land sagen würde: „Durch dein Dasein und dein Wirken im fremden Land: Künde dort von mir!“. (Aber vielleicht ist das auch nur eine Vorstellung oder ein Phantasie, welche ich an den Prozess herantrage, ich bin mir da nicht ganz sicher.)

Was ich aber häufiger schon erlebt habe: Es ist einem Land sehr recht, wenn die Landeskinder, auch wenn sie ihr ganzes Leben oder einen großen Teil ihres Lebens in der Fremde verbracht haben, nach dem Ableben in der Erde dieses Landes beerdigt werden.

Das Kind mit Eltern aus zwei unterschiedlichen Kulturen

Nun gibt es natürlich auch oft die Situation, dass sich zwei Menschen mit unterschiedlichen Heimatländern zusammen tun und gemeinsam ein Kind (oder auch mehrere Kinder) haben. Wie verhält es sich hier? Hier habe ich es mehrfach erlebt, dass es sich gut auswirkt für diese Kinder, wenn sie auf die beiden Heimatländer der Eltern schauen und zu jedem Heimatland sagen können: „Ich bin eines deiner Kinder. Und ich gehöre aber auch – gleichzeitig – zu jenem anderen Land.“

In diesem Fall ist es auch nicht ganz unwichtig, wie die Beziehung der beiden Länder untereinander sich gestaltet. Ich habe da auch schon gewisse Eifersüchteleien zweier Länder erlebt bei der Frage, zu wem denn nun dieses Menschenkind „eigentlich“ oder zumindest stärker gehört.

Variation des Themas: Das Gebiet

Im Rahmen von Aufstellungen in den letzten knapp 25 Jahren habe ich aber noch ein anderes Phänomen beobachten können, das ähnlich wie ein Land / Volk / Kulturraum reagiert, aber ohne Bezug auf ein konkretes Volk bzw. eine konkrete Kultur.

Manchmal verhalten sich besondere Gebiete oder Regionen, etwas was man in einem Nationalstaat vielleicht als Provinz bezeichnen könnte, zu ihren Bewohnern und den Menschen, die dort geboren werden und aufwachsen wie Länder zu ihren Landeskindern.

Ein prägnantes Beispiel, dass ich bereits häufiger in Aufstellungen erleben durfte, wäre Schlesien. Diese Gegend fungiert öfter für Menschen als Heimat (im Sinne von: wo meine Vorfahren lebten und begraben sind) unabhängig von Sprache, Kultur und Nationalität. Oder besser gesagt: Übergreifend über Sprache, Kultur und Nationalität. Ich habe das schon bei hier in Deutschland lebenden Polen erlebt, wo sich als wirksamer Bezugspunkt in Bezug auf Heimat eben nicht „Polen“, sondern „Schlesien“ ergab. Und ganz ähnlich bei Deutschen, deren Vorfahren in Schlesien lebten und welche vielleicht geflüchtet sind oder vertrieben wurden.

Hier scheint es so, als ob die Gestalt Schlesien auch Landeskinder hat und sie ist diesen ihren Landeskindern gleichermaßen zugewandt, völlig unabhängig davon, ob die Sprache und Kultur dieser Landeskinder polnisch, deutsch oder auch böhmisch, tschechisch oder was auch immer sein mag. Die Zugehörigkeit dieses Gebietes Schlesien zu Staaten oder (König)Reichen war ja in der Geschichte höchst wechselhaft, mal gehörte das Gebiet zu Böhmen, mal zu Preußen, mal zur österreichischen K&K-Monarchie, mal zu Polen und mitunter in unterschiedlichen Aufteilungen zu Mehrerem gleichzeitig.

Vielleicht, aber das ist nur eine Vermutung, bildet sich eine solche eigenständige Identität einer Region, eigenständig gegenüber Ländern als Sprach- und Kulturräumen und dann eben auch eigenständig in der seelischen Wirksamkeit, besonders dann heraus, wenn diese Region für lange Zeit umkämpft und umstritten war und diese Region dann auch von unterschiedlichsten Volksgruppen besiedelt wurde?

Variation des Themas: Der Bauernhof

Ich habe es auch einmal in einer Aufstellung erlebt, dass das Land eine zentrale Rolle für die Aufstellung spielte, aber in einer sehr viel kleineren Einheit, was das Land anging. In dem Fall ging es nämlich um einen Bauernhof und das zugehörige zu bewirtschaftende Land. Der Mann, für den wir die Aufstellung gemacht haben, stammte aus einer Bauernfamilie und das Land, welches sein Vater als Landwirt bewirtschaftet, war schon seit Generationen im Familienbesitz. Eigentlich wäre dieser Mann als Nachfolger seines Vaters vorgesehen gewesen, also dass er den Hof erbt und den bäuerlichen Betrieb weiterführt.

Er hat sich dann aber dagegen entschieden und stattdessen das Dorf und den Bauernhof verlassen, um in einer Großstadt zu studieren. Hier hat er auch sehr erfolgreich einen sehr guten Abschluss gemacht, hatte allerdings danach die schwer erklärliche Situation, dass er trotz bester Qualifikation beruflich nie wirklich erfolgreich sein konnte in seinem Beruf.

In der Aufstellung hatten wir dann irgendwann einen Stellvertreter für den Bauernhof und das damit verbundene Land eingeführt in die Aufstellung. Und es ergab sich die Lösung dadurch, dass der junge Mann den Hof intensiv anschaute und ihm in etwa sagte: „Ich bin bei dir auf die Welt gekommen und groß geworden. Du hast viele meiner Vorfahren mit einem Einkommen und einem Lebenssinn versorgt. Dafür danke ich dir! Es fällt mir auch nicht leicht, mich von dir zu lösen, aber mein Lebensweg ist ein anderer. Mich ruft beruflich etwas Anderes.“ Der Hof war sehr traurig und äußerte etwas in der Art: „Ich wäre gerne weiter mit deiner Familie verbunden geblieben, mit dir in der nächsten Generation und vielleicht auch darüber hinaus mit einem Sohn von dir.“ Der entscheidende Schritt war dann, als der junge Mann den Hof bat: „Bitte segne mich, wenn ich in einem anderen Beruf erfolgreich werde!“ und der Hof diesen Segen, durchaus mit schwerem Herzen aber trotzdem von Herzen erteilte.

Hier wirkte auch das Land und die Heimat (und auch die Familientradition) deutlich in die Seele dieses Mannes hinein. Allerdings nicht in der größeren Form als Land und Heimat eines ganzen Volkes, sondern in der kleineren Form als Hof und Land und Heimat einer Familie.

Einige (unsortierte) Gedanken über das Gute und das Böse

Vor dem Schreiben dieses Blogbeitrages bin ich mehre Tage mit dem Thema sozusagen schwanger gegangen. Es kam mir in den Sinn, etwas über das sogenannte Gute und das sogenannte Böse zu schreiben. Ich weiß nicht aus welcher Quelle der Gedanke kam. Gleichzeitig stellte sich bei mir aber auch eine Scheu dem Thema gegenüber ein. Hier war das Gefühl, das Thema sei zu groß, ich sei dem Thema nicht gewachsen. Ich nähere mich diesem Thema daher erst einmal recht unsystematisch. Ich greife einige Facetten des Themas auf. Es entstehen eher Fragen als Antworten.

Der nationalsozialistische Täter in der männlichen Ahnenreihe

Ich erinnere mich noch an eine Aufstellung, bei der ein Mann seine männliche Ahnenlinie aufstellen wollte. Was ihn dabei umtrieb und besorgt machte, war ein Großvater, der ein überzeugter Nazi und Mitglied der Waffen-SS war und in dieser Funktion viele Menschen umgebracht hat. Der Mann hatte zwei Kinder, zwei Söhne im Grundschulalter. Seine Sorge war, dass sich der Großvater – auch Sicht der Söhne der Urgroßvater – der ein Täter im Nationalsozialismus war, sich negativ auf die Söhne auswirken könne.

Wir haben das aufgestellt, den Mann mit dem Anliegen, seine Söhne, seinen Vater und dessen Vater, den Nazi-Täter. Und auch noch dessen Vater und den Großvater des Täters.

Ich wollte die Stellvertreter zunächst als eine Reihe von Vätern und Söhnen aufstellen, immer der jeweilige Vater steht hinter seinem Sohn. In der Reaktion der Stellvertreter zeigte sich, dass dies nicht ging. Sowohl der Großvater des Klienten, also der Täter, wollte nicht in dieser Reihe stehen, er stellt sich mit Vehemenz abseits. Aber auch alle anderen in der Reihe, sowohl diejenigen, die vorher waren wie diejenigen die nachher waren, also der Klient und der Vater des Klienten, wollten den Täter nicht in ihrer Reihe haben, mit gleicher Vehemenz.

Über eine Reihe von Zwischenschritten, die ich hier auslasse, war es dann aber als Endpunkt eines längeren Prozesses möglich, dass der Täter in der Reihe stand und seine Vorfahren zu ihm sagen konnten: „Du gehörst dazu!“ Und auch die Nachfahren konnten sich dann umdrehen und dem Vater bzw. Großvater sagen: „Du gehörst dazu!“ Ich hatte die beiden Söhne des Klienten nicht in die Reihe gestellt, sondern sich vor ihrem Vater auf den Boden setzen lassen. Sie hatten dem Geschehen mit Beklemmung zugesehen. Als der Täter in der Reihe stand, die anderen sagen konnten „du gehörst dazu!“ und auch er selber sagen konnte „ich gehöre dazu!“, entspannten sich die Kinder.

Man könnte sagen, die Integration des Bösen bewirkt hier etwas Gutes. In diesem Fall war es so. Können wir das Verallgemeinern? Ich bin da skeptisch, daraus eine Regel machen zu wollen, erscheint mir als Verflachung dessen, was in diesem Einzelfall als gute Kraft erlebt wurde. Aber die offene Frage bleibt: Wie gehen wir mit dem (sogenannten) Bösen um, etwa in unserer Familiengeschichte?

Der Segen der bösen Tat

Im individuellen Bereich kann man manchmal beobachten, dass ein Mensch, der anderen Menschen Schaden zugefügt hat, der also schuldig geworden ist, in dem Erkennen der eigenen Schuld, in dem ehrlichen Bedauern der schädlichen Wirkung eigener Handlungen, zu einer eigentümlichen persönlichen Kraft findet. Ein solcher Mensch kann mitunter Großes leisten für eine Befriedung von Konflikten oder eine Versöhnung. Die Kraft, die hier durch solche Menschen wirkt, finden wir nicht bei Menschen, die immer kindlich unschuldig geblieben sind. Hier fehlt meist die Kraft zu außergewöhnlichen Handlung im Dienste des – und auch hier schreibe ich etwas distanzierend – sogenannten Guten.

Heißt dies, dass wir erst Böses tun müssen, bevor wir zum Guten wirken können? Natürlich nicht. Auch hier: Man kann daraus keine Regel machen. Aber das Phänomen bleibt, das manchmal aus der bösen Tat auf längere Sicht sich gute Wirkungen ergeben.

Bei Schiller heißt es im Wallenstein: „Das eben ist der Fluch der bösen Tat, daß sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.“ Ich will nicht bezweifeln, dass es diesen Fluch der Bösen Tat gibt. Aber es gibt eben auch – mitunter – den Segen der bösen Tat.

Was sollen, was können wir damit machen?

Der Holocaust und der Staat der Juden

Ich hörte vor einiger Zeit einen US-amerikanischen Podcast, in welchem es ein Gespräch mit einem Argentinier gab über ein recht breites Spektrum von geistig-philosophischen und spirituellen Fragen. Der Argentinier, ein noch recht junger Mann, wirkte auf mich erstaunlich weise, eine Art Altersweisheit, die man in diesen jungen Jahren eigentlich nicht erwartet. In Erinnerung geblieben ist mir aber besonders eine Aussage von ihm im Verlaufe des Gesprächs. Er sagte an einer Stelle, ich zitiere jetzt nicht wörtlich sondern sinngemäß aus dem Gedächtnis: Die systematische Ermordung von Millionen Juden in der Zeit des deutschen Nationalsozialismus sei natürlich ein fürchterliches Verbrechen gigantischen Ausmaßes gewesen, aber sie habe auch bewirkt, dass in der Folge ein Staat als Heimstatt für das Volk der Juden entstehen konnte, nach 2000 der Verstreuung, der Diaspora, der Verfolgung und Diskriminierung in vielen Teilen der Welt.

Eine schwierige Aussage. Eine Aussage, die man als Deutscher so nicht, nicht in dieser Unbefangenheit treffen kann. Das könnte schnell zynisch wirken. Es kommt noch hinzu, dass für die Gründung des Staates Israel auch ein Preis zu zahlen war. Den Preis haben die dort lebenden Palästinenser, schon gleich zu Beginn, mit Vertreibung und teilweise Ermordung bezahlt. Und doch bleibt – so erscheint es mir zumindest – in der Aussage etwas unmittelbar Wahres.

Was können wir damit anfangen, wenn die Grenzen zwischen Gut und Böse in unserem Urteil – genau genommen gibt es diese Grenzen nur in unserem Urteil – verschwimmen?

Das Naturschutzgebiet

Wenn wir an das Gute und das Böse denken, erscheint es oft so, dass die guten Kräfte die aufbauenden Kräfte sind und die bösen Kräfte die zerstörerischen Kräfte. Der Tod wäre eine solche zerstörerische Kraft aber auch, wenn wir einmal vom menschlichen Handeln absehen in der Betrachtung, Naturkatastrophen wie Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Tsunamis. Hier wirken gewaltige Kräfte und sie wirken zerstörerisch.

Ich habe einmal ein Naturschutzgebiet besucht, in dem man sich als Besucher nur auf sehr begrenzten Wegen bewegen durfte. Es gab auch Führungen und Erläuterungen durch einen Förster. Die Geschichte dieses Naturschutzgebietes war: Vor gut 40 Jahren gab es an dieser Stelle einen Wald, einen Nutzwald aus überwiegend Nadelbäumen. Dann gab es eine Borkenkäferplage, welche den Wald schwer schädigte und in der Existenz bedrohte. Man hatte sich dann aber entschlossen, nach vielen kontroversen Diskussionen der Fachleute, hier ein Experiment zu starten. Auf einem begrenzten Gebiet, dem jetzigen Naturschutzgebiet, wollte man auf jegliches Eingreifen, jegliche Bekämpfung der Borkenkäfer verzichten. Die allermeisten Bäume starben dann tatsächlich, es entstand eine zunächst tot und unwirtlich wirkende Landschaft aus toten und langsam verrottenden Baumstämmen.

Aber im Verlauf von etwa 30 Jahren entwickelte sich daraus eine neuer Wald, jetzt ein vielfältiger und sehr gesunder Mischwald. Und nicht nur der Wald erholte sich und war danach vitaler und widerstandsfähiger als vorher, auch Tiere, die in dieser Gegend als ausgestorben galten, wurden wieder gesichtet.

Damit dieses sehr vielfältige und lebendige Ökosystem sich bilden konnte, musste erst der alte Wald, die alte Monokultur, zugrunde gehen. Wir sehen hier ein Ineinandergreifen von zerstörerischen und aufbauenden Kräften.

Vorhang zu – und alle Fragen offen

Am Ende von Bertold Brechts Theaterstück „Der gute Mensch von Sezuan“ heißt es:

„Wir stehen selbst enttäuscht und sehen betroffen
den Vorhang zu und alle Fragen offen“

Ich lasse für diesen Beitrag auch den Vorhang fallen. Vielleicht nicht alle, aber doch viele Fragen offen, noch ohne Antworten. Es gibt ein Gedicht mit dem Titel „Die Fragen lieb haben“ von Rainer Maria Rilke, in dem es heißt: „Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.“

Die Wunden der Ahnen und ihre Heilung

In den letzten Beiträgen habe ich etwas behandelt, was ich die seelischen Urwunden nannte und was man auch als Entwicklungstraumata beschreiben könnte. Diese seelischen Wunden (oder wunden Punkte) entstehen in der individuellen Biografie, besonders infolge von Bedingungen, welche das Aufwachsen geprägt haben.

In diesem Beitrag möchte ich die Betrachtung von seelischen Wunden erweitern auf die Vorfahren, die Ahnen, die Familiensippe – was auch immer man hier als Wortmarke verwenden möchte. Eine der Grunderkenntnisse der Familienaufstellungen von Anfang an war, dass wir alle in unserem Erleben, in unserem grundlegenden Lebensgefühl und in unserem Lebensvollzug beeinflusst sind von Vorgängen und Geschehnissen in unserem Familiensystem. Oft wirken diese Einflüsse einschränkend. Die Einflüsse bestehen unabhängig davon, ob wir etwas von den konkreten Ereignissen wissen oder diejenigen Personen in unserem Ahnensystem, welche diese Ereignisse durchlebt und durchlitten haben, noch selber kennen gelernt haben.

Hier greift ein größeres Informationsfeld, welches die Erlebnisse der Ahnen und hier insbesondere die schweren Schicksale der Vorfahren umfasst, in das seelische Feld der Nachgeborenen hinüber. Oder wir könnten auch sagen, ein größeres, kollektives Feld ergreift (teilweise) Besitz von einem individuellen Feld, das größere Feld wirkt in das kleinere Feld hinein.
Daneben gibt es manchmal auch noch größere Felder, etwa das Feld von ganzen Völkern oder Völkergruppen, insbesondere wenn hier Verfolgung und Völkermord im Spiel ist, welche auf später Geborene teilweise deutlich wirken. In diesem Beitrag soll es aber um das Feld der Ahnen gehen.

Ein Beispiel

Ich habe kürzlich eine Fallgeschichte einer US-amerikanischen Therapeutin gelesen. Diese hatte eine Klientin, welche unter der Wahnvorstellung litt, verhungern zu müssen. Die Klientin war materiell gut situiert, ihr war kognitiv durchaus klar, dass die Gefahr nicht real besteht, aber die entsprechende Angst war trotzdem stark ausgeprägt.

Nachdem eine Reihe von „normalen“ therapeutischen Interventionen keine Besserung nach sich zogen, fragte die Therapeutin nach, wer von den Vorfahren der Klientin mit Hunger konfrontiert war. Es stellte sich heraus, die Klientin war irischer Abstammung, ihre Vorfahren waren im Rahmen der Hungersnot in Irland in den Jahren 1845 bis 1849 zusammen mit Millionen anderer Iren in die USA ausgewandert, der Not gehorchend.

Bei der Besprechung des Schicksals der Vorfahren kam jetzt spürbar etwas in Bewegung bei der Klientin, nach Eindruck der Therapeutin war ein Resonanzpunkt berührt worden.  
Die Therapeutin schlug also der Klientin das Folgende vor: Sie, die Klientin, solle sich einen Abend Zeit nehmen und für diesen Abend verschiedene Speisen vorbereiten, alles was Sie gerne isst. Die Speisen sollten in Vielfalt und Menge einen Überfluss an Nahrungsmitteln deutlich ausdrücken. Dann solle sich die Klientin an den Tisch mit den vielen verschiedenen Speisen in ihrer Fülle setzen und diese Speisen und ihren Überfluss erst einmal auf sich wirken lassen. Sie sollte also die Speisen anschauen und dabei bewusst sich innerlich sagen: Dies alles steht mir zur Verfügung, ich leide keinen Mangel. Und dann sollte die Klientin – und dies scheint mir der entscheidende Teil zu sein – in Gedanken eine Verbindung zu ihren Vorfahren von vor 170 Jahren aufnehmen. Natürlich hat die Klientin diese nicht persönlich gekannt. Aber sie sollte sich die Personen aus ihrer Familiengeschichte, die damals dem Hunger in Irland nur durch Auswandern in die USA entkommen konnten, vor dem geistigen Auge vorstellen. Und dann sollte die Klientin diesen Ahnen den reich mit Speisen im Überfluss gedeckten Tisch zeigen und ihnen sagen: Schaut einmal, so geht es mir jetzt hier. Weil ihr damals eure Heimat verlassen habt, geht es mir heute gut, ich muss nicht hungern.

Das hat die Klientin so gemacht und danach war die wahnhafte Angst, verhungern zu müssen, von ihr abgefallen. Zumindest wird es so berichtet.

Die Heilung der Ahnenlinie

Mich hat dieses Fallbeispiel beeindruckt, nicht nur, weil es recht eindrücklich beschreibt, wie weit zurück die Wirkung der „großen Seele“, der Seele der Ahnen auf die Einzelseele reichen kann. Noch stärker hat mich die Lösung berührt. Es scheint mir so, auch wenn die erwähnte Therapeutin selber es nicht so schreibt und deutet, als ob hier mit der Heilung einer wahnhaften Angst bei einer Nachfahrin auch gleichzeitig die Ahnenlinie mitgeheilt wird.

Das ist vielleicht eine etwas starke Behauptung und auch etwas spekulativ. Aber das Bild, was bei mir vor dem inneren Auge beim Lesen dieser Fallgeschichte entstand, war: Die Geister der Ahnen finden sich am reich gedeckten Tisch der Nachfahrin ein und sie erfahren dabei zwei Dinge: Zum Ersten erfahren sie, dass ihre Not erinnert wird, dass ihr Schicksal noch lebendig ist in den Nachfahren. Zum Zweiten sehen sie aber auch: Es war nicht umsonst. Es ist danach gut weitergegangen. Unser Verlust, der Verlust der Heimat, hat sich gelohnt und er hat segensreich auf nachfolgende Generationen gewirkt. In dem Bild, was vor meinem inneren Auge entstand – und natürlich ist es nur mein inneres Bild, ob es wirklich so war, weiß ich nicht – kamen die Vorfahren dabei zur Ruhe. Irgendetwas wird befriedet im Reich der Geister, im geistigen Feld in diesem Familiensystem.

Meine Heilung heilt die Traumata der Ahnen mit

Tatsächlich würde ich in einem ähnlich gelagerten Fall in einer Familienaufstellung ähnlich vorgehen. Ich würde die Klientin den Blick auf die Ahnen einnehmen lassen, auf ihre Herkunft und auf die Menschen, die lebensbedrohlichen gehungert haben. Und dann würde man der Klientin vielleicht vorschlagen, einen Satz zu sagen in der Art: „Ich sehe euer schweres Schicksal. Und ich schaue auf euch und euer Schicksal mit Achtung.“ Und anschließend, nachdem dies innerlich vollzogen wurde, schlägt man der Klientin vielleicht vor, einen Satz zu sagen zu den Ahnen in der Richtung: „Mit mir ist es gut weitergegangen.“ Oder vielleicht auch: „Euer Opfer war nicht umsonst.“ Und noch ein weiterer Satz könnte hier angebracht sein: „Auch wenn es mir besser geht als euch, bleibe ich mit euch verbunden.“ Manchmal kann auch ein Satz sich anbieten, der etwa so lauten könnte: „Bitte segnet mich, wenn ich die Fülle der Lebensmittel in meinem Leben genieße!“

Zwei wesentliche Schritte zur Heilung

Wir sehen hier dieselbe Struktur wie bei der Heilung individueller seelischer Wunden: Wir müssen zunächst hinschauen und benennen, was war, ohne Beschönigung. Das was war, war schlimm. Wir müssen uns trauen, mit dem Schrecken und dem Schweren und manchmal auch dem Grauenhaften wirklich in Kontakt zu treten, uns davon innerlich bewegen zu lassen. Und der zweite Schritt ist dann, zu sagen: Ja, so war es – aber mit Betonung auf war. Jetzt ist es anders, jetzt habe ich andere Möglichkeiten, ich muss das Drama von damals nicht immer wieder neu inszenieren. Jetzt kann ich es anders machen, es mir gut gehen lassen.

Wie gesagt: Mein Eindruck ist, wenn ein Nachgeborener im Ahnensystem es schafft, mit einem tradierten einschränkenden Muster zu brechen, etwas Neues und Besseres zu machen, das Leiden zu durchbrechen – dann macht diese Person das nicht nur für sich selbst, sondern für die Leiden der Ahnen gleich mit. Ich kann es nicht „beweisen“, dass es so ist. Der einzige Hinweis, den ich dazu habe, ist: Man kann in Aufstellungen mitunter beobachten, dass die Stellvertreter der Ahnen irgendwie aufatmen, ruhiger werden, wenn ein Nachfahre ein einschränkendes Muster auf eine positive Art durchbricht. Dieser Durchbruch bedeutet dann nicht die Abgrenzung von den Ahnen gemäß dem Motto, was geht mich euer Schicksal an? Der Durchbruch bedeutet: In Anerkennung eures Schicksals und mit Achtung von eurem Schicksal mache ich es anders – ein wenig auch euch zuliebe.

Auf diese Weise erhält die Heilung eigener seelischer Wunden oder Traumata eine andere Tiefe. Ich mache es nicht nur für mich selbst, es ist nicht egozentrisch. Sondern ich nehme – ein wenig – alle mit, mit denen ich über die Herkunft und über das jeweilige Thema verbunden bin.        
Wenn etwas daran ist, das wir vielfältig verbunden sind auf eine höchst unterschwellige Art, nicht nur mit Lebenden sondern auch mit den Toten, dann ändern wir mit unserer eigenen Heilung auch etwas für die Toten. Nicht in dem Sinne, dass das Schicksal der Toten dadurch anders wäre, als es nun einmal war. Aber in der Form: Es war nicht vergeblich, es hatte einen Sinn, es ist gut weitergegangen. In welcher Form genau sich das in der Sphäre auswirkt, wo die Toten sind und existieren, in dieser geistigen Sphäre, über die wir wenig wissen und der Beschaffenheit wir nur ahnen können, darüber sollte man nicht allzu viel spekulieren. Aber die Vorstellung, es hat eine Auswirkung auch im Reich der Toten, kann sehr kraftvoll in meinem Leben wirken.

Die seelischen Urwunden – Teil 9: Eine Rückschau

Ich beschließe diese kleine Serie von Blogbeiträgen zu seelischen Urwunden mit einer Rückschau. Wir starteten damit, einen Betrachtungsrahmen aufzuspannen. Es ging dabei um die Frage, was braucht ein Mensch, der als Baby auf die Welt kommt, um sich gut und seiner Eigenart gemäß zu entwickeln. Es ist ja so, dass der Mensch unter allen Säugetieren die längste Adoleszenz aufweist und damit auch eines großen Maßes an Betreuung und Fürsorge in der Entwicklung bedarf. Der Bezugsrahmen für das Thema seelische Urwunden war nun die Überlegung, wie sollte ein neuer Mensch am Anfang seiner Entwicklung idealerweise in dieser Welt willkommen geheißen werden?

Es soll hier noch einmal darauf hingewiesen werden, dass dieser Bezugsrahmen idealisiert ist. Und ein Ideal ist in der Realität nicht perfekt zu erreichen. Es geht auch weniger darum, etwa den Eltern oder der Gesellschaft oder wem auch immer die Schuld zu geben. Der Bezugsrahmen diente nur dazu, vor dem Hintergrund dieser Folie zu beschreiben, wenn man so will, was alles schief gehen kann. Noch genauer: Was alles auf einer grundlegenden, existenziellen Ebene schmerzlich vermisst werden kann. Wobei – auch dies sei hier noch einmal betont – wir von einem Fehlen von gedeihlichen Bedingen sprechen, welche wirklich schwerwiegend und dauerhaft sind, welche die natürlichen Bedürfnisse des Kindes bedeutsam verletzt, das Ur-Vertrauen signifikant in der einen oder anderen Weise erschüttert. Dann entsteht im Prozess des Heranwachsens eben eine Ur-Wunde, ein manchmal lebenslang bleibender wunder Punkt.

Vor dem Hintergrund dieser Folie wurden die folgenden sieben Urwunden in einzelnen Beiträgen beschrieben:

  • Verlassen werden / getrennt werden
  • Nicht gesehen werden, nicht beachtet werden
  • Verkannt oder verwechselt zu werden
  • Nicht oder nicht vollständig da sein dürfen (Du bist zuviel!)
  • Betrogen zu werden, hintergangen zu werden
  • Gedemütigt werden oder eklatante Ungerechtigkeit zu erleben
  • Nicht oder nicht genug geliebt zu werden.

Man kann hier natürlich fragen: Sind es genau diese sieben Urwunden, die es gibt? Oder auch: Hängen diese Urwunden nicht auch miteinander zusammen, was sicherlich richtig ist. Man könnte auch fragen: Ist nicht die letztgenannte Urwunde, nicht oder nicht genug geliebt zu werden, die zentrale Urwunde, alles andere nur konkrete Ausformungen davon? Dies mag alles sein. Es ist sicherlich kein trennscharfes oder gar diagnostisches System. Es sind beobachtbare Phänomene, die sich sicherlich auch anders benennen oder gruppieren lassen.

Urwunden als Entwicklungstraumata

Was hier mit der Bezeichnung Urwunde bezeichnet wurde, lässt sich auch als Trauma oder Traumatisierung beschreiben. Wir reden hier von Entwicklungstraumata im Gegensatz zum Schocktrauma. In so fern wäre für alle angeführten Urwunden etwas Generelles nachzutragen. Jeder einzelne Blogbeitrag zu jeder einzelnen Urwunde hat ja am Ende einen Teil, der sich damit befasst, was hier helfen kann. Und da gilt eben für alle erwähnten Urwunden gemeinsam, dass hier alle Methoden helfen, die sich mit der Heilung von Entwicklungstraumata beschäftigen. Und dies ist ein weites Feld …

Seelische Urwunden als spezifische Ausformung eines Entwicklungstraumas aufzufassen, bringt uns aber auch noch auf eine andere Spur, die für alle genannten seelischen Urwunden gleichermaßen gilt.

Überlebensstrategien statt Leben

Entwicklungstraumata bewirken, dass ein Mensch sich bestimmte Überlebensstrategien aneignet. Diese helfen, den existentiellen Mangel auszuhalten, ihn teilweise zu kompensieren. Diese Überlebensstrategien waren, zu dem Zeitpunkt, wo sie erlernt wurden, wichtig und meist notwendig. Viele dieser Überlebensstrategien bestehen darin, etwas zu verleugnen, zu verdrängen und sich unempfindlich zu machen gegen seelische Schmerzen. Diese Überlebensstrategien waren einmal eine Lösung. Sie waren oft die einzige Lösung, die einem Kind, besonders einem kleinen Kind, zur Verfügung stand.

Später, im Leben als Erwachsener, erweisen sich diese gelernten Überlebensstrategien aber oft als einschränkend und hinderlich, als dysfunktional. Um wirklich vollständig zu leben, müssen die Überlebensstrategien der Vergangenheit losgelassen werden. Und dies ist nicht so einfach.

Eine Schwierigkeit ist, dass wir uns mit unseren Überlebensstrategien sehr identifiziert haben. Wenn wir hier umlernen, unsere Spielräume erweitern und unser Leben vollständiger leben wollen, erleben wir – zumindest am Anfang – ein sehr unvertrautes Gefühl. Es kann sein, dass wir merken, es geht uns besser – aber gleichzeitig fühlt es sich irgendwie wie „Nicht-Ich“ an. Und das alleine ist beunruhigend. Es gibt einen Teil des Nervensystems, der unbedingt am Vertrauten festhalten möchte, auch wenn es negativ ist. Aber es ist eben bekannt und für diesen Teil des Nervensystems ist das Bekannte gleichbedeutend mit Sicherheit. Alles andere ist bedrohlich, weil es unbekannt ist. Jede ernsthafte Veränderung muss sich, zumindest eine Zeit lang, mit dem Gefühl mangelnder Vertrautheit konfrontieren und dieses Gefühl aushalten, den Rückstellkräften zum Alten widerstehen.

Eine andere Schwierigkeit liegt darin begründet, dass die Aufgabe einer Überlebensstrategie uns mit dem Schmerz von damals in Kontakt bringt. Der Sinn der Überlebensstrategie ist ja gerade, einen zu großen, nicht bewältigbaren Schmerz nicht fühlen zu müssen. Wenn eine Überlebensstrategie losgelassen wird, muss oft der Schmerz, der damals vermieden wurde zu fühlen, noch einmal gefühlt werden. Wir müssen diesem Schmerz erlauben, sich zu entfalten und durch unseren Körper zu fließen, wir müssen ihm erlauben, da zu sein. Wir müssen uns trauen, diesem Schmerz jetzt fühlend unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Das ist nicht leicht und bedarf oft einer kundigen Begleitung. Wir brauchen hier ein heikle Balance, in welcher mir in Kontakt kommen mit dem Schmerz, ohne dass er uns überwältigt und hinwegschwemmt. Anders formuliert: Was losgelassen werden soll, muss sich erst noch einmal vollständig zeigen (dürfen).

Eine Vorstellung vom guten uns vollständigen Leben

Wenn das Lösen bzw. Ablösen von einer einschränkenden Überlebensstrategie nicht einfach, manchmal auch schmerzhaft und in fast allen Fällen von Unsicherheiten begleitet ist, braucht es natürlich gute Gründe für diesen Prozess, welcher gleichzeitig eben auch ein Heilungsprozess bezogen auf eine Urwunde ist.

Manchmal wird man durch das Leben scheinbar dazu gezwungen. Dies kann eine schwere Erkrankung sein oder auch eine Veränderung in den Lebensumständen, welche ein anderes Ausmaß an Verantwortung gerade auch für andere Menschen mit sich bringt. Wir sind dann sozusagen am Ende der Tauglichkeit der Überlebensstrategie angekommen.

Für eine erfolgreiche Veränderung (im Sinne der Heilung einer Urwunde) ist es aber auch gut, neben der Notwendigkeit des Lösens vom Alten eine Aussicht auf die Vorzüge und Freuden des Neuen zu haben. Meist gibt es in der Vergangenheit eine Referenzerfahrung, wo wir für einen Moment aus der Überlebensstrategie herausgefallen sind und dadurch uns freier, glücklicher oder erfüllter gefühlt haben, auch wenn es vielleicht nur für einen kurzen Moment war. Solche Referenzerfahrungen, wo wir einmal von dem vollständigerem Leben gekostet haben, sind wichtig zu erinnern. Ebenso benötigen wir in die Zukunft hinein eine Vorstellung, vielleicht manchmal auch nur eine Ahnung, über die Fülle eines nicht nur auf das Überleben fokussierten Lebens.

Eine Metapher für die Heilung von seelischen Urwunden: Die seelische Narbe

Bei etlichen körperlichen Verletzungen entsteht am Ort der ursprünglichen Verletzung eine Narbe. Narbengewebe ist sehr fest und sehr wiederstandsfähig. Wenn wir auf eine solche Narbe an unserem Körper schauen, können wir uns erinnern: Das war damals, als ich diesen bestimmten Unfall hatte. Wir können uns erinnern, wie es damals war. Wir können uns vielleicht auch erinnern, welche Schmerzen wir damals hatten. Und manchmal kommt uns zu Bewusstsein, dass wir aus der Erfahrung etwas Wichtiges gelernt haben. Nur: Auch wenn wir uns an die damaligen Schmerzen erinnern können, fühlen wir jetzt nicht diesen Schmerz. Der liegt in der Vergangenheit, die Erinnerung ist nur eine Erfahrung, derer wir uns bewusst werden. Jetzt ist die Wunde verheilt und schmerzt nicht mehr.

Dies wäre das Bild, im übertragenen Sinne, für eine Heilung von seelischen Wunden. Wir können uns erinnern, wie es damals war und auch, wie schmerzhaft es damals war. Da muss nichts beschönigt oder verdrängt werden. Es war so, wie es war – und damals war es schmerzhaft. Und gleichzeitig wissen wir: Es ist vorbei, jetzt ist es anders. Im Zusammenhang mit seelischen Urwunden bedeutet dies vor Allem: Jetzt bin ich nicht mehr das kleine Kind, jetzt verfüge ich über andere Handlungsmöglichkeiten.

Vielleicht ein letzter Aspekt im Vergleich mit einer körperlichen Narbe: Viele Narben sind nicht unmittelbar sichtbar, sondern meist von Kleidung bedeckt und nur Menschen, die uns nahe stehen, bekommen die Narben zu Gesicht.    
Bei seelischen Narben, nachdem die Urwunde verheilt ist, kann es ähnlich sein. Nicht jeder muss meine seelische Narbe kennen und sehen, dass hier einmal eine seelische Wunde war, welche ihre Spuren hinterlassen hat. Aber wer mir (genügend) nahe steht, darf um die Narbe wissen, die auf eine alte Verletzung verweist.

Die seelischen Urwunden – Teil 8: Nicht oder nicht genug geliebt werden

Diese Urwunde, die ich im Rahmen dieser kleinen Reihe zu den seelischen Urwunden als letzte anführe, würde einem vermutlich als erste einfallen. Es gibt Vieles, dessen ein kleines Kind für ein gutes Heranwachsen bedarf. Aber neben allem anderen und auch durch alles andere hindurch benötigt das Kind, Liebe Zuneigung und Wertschätzung zu verspüren. Das Kind will spüren, dass es willkommen ist, dass es als Bereicherung und nicht als Belastung empfunden wird. Bert Hellinger hat dies einmal als die „ursprüngliche Liebe“ bezeichnet. Ursprünglich ist diese Liebe auch deshalb, weil jede spätere Liebe auf dieser ersten Liebeserfahrung aufbaut, jede spätere Liebe hier ihr Fundament findet. Und nicht zu letzt ist die empfundene ursprüngliche Liebe die Basis für das Urvertrauen, das Vertrauen in das Leben selbst.

Umso schmerzhafter wird das Fehlen dieser ursprünglichen Liebe empfunden, wenn diese ursprüngliche Liebe insbesondere seitens der Eltern vom Kind nicht oder nicht in genügendem Maße erfahren wird. Wir könnten sagen, diese Urwunde steht bei der Betrachtung von seelischen Urwunden besonders im Zentrum.

Die Folgen von fehlender Liebe durch die Eltern

Die wesentlichste Folge von fehlender ursprünglicher Liebe ist das bereits angesprochene Urvertrauen, welches sich beim Kind dann nur ungenügend oder in einer brüchigen Form ausbilden kann. Das Kind fühlt sich grundsätzlich und dauerhaft verloren, unbehaglich und unbehaust in der Welt, die Welt wird fremd. Die konkreten Erscheinungsformen von fehlendem Urvertrauen wiederum können mannigfaltig sein. Mir scheinen aber vor allem die folgenden Wirkungen besonders häufig zu sein:

  • Verschlossenheit  
    Das Kind ist wenig spontan, äußert selten Wünsche oder Bedürfnisse, auf Interesse an ihm reagiert es eher misstrauisch
  • Schuldgefühle       
    Das ungeliebte Kind vermutet, natürlich höchst unbewusst, ungenügend zu sein und somit die Liebe der Eltern nicht zu verdienen. Im späteren Leben ist ein solches Schuldgefühl als grundsätzliches Lebensgefühl sehr diffus, es ist nicht benennbar, woran man sich schuldig fühlt
  • Ängstlichkeit                  
    Das Kind ist ängstlich, übervorsichtig, besorgt, die Angst vor falschen Entscheidungen kann zu einer generalisierten Entscheidungsschwäche führen
  • Fehlendes Selbstwertgefühl      
    Das Kind nimmt sich nicht als wertvoll wahr, traut sich wenig zu, die Selbstwahrnehmung ist negativ eingefärbt
  • Traurigkeit  
    Auch hier ist die Emotion der Traurigkeit das wesentliche Lebensgefühl, die Traurigkeit ist generalisiert, die Trauer bezieht sich nicht auf eine bestimmte Verlusterfahrung, sondern alles ist irgendwie traurig eingefärbt
  • Rückzug      
    Das Kind möchte sich am liebsten unsichtbar machen, es sucht den Rückzug, ist lieber alleine, isoliert sich und vermeidet soziale Kontakte
  • Übertriebene Suche nach Bestätigung
    Das Kind braucht ständig Anerkennung, die aber kaum ankommt und nicht lange anhält
  • Bindungsunsicherheit     
    Das Kind kann keine stabilen Freundschaften oder generell Beziehungen aufbauen und halten.
  • Das fehlende Nein 
    Das Kind kann schwer Grenzen setzen oder ausdrücken, wenn es etwas nicht möchte oder wenn es etwas quält
  • Angst vor Zurückweisung
    Das Kind kann nicht gut auf andere zugehen, es besteht eine große Angst vor Ablehnung
  • Einsamkeit 
    Das Grundgefühl ist Einsamkeit, die jedoch nicht zu einem Bedürfnis nach sozialem Kontakt führt, da dieser als unangenehm, anstrengend oder bedrohlich erlebt werden

Dies ist ein Spektrum von möglichen Erscheinungsformen, welche die Urwunde, nicht oder nicht genug geliebt zu werden, annehmen kann.

Was hier helfen kann

Bei einem Leiden an dieser Urwunde im Erwachsenenalter ist ein wichtiger Schritt, dem, was damals als Kind so schmerzlich gefehlt hat, noch einmal in aller Klarheit ins Auge zu schauen, ohne Relativierungen und ohne Beschönigung. Was habe ich damals vermisst, was hätte ich gebraucht von meinen Eltern? Gemeint ist das nicht als Vorwurf. Sondern als Feststellung, wie ist es mir damals als Kind ergangen, wie habe ich es erlebt.

Der nächste Schritt ist, sich davon dann wieder zu lösen, sich zu erinnern, dass ich jetzt nicht mehr das kleine Kind von damals bin, dass ich jetzt mehr Handlungsmacht habe als ich damals hatte. Das bedeutet auch, und das ist durchaus schwierig, ich lasse den Anspruch an meine Eltern, sie hätten damals anders sein oder anders sich verhalten sollen, los. Ich lasse auch diesen Anspruch in der Vergangenheit. Ich mache mich frei von diesem Anspruch an meine Eltern, ich befreie mich von jeglichem Ressentiment, welches ich noch in den dunkleren Abteilungen meiner Psyche hege. Das erfordert eine sorgfältige Selbstprüfung und gelingt meiner Erfahrung nach nur, wenn ich davor den ersten Schritt gegangen bin, mich noch einmal mit der Wunde von damals ehrlich zu konfrontieren.

Abschließend gehört auch dazu, selber die Verantwortung für das Heilen der alten Wunde zu übernehmen. Das bedeutet, die fehlende Liebe von damals gebe ich mir jetzt selber. Genauer gesagt: Ich gebe sie dem verletzten inneren Kind, das in mir haust und das darauf wartet, endlich nach Hause geholt zu werden.

Die seelischen Urwunden – Teil 7: Gedemütigt werden oder eine eklatante Ungerechtigkeit erleben

Bei dieser Urwunde geht es im Kern um eine – willkürliche – Herabsetzung. In unserem Kontext, im Rahmen dieser Serie von Beiträgen zu seelischen Urwunden, geht es um die Herabsetzung eines Kindes im familiären Umfeld. Wir können daran denken, dass ein Kind in einem natürlichen Impuls beschämt, verlacht oder verspottet wird. Und ebenso können wir an eklatante, wirklich wesentliche, Ungerechtigkeiten, Ungleichbehandlungen etwa zwischen Geschwistern denken.

Eine bekannte Geschichte, die von einem solchem Geschehen erzählt, ist das Grimmsche Märchen von Aschenputtel oder Aschenbrödel. Hier haben wir ein Kind, welches von seinen Stiefschwestern gepeinigt wird unter offensichtlicher Billigung dieses Verhaltens durch die Stiefmutter und der eigene Vater schützt seine leibliche Tochter nicht davor.

In diesem Märchen hat ein Mann eine Tochter und seine Frau, die Mutter der Tochter, stirbt. Nach einiger Zeit nimmt der Mann sich eine zweite Frau, welche zwei eigene Töchter mit in die Verbindung bringt, die „weiß von Angesicht, aber schwarz von Herzen“ waren, wie es in dem Märchen heißt. Und das Märchen beschreibt:

Da ging eine schlimme Zeit für das arme Stiefkind an. "Soll die dumme Gans bei uns in der Stube sitzen!" sprachen sie‚ "wer Brot essen will, muß verdienen: hinaus mit der Küchenmagd" Sie nahmen ihm seine schönen Kleider weg, zogen ihm einen grauen, alten Kittel an und gaben ihm hölzerne Schuhe. "Seht einmal die stolze Prinzessin, wie sie geputzt ist" riefen sie, lachten und führten es in die Küche. Da mußte es von Morgen bis Abend schwere Arbeit tun, früh vor Tag aufstehen, Wasser tragen, Feuer anmachen, kochen und waschen. Obendrein taten ihm die Schwestern alles ersinnliche Herzeleid an, verspotteten es und schütteten ihm die Erbsen und Linsen in die Asche, so daß es sitzen und sie wieder auslesen mußte. Abends, wenn es sich müde gearbeitet hatte, kam es in kein Bett, sondern mußte sich neben den Herd in die Asche legen. Und weil es darum immer staubig und schmutzig aussah, nannten sie es Aschenputtel.

Die Verspottung ist hier sehr perfide. Der Gegenstand des Spottes ist etwas, was die Stiefschwestern selber herbeigeführt haben. Erst wird das Mädchen ausgegrenzt und gezwungen, „in der Asche“ zu schlafen und dann wird sie genau dafür mit einem Spottnamen belegt. Warum räsoniert eine solche Geschichte mit uns? Weil wir alle, in der einen oder anderen Form, die Erfahrung kennen, für etwas verlacht zu werden, was wir uns nicht ausgesucht haben, für das wir nichts können, wo wir ohnmächtig sind? In diesem Märchen ist es natürlich, wie oft in Märchen, sehr extrem. Märchen sind mitunter sehr holzschnitthaft in der Beschreibung.

Man mag ich vor allem fragen: Warum lässt der Vater diese Behandlung zu? Es ist kaum vorstellbar, dass er dies nicht mitbekommen hat. Eine weitere Frage, die sich in dem Zusammenhang stellt: Ist es mehr die schlechte Behandlung durch die Stiefschwestern oder der fehlende Schutz durch den Vater, der hier schützen müsste, was die Verletzung und die Wunde ausmacht?

Die verletzte Würde

Die Demütigung verletzt uns in unserer Würde und unserer Selbstachtung, sie dient der Beschämung. Die Demütigung drückt Verachtung aus. Gedemütigt werden meist schwächere, wehrlose Menschen. Und Kinder, besonders kleine Kinder, sind immer in der schwächeren Position den Erwachsenen gegenüber. Demütigungen waren eine lange Zeit ein gebräuchliches Element in der Kindererziehung, sowohl im häuslichen Umfeld wie auch in der Schule.

Natürlich kommen systematische Demütigungen auch im Erwachsenenleben vor. Man kann hier an Mobbing denken oder auch an Praktiken der Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen. Aber hier geht es ja um die Frage, was solche Praktiken in der Seele eines heranwachsenden Kindes bewirken.

Beim Einsatz von Demütigung in der Kindererziehung scheint es wesentlich darum zu gehen, den Willen des Kindes zu brechen, insbesondere natürlich den Willen, der sich bestimmten (einschränkenden) Regeln widersetzt. Natürlich sind in der Kindererziehung Regeln notwendig wie auch Maßnahmen, welche die Einhaltung von bestimmten Regeln durchsetzen. Aber hier geht es darum, dass dies über den Weg der Beschämung und Herabsetzung erfolgt, über die Verletzung der Würde und Selbstachtung des Kindes.

Die Folgen der Demütigung

Die Demütigungen, über die wir hier reden, sind verbunden damit, sich nicht dagegen wehren zu können, ohnmächtig zu sein. Zu fragen wäre hier also: Was ist mit der Wut, der buchstäblich ohnmächtigen Wut, die es beim Erleben geben muss? Was passiert mit der Wutenergie? Es kann sein, dass aufgrund der Ohnmacht jeder Ausdruck von Wut unterdrückt, versteckt, verdrängt werden muss. Körperlich kann man unterdrückte Wut, die sich nicht zeigen darf, mit Problemen im Bereich der Leber und der Galle in Verbindung bringen wie auch mit chronischen Entzündungen und Bindegewebeschwäche. Psychisch kann das mit der Demütigung verbundene Ohnmachtsgefühl in die Depressivität führen, es kann aber auch zu einer großen Empfindlichkeit gegen jegliche Form der Kritik kommen. Ebenso kann man hier an ein generell geringes Selbstwertgefühl denken wie auch an verschiedene Formen selbstverletzenden Verhaltens. Auch eine generelle Verbitterung oder gesteigerte Feindseligkeit kann eine Folge von anhaltender Demütigung sein. Ebenso kann Einsamkeit in Form einer selbst gewählten sozialen Isolierung in diesem Zusammenhang stehen als Versuch, jeder Möglichkeit einer Beschämung oder Herabsetzung durch anderen Menschen vermeidend zuvorzukommen.

Was hier helfen kann

Hilfreich ist hier natürlich in erster Linie alles, was die Selbstachtung, die persönliche Würde und das Erleben von Selbstwert fördert. Der Weg, sich über besondere Leistungen unangreifbar zu machen, mag nahe liegen, führt aber oft in die Irre. Eher zielführend ist, sich sehr gezielt und bewusst mit Personen zu umgeben, die uns wohlgesonnen sind und wo wir wirklich Wertschätzung spüren können. Aber: Das sagt sich so leicht …

Mir scheint, es gibt noch einen anderen Zugang, wiewohl auch dieser nicht einfach ist mit einer solchen Ausprägung der Urwunde. Dieser Zugang besteht darin, sich selber im Umgang mit anderen Menschen in Akzeptanz, Geduld und Nachsicht zu üben. Das „Üben“ ist hier der Schlüssel, es geht nicht um Perfektion oder einen hohen Anspruch an sich selber. Es scheint aber so zu sein, dass die Art, wie wir uns auf andere Menschen beziehen, ein Spiegel der Beziehung zu uns selber ist. Und da mag es sogar einfacher sein, erst einmal an den Beziehungen zu den Mitmenschen zu arbeiten, so dass diese auf lange Sicht dann auch die Beziehung zu mir selbst einfärben können.

Es kann auch eine wirksame Praxis der Selbstwertschätzung sein, das persönliche Umfeld wie zum Beispiel die eigenen Wohnverhältnisse ansprechend zu gestalten, hier für Schönheit zu sorgen. Auch die Einübung von Achtsamkeit dem eigenen Körper und seinen Signalen gegenüber kann hier helfen.

Wesentlich scheint mir auch, sich mit der Emotion der Wut zu befassen, zunächst einmal zu bemerken, wo und wann ich tatsächlich wütend bin – auch wenn ich dies vielleicht vor mir selber und vor anderen verberge. Dabei geht es nicht so sehr darum, diese Wut in Form einer „Katharsis“ auszuleben und auszuagieren, obwohl dies auch helfen kann, wenn es in einem geschützten Rahmen stattfindet. Noch wichtiger erscheint mir stattdessen, die bemerkte Wut als Energetisierung zu nutzen. Die Wutenergie lässt sich verwenden für ein angemessenes Setzten von persönlichen Grenzen, für ein deutliches „Nein“ an passender Stelle, für entschiedenes Auftreten zur Wahrung der eigenen Würde. Dies sind der eigentliche Sinn und die positive Absicht dieser Emotion.

Und nicht zuletzt helfen hier alle Praktiken, die mit der Heilung des „inneren Kindes“ zu tun haben. Die seelische Urwunde, um die es hier geht, ist ja in der Kindheit entstanden. Und das Kind, welches diese seelische Verletzung erlitten hat, lebt noch in uns, in unserem Erwachsenenkörper. Und das innere Kind wartet darauf, dass sich ihm jemand wohlwollend zuwendet. Und dieser Jemand sind wir selber, wir selber in unserem Erwachsenen-Ich. Ein Buchtitel von Stefanie Stahl lautet: „Das Kind in dir muss Heimat finden“. Darum geht es, dem verletzten inneren Kind eine Heimstatt in mir zu bereiten, in dem es heilen und heranwachsen kann.

Die seelischen Urwunden – Teil 6: Betrogen werden oder hintergangen werden

Hier geht es jetzt um die fünfte von insgesamt sieben seelischen Urwunden, welche ich in dem einleitenden Überblickartikel zu dieser kleinen Serie angeführt hatte. Das Thema ist hier, auf eine fundamentale Weise betrogen zu werden. Wie immer in den Beiträgen zu dieser Serie geht es natürlich nicht um jede beliebige Unwahrheit, die auffliegt. Es wird kaum zu einer seelischen Urwunde kommen, wenn ein etwas älter werdendes Kind feststellt, dass es den Weihnachtsmann gar nicht gibt, dass es nur ein Schauspiel war. Nein, hier sind Geschehnisse gemeint, welche die Seele des kleinen (und manchmal auch nicht so kleinen) Kindes in den Grundfesten erschüttert. Es muss die Qualität eines schweren Vertrauensbruchs haben.

Was kann das sein? Zum Beispiel, wenn das Kind über die wesentlichste Grundlage seiner Existenz überhaupt im Unklaren gelassen oder direkt belogen wird, nämlich die Frage, wer die Eltern dieses Kindes sind. Das passiert mitunter im Rahmen der Adoption von noch sehr kleinen Kindern, wenn die Pflegeltern – meist durchaus aus guter Absicht heraus – dem Kind gegenüber sich als die biologischen Eltern ausgeben. Oder wenn eine Mutter einem Kind den wirklichen Vater verschweigt, weil es in einer außerehelichen Beziehung gezeugt wurde, was dann aber keiner wissen darf, eben auch das Kind nicht.

Eine andere Form wäre, wenn die Grundannahme des Kindes, dass die wichtigen Erwachsenen in seinem Leben zu seinem Wohle handeln, scheinbar gegeben ist – bis sich dann irgendwann herausstellt, dass die Erwachsenen das Kind hier bewusst getäuscht und gegen das Kinde gehandelt haben. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn das Kind Erbe eine größeren Vermögens ist, welches den Eltern bis zur Volljährigkeit treuhänderisch anvertraut wurde und dann stellt sich heraus, dass dieses Vermögen unterschlagen wurde.

Es gibt noch eine andere Erscheinungsform, die inzwischen auch im Deutschen meist mit dem englischen Begriff „Gaslighting“ bezeichnet wird. Hiermit ist eine Manipulationstechnik gemeint, die sich innerhalb vertrauter und enger Beziehungen abspielt und welche darauf abzielt, eine Person in ihrer Realitätswahrnehmung oder ihrer Selbstwahrnehmung nachhaltig zu verunsichern. Meist geht es darum, dass bestimmte Wahrnehmung oder Erlebnisse des Kindes einfach abgestritten oder lächerlich gemacht werden. Dies kann etwa vorkommen, wenn ein Kind z.B. durch den Stiefvater mit (mehr oder weniger implizitem) Wissen der Mutter oder Duldung durch die Mutter sexuell missbraucht wird. Wenn dann das Kind der Mutter, den Vorfall erzählt, streitet sie dies als unmöglich ab oder sagt, das Kind bilde sich das nur ein.

Die Folgen des Vertrauensbruchs

Die seelischen Folgen dieser Urwunde sind in erster Linie darin zu sehen, dass das Urvertrauen nachhaltig beschädigt ist. Die Verlässlichkeit der persönlichen Welt ist in Frage gestellt. Es stellt sich dagegen eine tiefe, existenzielle und übergreifende Verunsicherung ein. Wie sich das konkret ausspielen kann, da ist die Palette recht breit gefächert. Depression, Angstzustände oder Panikattacken können die Folge sein, dissoziative Phänomene aber auch im extremen Fall psychotische Phänomene des Wirklichkeitsverlustes. Es muss aber nicht immer so auffällig sein, manchmal fällt es einfach schwer, wieder Vertrauen zu anderen Menschen zu fassen und eine engere Bindung einzugehen. Oder es stellen sich chronische Selbstzweifel ein. Auch eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung kann hier ihre Ursache haben, was es schwer macht, in die Tat zu kommen.

Was hier helfen kann

Wesentlich ist natürlich, eine neue, eine andere Erfahrung zu machen, die Erfahrung des „Vertrauen-Könnens“ zu machen. Dazu braucht man natürlich eine andere Person, auf die man auch vertrauen kann. Sehr empfehlenswert ist für den Prozess, den ich gleich grob umreißen will, eine professionelle Begleitung.

Wesentlich scheint mir, einerseits den Vertrauensbruch und wie stark es einen im Grundvertrauen erschüttert hat, noch einmal deutlich wahrzunehmen, also nicht zu verharmlosen, zu leugnen oder zu bagatellisieren. Aber diese Rückerinnerung sollte immer im Modus des „Dort und damals“ erfolgen. Also, ich erinnere mich, durchaus möglichst genau, aber im klaren Bewusstsein der Rückschau. Ich, als inzwischen erwachsener Mensch, erinnere mich, wie es damals war, was ich damals empfunden habe. Und gleichzeitig bleibe ich mir bewusst, dass es jetzt anders ist, dass ich jetzt ein anderer Mensch, ein erwachsener Mensch, bin. Das ich jetzt mehr Handlungs- und Bewältigungsmöglichkeiten habe als damals als Kind. Ich kann jetzt auch die Gefühle von damals noch einmal erleben, ohne dass es mich überfordert und hinwegschwemmt. Und: Heute ist jemand bei mir, der mir wohlgesonnen ist und mich durch diesen Prozess mit Anteilnahme und Einfühlung begleitet, jemand, dem ich vertrauen kann.

Es ist nicht ganz unwichtig, auch die emotionale Qualität von damals noch einmal zu durchfühlen, wenn auch in verminderter Intensität. Die damalige Prägung des Vertrauensverlustes hat sich ja mit genau dieser Emotionsqualität in hoher Intensität eingeprägt. Eine „Umprägung“ mit einer neuen Erfahrung in die Richtung, jetzt ist es anders als damals, jetzt bin ich nicht allein, jetzt ist jemand bei mir, der auf mein Wohl bedacht ist, braucht eben nicht nur die neue Erfahrung, hier kann ich vertrauen, sondern diese neue Erfahrung eben in Anwesenheit genau der ursprünglichen Emotionsqualität. Die wichtigen Erfahrungen werden in unserem Leben dauerhaft durch spezifische Emotionen, so werden sie in dem Teil des Nervensystems, der für unser grundlegendes Lebensgefühl zuständig ist, kodiert und gespeichert, als spezifische emotionale Erfahrungen.

Die seelischen Urwunden 5: Nicht oder nicht vollständig da sein dürfen

Die vierte seelische Urwunde, die ich im Rahmen der Serie von Blogartikeln zu diesem Thema besprechen möchte, betrifft das Grundgefühl mancher Menschen, dass es am besten wäre, wenn sie gar nicht da wären, wenn es sie gar nicht geben würde. Diese seelische Urwunde entsteht, wenn ein Kind eben nicht als Wunschkind auf die Welt kommt und entsprechend begrüßt wird, sondern es ungelegen kommt, als Belastung für die Eltern empfunden wird.

Es kann sein, dass Eltern oder Elternteile noch sehr jung sind, vielleicht sind sie selber noch halbe Kinder, und sie sind mit dem Kind und mit der Verantwortung überfordert. Es kann sein, dass dieses Kind empfindlich bestimmte Lebenspläne der Eltern oder zumindest von einem Elternteil stört. Vielleicht wird eine bestimmte Berufsausbildung abgebrochen oder ein beruflicher Lebensweg wird unterbrochen oder nimmt aufgrund des Kindes eine ganz andere Richtung als geplant. All dies alleine wäre noch nicht ein hinreichender Grund für diese Urwunde. Wenn aber Eltern oder zumindest ein Elternteil aufgrund der verhinderten Pläne dann ein Ressentiment gegen dieses Kinde entwickelt – und es ist dabei unerheblich, ob ausgesprochen oder unausgesprochen – dann spüren dies die Kinder. Sie spüren, der Mama oder dem Papa oder gar beiden geht es schleicht, und zwar, weil ich da bin.        Manchmal werden solche Sätze auch tatsächlich ausgesprochen gegenüber Kindern, etwas in der Form: „Weil ich mit dir schwanger war, konnte ich ja nicht xxx, was ich doch so gerne gewollt hätte, und seit dem ist mein Leben nicht das, was es hätte sein können oder sein sollen.“ Oft hängt dieser Vorwurf dem Kind gegenüber aber auch unausgesprochen in der Luft. In der Wirkung macht es keinen sehr großen Unterschied, wenn die Eltern oder zumindest ein Elternteil tatsächlich das Kind für sein Unglück verantwortlich macht.

Eine solche Botschaft kann aber auch entstehen, ohne dass eine solche emotionale Zuschreibung seitens der Eltern besteht, wenn ein Kind in einer Zeit großer Not in eine Familie geboren wird, die um das Überleben kämpft, zum Beispiel immer am Rande des Verhungerns sich befindet. Auch hier spürt das Kind schon weit im vorsprachlichen Bereich der Entwicklung die Not und das es die Not verschärft.

Es gibt auch noch einen ganz anderen Sachverhalt, in dem diese Urwunde auftreten kann, wenn auch nur als eine mögliche Option. Wenn es ein während Schwangerschaft verstorbenes Zwillingskind gibt, dann spürt das sich entwickelnde Leben, dass es hier in ganz enger Vertrautheit noch ein anderes Leben gab, das dann aber irgendwann aufgehört hat zu Leben. Und auch hier kann sich das überlebende Kind schuldig fühlen am Tod des Zwillingskindes, eine vielleicht vage Vorstellung, zu viel Raum eingenommen zu haben, kann entstehen.    
Bei einem toten Zwillings-Geschwisterkind entsteht in der Seele eine ähnliche Situation, wie es sie auch später bei Erwachsenen gibt, wenn es um Leben und Tod geht, viele nicht überleben, man selber aber schon. Man kann hier an Soldaten auf dem Schlachtfeld denken oder Schiffskatastrophen oder dergleichen. Solche existenziell lebensbedrohlichen Situationen für ein Kollektiv von Menschen schweißt diese Menschen auf einer seelischen Ebene zusammen und oft haben Überlebende einer solchen Katastrophe ein schwer erklärbares Schuldgefühl gegenüber den verstorbenen Opfern.

Besonders intensiv mag sich eine solche seelische Urwunde auch einstellen, wenn das Kind einen Abtreibungsversuch überlebt, wenn die Abtreibung also fehlschlägt. Diesen Tötungsversuch im Mutterleib nimmt aber die Seele des Kindes durchaus deutlich war.

Die Folgen des nicht (oder nicht vollständig) da sein Dürfens

Die Folgen sind in erster Linie ein sehr eingeschränkter Lebensvollzug. Menschen mit dieser Urwunde können das Leben nicht wirklich vollständig annehmen und in vollem Ausmaß leben. Von außen betrachtet hat man den Eindruck, das Leben wird „wie mit angezogener Handbremse“ gelebt. Auch neigen Menschen mit dieser seelischen Urwunde oft zu übertriebener Zurückgezogenheit, man hat fast den Eindruck, diese Menschen würden versuchen, sich möglichst unsichtbar zu machen. Auf keinen Fall wollen solche Menschen jemand anderem „zur Last fallen“, was es zum Beispiel schwer macht, jemand anderen um etwas zu bitten.

Eine andere Folge kann ein sehr ausgeprägter Moralismus sein, der vor allem auf sich selber angewandt wird. Solche Menschen versuchen dann extrem „gut“ zu sein, moralisch makellos – was sehr anstrengend ist. Dahinter könnte die (Wahn)Vorstellung stehen, ich muss mir mein Lebensrecht verdienen durch einen betont untadeligen Lebenswandel oder durch die penible Einhaltung aller Regeln bis ins kleinste Detail.

Es ist auch denkbar, dass ein solcher Mensch sich besonders stark über eine soziale Rolle, etwa eine berufliche Rolle, definiert und außerhalb dieser Rolle sozusagen gar nicht stattfinde. Dies mag besonders verlockend sein, wenn diese Rolle eine helfende Rolle ist, weil dann innerhalb der Rolle durch die Bedürftigkeit der anderen Person das Existenzrecht verbrieft ist. Aber eben wirklich auch nur innerhalb dieser sozialen Rolle.

Natürlich kann es auch vorkommen, dass in einer Überkompensation ein solcher Mensch besonders stark auf seine Bedeutung und seine Wichtigkeit pocht, gerade wenn es um Kleinigkeiten geht und man merkt, das hinter der verbalen Behauptung der eigenen Bedeutsamkeit sich eine Person verbirgt, die sich das selber nicht abnimmt.

Was hier helfen kann

Was sehr hilfreich sein kann ist zum Beispiel im Rahmen einer Familienaufstellung sich noch einmal den Eltern gegenüber zu stellen, und zu spüren, wie es einem damals als Kind ergangen ist, das Gefühl, es wäre besser, wenn es mich nicht gäbe, noch einmal zu schmecken. Und dann zu den Eltern oder zu dem relevanten Elternteil zu sagen: „Ich bin aber trotzdem groß geworden. Und jetzt nehme ich mein Leben in meine eigenen Hände und ich mache etwas daraus, ein wenig auch dir zu Ehren“. Der letzte Teil des Satzes scheint vielleicht etwas merkwürdig. Warum soll man ausgerechnet das Elternteil ehren, welches mich eigentlich gar nicht haben wollte? Es lässt sich schwer erklären, aber gerade in diesem Teil des Satzes, wenn er nicht nur gesagt, sondern wirklich innerlich vollzogen wird, liegt eine besondere Kraft.

Oder im Falle eines im Mutterleib verstorbenen Zwillingskindes könnte der Satz auch lauten: „Ich leben jetzt mein Leben vollständig und lasse es mir gut gehen. Und alles Gute im Leben erlebe ich euch ein bisschen für dich mit.“

Die seelischen Urwunden – Teil 4: Verkannt oder verwechselt werden

Im letzten (3.) Beitrag dieser kleinen Reihe, in der es um die seelischen Urwunden geht, war das „nicht gesehen werden“ Thema. Hier geht es jetzt um ein verwandtes, aber doch anders gelagertes Problem. In diesem Beitrag geht es um die Situation, wenn ein Kind von seinen wichtigen Bezugspersonen – vornehmlich die Eltern – zwar gesehen wird, aber nicht als die Person, welche sie ist. In dem Kind wird etwas anderes gesehen. Das Kind wird nicht erkannt, sondern verkannt.

Was meine ich damit? Vielleicht lässt es sich am Besten an zwei prominenten Beispielen verdeutlichen.      
Da ist zum einen der Maler Vincent van Gogh. Sein Wikipediaeintrag weiß bezüglich seines Geburtstages am 30. März 1853 zu vermelden: „Genau ein Jahr zuvor war ein nicht lebensfähiger Bruder geboren worden, der ebenfalls den Namen Vincent erhalten hatte.“ Da ist also ein Kind direkt nach der Geburt gestorben. Und dem genau ein Jahr danach geborenen Sohn wird derselbe Name gegeben.    
Zum anderen denke ich hier an den Dichter Rainer Maria Rilke. Auch hier gab es ein Jahr zuvor – wenn auch nicht auf den Tag genau wie bei van Gogh – ein Geschwisterkind, welches als Frühgeburt nur etwa eine Woche gelebt hat. Wieder weiß Wikipedia zu berichten, die Mutter „band ihren einzigen Sohn René – französisch für „der Wiedergeborene“– an sich und drängte ihn in die Rolle der verstorbenen Schwester. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr fand sich Rilke so als Mädchen erzogen; frühe Fotografien zeigen ihn mit langem Haar im Kleidchen.[1]

Hier werden also Kinder sozusagen als „Ersatz“ für ein anderes Kind gesehen, ein früh verstorbenes Kind, ein Kind mit einem schweren Schicksal. Aber eben ein anderes Kind. Haben diese Eltern über den Tod des anderen Kindes ausreichend getrauert? Ich weiß es nicht wirklich, aber die Vermutung drängt sich auf, dass es vielleicht nicht der Fall gewesen sein könnte. Es mag eine Verführung sein, statt zu trauern – was schwer ist – all die unerfüllten seelischen Bestrebungen, die ansonsten dem verstorbenen Kind gegolten hätten, an das lebende nachgeborene Kind heranzutragen. Es sind ganz subtile Dinge, über die wir hier reden, aber Kinder haben einen sehr ausgeprägten Sinn für diese seelischen Unterströmungen. Man wird dann schnell zum „Ersatz“ für jemand anderen. Das Kind merkt: In mir wird eigentlich – zumindest auch – jemand anderes gesehen. Und als Kind sieht man sich zu weiten Teilen eben so, wie die anderen einen sehen, insbesondere die Eltern.

Es ist naheliegend, in solche einer Situation Probleme mit der Herausbildung einer eigenständigen Identität zu vermuten.

Aber es muss nicht immer ein verstorbenes Geschwisterkind sein. Die Situation, dass ein Kind zwar gesehen, aber verwechselt oder verkannt wird, gibt es auch, wenn Eltern eigene nicht erfüllte Sehnsüchte auf ihre Kinder werfen. Das kann eine Mutter sein, die gerne eine Karriere als Künstlerin gemacht hätte, die aber durch Umstände verhindert wurde. Und diese Mutter sieht dann vielleicht in einem ihrer Kinder die Künstlerin oder den Künstler, das Kind soll das erreichen, was mir versagt blieb, auch wenn vielleicht Eignung und Neigung bei diesem Kind gar nicht in diese Richtung geht. Oder ein Vater sieht in einem Sohn die Karriere in einem Leistungssport, für die es bei ihm selber nicht wirklich gereicht hat. Oder aber in einem Sohn z.B. wird von klein an immer der Erbe des elterlichen Betriebes gesehen, obwohl dieser Sohn vielleicht ganz andere Präferenzen hat und keinerlei kaufmännische Interessen.

Natürlich ließen sich noch weitere Beispiele aufzählen, aber die genannten Beispiele genügen vielleicht um zu veranschaulichen, um welche Art von seelischer Urwunde es hier geht.

Die Folgen des verkannt Werdens

Es ist sehr naheliegend, bei einer solchen Verkennung daran zu denken, dass die Entwicklung eines stabilen „Ich-Gefühls“ schwierig sein dürfte. Bei Menschen, denen es schwer fällt, die eigenen Wünsche und Ziele überhaupt zu empfinden, kann als Hintergrund eine solche Verkennung als Kind bestehen. Auch die Ausbildung eines starken eigenen Willens mag beeinträchtigt sein. Man kann auch an das Erleben einer gewissen Selbstentfremdung denken als Folge dieser seelischen Urwunde. Man hört ja manchmal Menschen Sätze sagen wie „ich glaube ich lebe gar nicht mein Leben, ich lebe das Leben eines anderen“.

Was kann man tun?

Wenn ein Mensch von dieser seelischen Urwunde betroffen ist, scheint es mir nützlich zu sein, als erwachsener Mensch bewusst Eigenarten zu kultivieren und zu pflegen. Die Leitfrage könnte sein: Was ist an mir besonders, anders als bei anderen Menschen, eben im Wortsinne „eigenartig“?

Es kann auch helfen, in der Vorstellung sich vor die Eltern hinzustellen und ihnen einfach lange und schweigend in die Augen zu schauen. Im langen Blickkontakt verschwinden die Projektionen, das gilt in gewissem Grad auch, wenn es nur in der Vorstellung passiert.        
Man kann sich auch – wenn man das aushält – einmal vor einen Spiegel setzten und sich selber lange in die Augen schauen.

Als Abschluss

Zum Ende dieses Beitrages möchte ich noch einmal auf Rilke zurückkommen. Es gibt von ihm ein Gedicht mit dem Titel „Engellieder“. Wenn man den Begriff Engel so versteht, dass er als Bote eines jenseitigen Landes daherkommt, in dem unter Anderem die Toten wohnen, kann man dieses Gedicht als Verarbeitung seiner Identifikation mit der vor ihm verstorbenen Schwester verstehen. Der Anfang lautet:

Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.

Da hab ich ihm seine Himmel gegeben, –
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt…

(Das vollständige Gedicht findet sich online z.B. hier)


[1] Wo der zweite Vorname von Rainer Maria Rilke herrührt, müssen wir eigentlich kaum erwähnen. Ja, natürlich: Die Schwester hätte Maria geheißen.

Die seelischen Urwunden – Teil 3: Nicht gesehen werden

Ich habe einmal gehört, dass es einen afrikanischen Stamm gibt, dessen übliche Begrüßungsformel, also das, was bei uns einem „Guten Tag“ oder ähnlichem entspricht, wörtlich übersetzt ins deutsche lauten würde: „Ich sehe dich“. Und derjenige, der es mir erzählte, erläuterte dazu, in diesem Stamm gebe es die Vorstellung, wenn jemand von den anderen Stammesmitgliedern nicht gesehen wird, dann gibt es diese Person auch nicht wirklich. Daher ist diese Formel „Ich sehe dich“ auch eine Versicherung der Existenz des so Angesprochenen.

In diesem dritten Teil der kleinen Serie über seelische Urwunden geht es um das „nicht wirklich gesehen werden“ oder auch um das wenig beachtet werden. Die seelischen Urwunden, um die es in dieser Beitragsserie geht, entstehen meist in der frühen Kindheit. Es geht dabei um grundlegende Bedürfnisse für eine gedeihliche Entwicklung, die nicht oder nicht genügend Erfüllung erfahren.

Mir scheint, es ist nicht nur in dem eingangs erwähnten Stamm so: Als Menschen gibt es einen fundamentalen Bedarf danach, von anderen Menschen gesehen und wahrgenommen zu werden. Wir brauchen Menschen, die sich dafür interessieren, wie es uns geht, die Anteil nehmen an unseren Freuden wie auch an unseren Enttäuschungen und Misserfolgen. Das gilt für Erwachsene aber in besonderem Maße für Kinder.

Das Phänomen, welches der hier zu beschreibenden Urwunde zugrunde liegt, ist recht einfach zu beschreiben. Es gibt manchmal Eltern(teile), die zwar wesentliche Dinge für ihre Kinder leisten wie sie zu nähren, sie zu kleiden, einen Platz zum Wohnen und vielleicht auch zum Spielen zur Verfügung zu stellen. Aber es wirkt von außen betrachte seltsam unbeteiligt, fast unpersönlich. Die Dinge, die für die Kinder getan werden, werden sozusagen mechanisch erledigt, ohne wirkliche Herzlichkeit oder mit wenig Präsenz seitens der Erwachsenen. Die Kinder laufen sozusagen „nebenher“ im Leben der Eltern oder Elternteile. Die Kinder werden versorgt, aber nicht wirklich bestätigt oder wertgeschätzt.

Kinder, gerade auch sehr kleine Kinder, haben ein stark ausgeprägtes Gefühl dafür, ob sie von ihren Eltern gesehen werden oder nicht. Wenn man etwa fragt „wurdest du als Kind von deiner Mutter (oder deinem Vater) gesehen?“ erhält man immer spontan eine Antwort, eben ein ja oder ein nein, ohne zögern. Die Frage wird sofort verstanden. Und wie so oft scheint auch hier – zumindest für noch sehr kleine Kinder – die Mutter etwas wichtiger zu sein als der Vater.

Die Folgen des nicht gesehen werden

Es ist wohl so, wie bei dem eingangs erwähnten afrikanischem Stamm: Wenn wir nicht gesehen werden, wird unsere Identität, unser Identitätsgefühl, brüchig. Wir wissen dann nicht wirklich, wer wir sind oder sind diesbezüglich unsicher. Vielleicht werden wir dann auch unsicher, wo unsere Stärken und Talente liegen.

Es kann auch sein, das nicht gesehen werden führt zu Schwierigkeiten, sich in Gruppen oder Teams gut und verlässlich zu integrieren. In Partnerschaften kann es zu permanenten Zweifeln kommen, ob man wirklich gemeint ist.

Konflikte produktiv zu bewältigen kann ebenfalls sehr schwierig sein mit dieser Urwunde. In einem Konflikt meldet sich dann heimlich das verletzte innere Kind als Träger dieser Urwunde und für dieses innere Kind geht es gar nicht um das, wovon der Konflikt vielleicht auf der sogenannten Sachebene handelt, sondern es geht um den Kampf um das gesehen werden. Das macht Konflikte zäh und schwer auflösbar, zumal dieses Motiv, dass ich eigentlich nur gesehen und beachtet werden möchte, meist nicht bewusst ist.
Ein Kollege von mir, der für Unternehmen zum Thema Konflikte und Konfliktlösungen arbeitete, sagte mir einmal: Auch auf der Führungskräfteebene, wenn ich die Konflikte betrachte, sehe ich immer nur verletzte innere Kinder, die sich verstrickt haben. Mir scheint es so zu sein, dass hier die Urwunde des nicht wirklich gesehen Werdens eine besondere Rolle spielt.

Auch eine stark ausgeprägte Zurückhaltung und Schüchternheit kann mit dieser Urwunde in Beziehung zu stehen. Die frühe Erfahrung, nicht gesehen zu werden und daran nichts ändern zu können, kann zu der inneren Entscheidung führen, dann zeige ich mich auch nicht mehr.

Es kann natürlich auch sein, dass die Erfahrung des nicht gesehen Werdens zu einer Art Überkompensation führt. Das sind dann vielleicht Menschen, die wir alltagssprachlich manchmal als „Angeber“ oder „Prahlhans“ bezeichnen. Auch manche Formen von extrem ausgeprägter Eitelkeit, gerade was Aussehen und körperliches Erscheinungsbild angeht, können eine Überreaktion auf diese Urwunde darstellen. Die Angst, wieder nicht gesehen zu werden, bekämpfe ich mit der Maske der „Übersichtbarkeit“, die ruft: „Seht her, wie toll ich bin“.

Oder wir verlieren uns zu sehr in einer Rolle, besonders in einer beruflichen Rolle, und der Mensch hinter dieser Rolle ist dabei wenig sichtbar und erfahrbar. Wir sind dann vielleicht sichtbar über unsere Leistung und unsere Funktion aber die Gefahr ist dann, dass wir nur Funktionsträger sind. Und wer sind wir dann ohne diese Rolle oder über diese Rolle hinaus? Lauert da eine gähnende Leere?

Eine andere Folge kann auch die Neigung zu Resignation und Rückzug sein, wo es vielleicht darauf ankäme, kraftvoll seine Interessen zu vertreten.

Die nicht präsenten Eltern

Wenn wir uns fragen, wie es kommt, das manche Eltern ihr Kind oder ihre Kinder nicht wirklich sehen und vielleicht wenig beachten, nicht so wirklich innerlich anwesend sind für ihre Kinder, dann scheint es so zu sein, dass dieser Eltern gedanklich und in der Aufmerksamkeit von etwas anderem stark eingenommen sind.

Vordergründig wird dann manchmal gesagt, ja sie hatten viel zu tun, haben viel gearbeitet oder etwas in der Art.

Ich meine, in Familienaufstellungen beobachtet zu haben, dass die fraglichen Eltern auch in ihrem eigenem Leben nicht wirklich „da“ sind, nicht wirklich anwesend sind.

Und die Frage ist dann natürlich: Wo sind sie dann? Oft es ist es so, dass solche Eltern innerlich bei jemand anderem sind, oft einer toten oder einer totgeschwiegenen Person aus dem Familiensystem. Manchmal ist es ein Geschwisterkind, dass früh gestorben ist, manchmal ist es Vater, der sich umgebracht hat als man selbst sechs Jahre alt war, es kann aber manchmal auch eine frühere Partnerin oder ein früherer Partner sein, wo man über die Trennung nie wirklich hinweg gekommen ist. Es gibt hier viele unterschiedliche Möglichkeiten, wo das Elternteil innerlich leben kann, wenn es im Leben nicht wirklich anwesend ist.

Das tragische ist: Hier kann man nicht viel machen, insbesondere das Kind kann hier nichts ändern. Manchmal ist es möglich, dass im Familiensystem sozusagen ein „Bypass“ gelegt wird. Dann kann das Kind vielleicht die Aufmerksamkeit und Anteilnahme zum Beispiel von Großeltern bekommen. Das verhindert zwar nicht die Urwunde, es lindert aber den damit verbundenen Schmerz ein wenig.

Was kann man tun?

Was kann man als erwachsener Mensch tun, wenn es diese Urwunde des nicht gesehen Werdens aus der Kindheit gibt?

Ein wichtiger Punkt scheint mir zu sein, diese seelische Wunde bei mir selbst wirklich anzuerkennen, zu spüren, dass sie da ist.

Der nächste Schritt wäre: Selber zu sehen, und zwar die Eltern oder das Elternteil, was mich als Kind nicht wirklich gesehen hat. Ich schaue auf die Mutter oder den Vater und sehe sie in ihrer inneren Abwesenheit. Und ich erkenne: Sie haben getan, was sie konnten, was ich damals gebraucht hätte, konnten sie mir nicht geben. Und dann – und das ist ein schwerer Schritt – verabschiede ich mich von dem Anspruch, es hätte anders sein sollen. Das ist meist mit einem Gefühl von Trauer verbunden und auch diese Trauer will durchfühlt sein, wenn der Abschied vom Anspruch gelingen soll.

Und dann geht es darum, mir als erwachsene Person bewusst ein Umfeld zu erschaffen in persönlichen Beziehungen, wo ich gesehen werde. Und ich muss es dann auch wahrnehmen, wenn ich gesehen werde. Auch das ist mitunter nicht ganz einfach, wenn ich in der latenten Erwartungshaltung lebe, ich werde sowieso nie wirklich gesehen, dann sehe ich selber vielleicht nicht, wenn es einmal anders ist. Diese Wahrnehmung, wo und von wem werde ich gesehen, will auch gelernt sein.

Die seelischen Urwunden – Teil 2: Trennung und Verlassen werden

Nach dem einleitendem ersten Teil der Beitragsserie, in dem es recht allgemein um seelische Urwunden ging, wende ich mich mit diesem Beitrag der ersten von sieben Urwunden zu, der frühen Trennung insbesondere von der Mutter und dem Gefühl des Verlassen seins.          
Noch einmal als Erinnerung: Die Beitragsserie handelt von den seelischen Urwunden, die in einer sehr frühen Phase der Entwicklung entstehen, also als Baby und als kleines Kind. Es geht also nicht so sehr um spätere Trennungen im Erwachsenenleben. Allerdings können solche Trennungen im Erwachsenenleben durch eine Urwunde aus der frühen Kindheit emotional überlagert und aufgeladen sein, weshalb sie als besonders schwierig oder schmerzhaft erlebt werden.

Für ein neu geborenes oder noch sehr kleines Kind ist die Erfahrung einer (längeren) Trennung von wichtigen Bezugspersonen sehr einschneidend. Hier ist natürlich in erster Linie an die Eltern zu denken und die Trennung von der Mutter ist noch einmal ein wenig bedeutsamer als die Trennung vom Vater.

Hinsichtlich der Urwunden reden wir hier über existenzerschütternde oder existenzgefährdende Erfahrungen. Es geht sozusagen buchstäblich um Leben und Tod. Und genau das passiert bei einer Trennung in einer sehr frühen Lebensphase. Menschen sind mit ihrer Geburt sehr hilflos und für eine recht lange Zeit auf eine verlässliche Beziehung angewiesen, welche stützt und versorgt und nährt. Und deswegen wird eine Trennung insbesondere von Elternteilen eben auch als existenzgefährdend erlebt.

Formen der Trennung

Es gibt vielfältige Formen der Trennung, welche in diesem Sinne vom Kind erlebt werden können.

  • Es kann sein, dass ein Baby direkt mit der Geburt weggegeben wird, z.B. in der Form, dass es zur Adoption freigegeben wird oder in eine Heimeinrichtung oder in eine Pflegefamilie gelangt.
  • Früher war es in Krankenhäusern als Standardgeburtsort durchaus üblich, die Neugeborenen direkt nach der Geburt von der Mutter zu trennen. Die Neugeborenen wurden in ein Wägelchen gegeben und erst einmal in einen getrennten Raum mit anderen Neugeborenen geschoben. Und wenn das Baby schrie, wurde es schreien gelassen, so lange, bis es sich müde geschrieen hatte. Die Rationalisierung für dieses Vorgehen war, die Mutter müsse sich nach der anstrengenden Geburt erholen. Außerdem wurde gesagt, wenn man Babys lange schreien lässt, kräftigt dies die Lungenfunktion.
  • Eine andere Form der Trennung ist, wenn die Mutter an den Folgen der Geburt verstirb, was zu früheren Zeiten durchaus nicht selten war.
  • Bei Frühgeburten werden die Neugeborenen auch getrennt von der Mutter um in einem sog. Brutkasten sozusagen „nachzureifen“.
  • Es kann auch sein, dass ein Elternteil die Familie verlässt – aus welchen Gründen auch immer – während das Kind noch sehr klein ist.
  • Es kann auch sein, dass die Mutter oder auch der Vater einen Krankenhausaufenthalt haben, während das Kind noch sehr klein ist. Auch dies ist eine Trennung und wir müssen dabei bedenken, dass im Zeiterleben und in der Zeitperspektive eines kleinen Kindes eine Zeit von zwei oder drei Wochen einen unüberschaubar lange Zeit ist.    
    Das gilt z.B. auch, wenn Kinder sehr dicht aufeinander folgen und die Mutter für die Geburt eines Geschwisterkindes im Krankenhaus ist.
  • Ebenso ist jeder – vielleicht medizinisch absolut notwendige – Krankenhausaufenthalt des Kindes selber, wenn es noch sehr klein ist, eine solche Trennung von unabsehbarer Dauer.
  • Es kann natürlich auch vorkommen, dass Eltern oder Elternteile versterben, etwa durch einen Unfall oder durch Kriegsereignisse, wenn das Kind noch sehr klein ist.
  • Mitunter gehen auch Eltern oder Elternteile in ein fremdes Land, wenn das Kind noch sehr klein ist, und lassen das Kind dann zurück, meist in der Obhut von Verwandten, manchmal auch nur sehr entfernten Verwandten.
  • Nicht zuletzt kann auch die täglich Weggabe von sehr kleinen Kindern in eine Kinderkrippe oder Tagesbetreuung, während die Mutter arbeiten geht, in diesem Sinne als Trennung und Verlassen werden empfunden werden, in diesem Fall ständig wiederkehrend.

Die Liste ließe sich wahrscheinlich auch noch fortsetzen, sie mag aber auch in ihrer Unvollständigkeit ein Spektrum von Möglichkeiten für diese Urwunde beschreiben.

Auswirkungen der Urwunde

Alle Urwunden, über die ich in dieser Beitragsreihe schreibe, können vielfältige Auswirkungen haben, sowohl im psychischen Bereich wie auch im Bereich körperlicher Erkrankungen. Es handelt sich bei den Urwunden ja sozusagen um eine grundlegende „Beschädigung“ des Lebens, des vollständigen Lebensvollzugs.

Nun ist die Unterscheidung zwischen psychischen und körperlichen Auswirkungen nur eine akzentuierende, eigentlich gibt es das nicht wirklich als zwei klar getrennte Bereiche. Aber nach meinem Eindruck ist doch so, dass die Wirkungen einer Urwunde im psychich-seelischen Bereich sich klarer in Verbindung bringen lassen mit den Besonderheiten der jeweiligen Urwunde als im Bereich der körperlichen Erkrankungen, wo alle möglichen Symptome sich einstellen können.

Die hier thematisierte Urwunde des Verlassens-Werdens betrifft im Kern die Zugehörigkeit, die hier gefährdet ist. In sozialen Systemen, in Familien aber auch z.B. in Organisationen ist dies einer der ganz grundlegenden Aspekte: Wer gehört dazu? Und es scheint so zu sein, dies ist eine der großen Entdeckungen von Bert Hellinger anhand von Familiensystemen, dass die Seele (wir könnten sagen: die „große Seele“ die in Systemen wirkt) es nicht toleriert, wenn jemand aus einem System ausgeschlossen wird, der dazu gehört. Und die Kräfte, die hier wirken, suchen sich dann jemand anderen im System, meist Nachgeborene, um an das Schicksal der ausgeschlossenen Person zu erinnern. Das wäre der systemische Aspekt.

Aber auch individuell ist die Zugehörigkeit ganz fundamental und die fehlende Zugehörigkeit schädlich für das Leben, ja manchmal direkt lebensbedrohend. Es gibt ja die bekannte Bedürfnispyramide nach Abraham Maslow. In dieser Hierarchie der Bedürfnisse wird das Bedürfnis nach Zugehörigkeit direkt nach den physiologischen Bedürfnissen des Körpers und dem Bedürfnis nach Sicherheit angeordnet. Mir scheint inzwischen dagegen, und hier würde ich dem Modell bei allem Respekt für den Urheber widersprechen, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit noch grundlegender zu sein, mir scheint, es ist die eigentlich Basis für alles andere. Man merkt es daran, dass Menschen mitunter alles (im Wortsinnes wirklich alles) tun, nur um dazugehören zu dürfen. Da wird dann gehandelt in einer Form, welche den physiologischen Bedürfnissen entgegen steht und im Extremfall gehen sogar Menschen in den Tod oder begeben sich zumindest in Todesnähe, nur um dazu gehören zu dürfen.

Doch zurück zu den psychischen Auswirkungen dieser Urwunde. Mir scheint, dass diese Urwunde der Trennung und des Verlassen-Werdens sich oft auswirkt in einem Grundgefühl der Trauer. Es handelt sich hier um eine sozusagen „namenlose“ Trauer, die Traurigkeit als Grundgefühl ist einfach da, ohne das konkret benannt werden könnte, worum genau getrauert wird. Des Weiteren kann man eine übergroße Verlustangst plausibel mit dieser Urwunde in Verbindung bringen. Auch eine stark ausgeprägte allgemeine Ängstlichkeit oder das Grundgefühl des Misstrauens, eines fehlenden Urvertrauens haben oft in dieser Urwunde ihren Ursprung. Ebenso kann man hier an Menschen denken, deren grundlegendes Lebensgefühl von Ablehnung oder der Furcht vor Ablehnung geprägt ist.

Allgemein kann man sagen – und dies gilt jetzt für jede Form der Urwunde – dass eine Urwunde die Herausbildung einer „Überlebenspersönlichkeit“ bewirkt. Gemeint sind damit Strategien, welche verhindern sollen, dass ich mit der Urwunde und dem darin liegenden Urschmerz in Kontakt komme. Dummerweise sind diese Überlebensstrategien aber auch genau das, was oft das eigentlich Leben in seiner Fülle verhindert. Bezüglich der Urwunde der Trennung ließe sich hier vor allem an die Überlebensstrategie der Überanpassung an die Wünsche und Erwartungen anderer Menschen denken. Es kann sich aber auch in Form einer selbstgewählten Isolation, eines Rückzugs aus sozialen Zusammenhängen ausdrücken, nach dem Motto: „Wenn ich Zugehörigkeit gar nicht mehr anstrebe, kann sie mir auch nicht versagt werden.“

Die Heilung der Urwunde

Es mag dir, liebe Leserin und lieber Leser, vielleicht beim Lesen des Textes schon der Gedanke gekommen sein, dass man statt von einer Urwunde auch von Trauma reden könnte. Und das ist auch richtig, das was hier in der Beitragsserie als Urwunde angesprochen wird, könnte man auch als Entwicklungstrauma (im Gegensatz zum Schocktrauma) bezeichnen.

Dementsprechend sind alle psychotherapeutischen Techniken hier hilfreich, die aus dem Bereich der Traumatherapie kommen, wie EMDR, das sog. „somatic experiencing“ oder auch Techniken wie Klopfakkupressur (EFT). Im Rahmen von Familienaufstellungen wird diese Urwunde durch die Heilung der sog. „unterbrochene Hinbewegung“ angesprochen. Aber auch manche Techniken aus dem NLP wie z.B. „change history“ oder das „six step refraiming“ können hier heilend wirken.

Generell ist bei Urwunden alles heilsam, was es mir erlaubt, mit dem Gefühl dieser Urwunde in Kontakt zu treten. Die Überlebenspersönlichkeit tut alles, um dieses schmerzhafte Gefühl zu vermeiden, die Heilung geschieht aber, wenn das Gefühl da sein darf und seinen Platz bekommt, wenn es einmal „durchgefühlt“ werden kann. Dazu bedarf es meist einer speziellen Unterstützung und eines geschützten Rahmens.

Ich möchte aber speziell zu dieser Urwunde auf etwas hinweisen, was vielleicht wie eine Kleinigkeit erscheinen mag, aber sehr profunde Wirkungen haben kann. Manchmal ist es einfach wichtig, wenn ich mich mit dem schmerzhaften Gefühl der Urwunde befasse, dass dann jemand da ist, eine Person die mich begleitet dabei und die nicht weg geht, mich nicht alleine lässt damit. Und diese Person muss gar nicht viel tun, sie muss nur da sein.       
Das kann ein guter Freund oder eine gute Freundin sein oder eine sonst wie mir nahe stehende Person. Das kann aber auch eine Therapeutin oder ein Therapeut sein. Therapeutinnen oder Therapeuten sind manchmal nichts anderes als bezahlte Freunde auf Zeit. Und hier ist oft der lösende Satz: „Wenn du dich deiner Urwunde zuwendest, dann bleib dabei. Ich bleibe auch dabei! Ich bleibe bei dir!“

Die seelischen Urwunden – Teil 1: Der Betrachtungsrahmen

Dieser Beitrag ist der erste in einer kleinen Serie von Beiträgen, in denen es um seelische Urwunden gehen soll. In den folgenden Beiträgen soll es um jeweils eine dieser Urwunden gehen, ich meine davon insgesamt sieben verschiedene in der Arbeit mit Menschen bislang beobachtet zu haben. Aber wie gesagt: Mehr dazu in den folgenden Beiträgen.

In diesem ersten Beitrag wird es dagegen um den Bezugsrahmen der Betrachtung der Urwunden gehen. Was genau rechtfertigt diese Bezeichnung „Ur-Wunde“ in Abgrenzung zu weniger schwerwiegenden, wenn man so will, kleineren Verletzungen in der Psyche und auf der seelischen Ebene?

Wir können in einer ersten Annährung sagen: Eine Urwunde entsteht und ein Urschmerz wird empfunden, wenn ein Kind, besonders ein kleines Kind, eine Verletzung von existenzerschütternder Tragweite erfährt. Beispielsweise: Ein neugeborenes Kind wird von seiner Mutter getrennt. Das ist als Erfahrung im Wortsinne markerschütternd. Und alle späteren Enttäuschungen im Leben, die eine ähnliche Qualität habe, also z.B. von jemandem verlassen zu werden, rühren dann im Erleben an diesen Ur-Schmerz, der buchstäblich damals die Welt des kleinen Kindes erschütterte. Die Erinnerung an die Urwunde macht es, dass dieses Thema bei mir ein wunder Punkt ist. Während andere mit ähnlichen Lebensvorfällen im Erwachsenenalter anscheinend gut klar kommen. Aber in mir ist es anders. In mir wirkt in jedem Lebensereignis mit diesem Thema und dieser Qualität nicht nur das gerade aktuelle Geschehen, sondern die damals erschütternde Urwunde. Die schwingt bei mir eben mit und das macht dann das gerade aktuelle Ereignis zu einem „Trigger“, das aktuelle Ereignis wird mit der Emotion von damals, mit der Emotion des Urschmerzes erlebt.

Eine – zugegebenermaßen idealisierte – Vorstellung davon, wie wir in diese Welt eintreten sollten

Ich bediene mich jetzt einer Vorstellung und zwar einer idealisierten Vorstellung. Es geht darum, wie ein kleines Kind, ein Baby, am besten mit der Geburt in diese Welt eintreten kann. Und es geht darum, was ein Mensch in diesem Moment, wo er aus dem Körper der Mutter in das Leben eines getrennten Individuums einritt, am meisten benötigt. Die Vorstellung handelt also davon, wie dieser Nachwuchsmensch – im Trainee-Programm für die nächsten etwa zwei Jahrzehnte – diese Lebensreise unter möglichst guten Umständen starten kann, wie dieser Mensch am besten begrüßt wird. Diese Vorstellung bildet den Kontrast, gegen den die Urwunden, so hoffe ich, deutlich beschrieben werden können.

Die Kontrastfolie, die ich im Folgenden beschreiben möchte, stammt allerdings nicht von mir. Ich bediene mich hier verschiedener Ideen und Formulierungen des bekannten und vor zwei Jahren verstorbenen Arztes und Psychotherapeuten Wolf Büntig.

Stellen wir uns einmal vor, ein Baby durchlebt den Geburtsprozess, der ja auch ein sehr existenzieller Kampf um das Leben ist, und kommt auf diese Welt. Dieses Baby wird nun mit einer völlig anderen, völlig neuen Welt konfrontiert. Diese Welt ist ganz anders als die – im günstigen Fall – Geborgenheit im Mutterleib.

Was sollte dieses Baby nach Möglichkeit in den Augen der bei der Geburt anwesenden Menschen als erstes lesen? Wäre es nicht schön, wenn die Menschen um die Geburt herum, natürlich in erster Linie die Mutter und der Vater, aber eben auch andere Personen wie Hebammen oder weiteres medizinisches Personal, dieses Wesen mit einem Blick begrüßten, des sagt: „Willkommen!“.

Der Blick könnte sagen:

„Hallo, Du! Sei willkommen! Wir sind neugierig auf dich, wer du bist, wie du bist. Du bist jemand, ein Mensch, wie es noch nie einen gegeben hat und nie wieder einen geben wird. Du bist einzigartig. So wie du ist kein anderer Mensch, kein einziger von den etwa ach Milliarden Menschen, die derzeit leben. So wie du, genau so wie du, war noch nie ein Mensch in der ganzen Menschheitsgeschichte. So wie du, genau so wie du, wird auch nie mehr ein anderer Mensch in der Zukunft sein.

Wir freuen uns, dich kennen zu lernen! Wir freuen uns an deinen Besonderheiten und an deiner Entwicklung. Du fügst dem großen Konzert des menschlichen Lebens deinen ganz eigenen Ton hinzu. Ohne dich würde ein Ton fehlen in der großen Symphonie und diesen Ton würden wir schmerzlich vermissen. Wir sind sehr gespannt auf deine ganz eigene Lebensmelodie. Und solltest du sie einmal vergessen, diese eigene Lebensmelodie, werden wir sie die gerne vorsummen, damit du dich wieder an sie erinnerst.

Wir lieben dich ganz unbedingt! Du bereicherst unser Dasein um genau dein Dasein, so wie du bist und so wie du dich entwickeln wirst. Ohne dich wäre die Welt ärmer. Und wir wollen erfahren, wer du wirklich bist.“

Liebe Leserin, lieber Leser, vielleicht verbleibst du noch einen Moment in der Vorstellung, wie es wäre, wenn jeder neue Erdenbürger so empfangen würde. Und ja, all dies können Babys nur aus einem Blick herauslesen und herausspüren, sie sind in dieser Phase noch sehr offen, ohne Filter und extrem empathiebegabt. Vielleicht erscheint dir die Vorstellung übertrieben harmonisch, ja geradezu kitschig? Oder du findest sie zumindest unrealistisch? Da könntest du durchaus Recht haben. Und doch brauchen wir diesen Vergleich, um uns dem Thema der Urwunden zuwenden zu können.

Was alles so dazwischen kommen kann

Natürlich sieht die Realität der Geburt, insbesondere in den Krankenhäusern, oft anders aus. So ist das Licht der Welt, welches das Baby erblickt, oft erst einmal geradezu schmerzhaft hell nach der langen Dunkelheit. Und oft wird die Nabelschnur unnötig schnell durchtrennt, so dass der eigene Atem sich nicht sanft entfalten kann, sondern durch einen Erstickungsreflex ausgelöst wird. Dies sind nur zwei Aspekte, die Liste ließe sich verlängern.

Aber ich will ja hier gar nicht so auf die biologischen Gegebenheiten hinaus, sondern auf die psychischen und seelischen Urwunden, die wunden Punkte, die psychischen Achillesfersen, die sich aus der Abweichung vom Idealbild einer Begrüßung im Leben ergeben (können).

Nach meinen Beobachtungen und Erfahrungen sowohl bei mir selbst wie auch bei den Menschen, mit denen ich arbeiten durfte, sehe ich sieben verschiedene mögliche Urwunden, sieben verschiedene Färbungen oder sieben verschieden Tonarten, welche eine Urwunde annehmen kann. Es sind dies, ohne Wertung in der Reihenfolge der Nennung:

  • Verlassen werden / getrennt werden
  • Nicht gesehen werden, nicht beachtet werden
  • Verkannt oder verwechselt zu werden
  • Nicht oder nicht vollständig da sein dürfen (Du bist zuviel!)
  • Betrogen zu werden, hintergangen zu werden
  • Nicht oder nicht genug geliebt zu werden. Auch: Nicht oder nicht genug genährt zu werden. (Nährung sowohl körperlich wie auch emotional verstanden)
  • Gedemütigt werden oder eklatante Ungerechtigkeit zu erleben

Zu jeder dieser Ausprägungen oder Einfärbungen werden in den folgenden Teilen dieser Serie einen eigenen Beitrag schreiben.

Ich möchte aber hier noch etwas Allgemeines anmerken. Wenn wir uns die verschieden Urwunden in der Liste anschauen, dann bewerken wir, dass sie alle einen schmerzhaften Mangel oder eine schmerzhafte Enttäuschung beinhalten. Das Kind, insbesondere das kleine Kind, erfährt das Fehlen von etwas, was es erwartet hat (meist höchst unbewusst erwartet hat) und von etwas, was es für die gedeihliche Entwicklung und das Wachstum benötigt. Das ist der Ur-Schmerz in der Urwunde: Etwas fehlt, was bitter und dringend benötigt wurde.

Aber, bitte, eines ist noch sehr wichtig sich dabei vor Augen zu führen: Wir reden hier nicht über irgendwelche Enttäuschungen oder Frustrationen im Kinderleben, wie z.B. nein, ich darf keine Süßigkeiten vor dem Mittagessen haben, obwohl ich doch so möchte. Nein, das ist nicht gemeint. Es geht um den existentiellen Mangel, um Dinge, die buchstäblich an Sein oder Nicht-Sein anrühren. Es geht um die existenziellen Bedürfnisse gewollt zu sein, da sein zu dürfen, Verbundenheit und Verlässlichkeit zu erleben, geliebt zu werden, genährt zu werden, erkannt zu werden. Und eben auch: Nicht mutwillig verletzt zu werden, sei es körperlich oder emotional. Über diese Dinge reden wir hier, wenn wir Urwunden und die damit verbundenen Urschmerzen thematisieren.

Vielleicht wird so auch noch einmal deutlicher, warum wir erst die idealisierte Vorstellung einer in jeder Hinsicht vollständigen Entwicklungsumgebung für das neue Mitglied der Menschheitsfamilie benötigten. Nur, um sie als Folie zu verwenden, welche Verletzungen und welche Schmerzen auftreten können. Nicht als normativer Anspruch, so hätte es sein sollen.

Eine deutliche Warnung zur lebensfeindlichen Wirkung von Idealen

Wie gesagt, wir verwenden das Ideal nur, um im Kontrast besser benennen zu können, was gefehlt hat. Damit der Urschmerz einen Namen bekommen kann. Das Leben selber ist nicht ideal und kann es nicht sein. Die Reibung an einer nicht perfekten Welt ist genau das Merkmal des Lebendigen, ohne diese Reibung hätten wir nur Sterilität, und damit Leblosigkeit.

Dass wir solche Verletzungen erleiden, in der einen oder anderen Form und natürlich in unterschiedlichen Ausprägungen der Intensität, ist nicht vermeidbar. Menschen sind fehlbar. Das unterscheidet sie von Automaten oder Robotern. Das Leben selbst macht jede Menge Fehler und Irrtümer, könnte man sagen. Aber in der Fülle des Lebendigen, des geglückten Lebendigen, spielt das nicht wirklich eine Rolle.

Die Warnung vor der lebensfeindlichen Natur eines Ideals ergeht hier vor allem (auch) an die Eltern. Ja, du bist nicht die perfekt Mutter oder der perfekte Vater. Ja, du wirst Fehler machen oder gemacht haben in Bezug auf dein Kind. Auch das ist unvermeidbar. Das Ideal gibt es nicht, es ist nur eine Vorstellung, eine Fiktion, nichts wirklich Lebendiges, ein reines Gedankenkonstrukt. Es geht nicht darum, perfekt zu sein, als Elternteil. Es geht nur darum, sich ein offenes Herz, ein Mitfühlen zu bewahren, wenn es zu Verletzungen beim Kind in dem hier gemeintem Sinn kommt. Nur so bleiben wir Mensch, in unserer Unvollkommenheit (und gerade wegen unserer Unvollkommenheit).

Deswegen hat auch der Satz „Es tut mir leid!“ so eine große Wirkung, wenn er ehrlich und von Herzen so gemeint ist. Es braucht dann keine Rechtfertigungen mehr, keine Diskussion. Diskussion trennt, Mitgefühl und „es tut mir leid“ verbindet (wieder).

Aber auch für die Kinderperspektive, also der Perspektive des inneren Kindes in mir als Erwachsener gilt die Warnung vor dem Ideal! Es kann ja sein, dass du, liebe Leserin und lieber Leser, dich in der Beschreibung der einen oder anderen Urwunde wiederfindest. Du erinnerst die vielleicht, du kannst den Schmerz spüren. Auch, wenn du das konkrete Ereignis vielleicht nicht erinnerst, aber das Gefühl ist da und sehr präsent.

Hier gilt die Warnung in der Form: Jeder Gedanke in die Richtung, „dass hätte nicht passieren dürfen“ ist von zweischneidiger Wirkung. Ja, natürlich hast du Recht, es hätte nicht sein dürfen. Aber genauso ist die Realität: Es war aber so, es ist aber so passiert. Das Leben ist nicht perfekt, nicht ideal. Also: Ja, du hast da eine schwere Verletzung und einen intensiven Schmerz erlebt. Da gibt es nichts zu relativieren. Es war genau so wie es war.       
Und jetzt kommt die zweite Seite des Schwertes: Wenn du daran festhältst, es hätte nicht sein dürfen, hältst du den Schmerz von damals in der Gegenwart. Bitte, das soll kein Vorwurf sein. Es gibt aber auch die Möglichkeit, die Erinnerung zu bewahren aber den Schmerz in der Vergangenheit zu lassen. Damals tat es weh. Und zwar höllisch weh. Aber eben damals.

Wenn das gelingt, wird aus der Urwunde eine Narbe. Nennen wir sie ruhig Ur-Narbe. Aber das ist der Unterschied zwischen einer offenen Wunde und einer Narbe: Wenn du dir irgendeine Narbe an deinem Körper anschaust, kannst du dich erinnern. Ja, das war damals, als ich mit dem Roller gestürzt bin und der große Stein mit der scharfen Ecke mein Schienenbein aufgerissen hat. (Es hat fürchterlich geblutet und der Knochen war zu sehen. Und es tat höllisch weg. Und wegen dem vielen Blut dachte ich damals, ich muss sterben.) Aber wie gesagt, das war alles damals. Du kannst dich erinnern, die Narbe erinnert dich, aber die Narbe schmerzt nicht, wenn du sie ansiehst.

Kurz: Es gilt, aus den Urwunden in der Seele Narben zu machen. Dann sind sie auch kein „wunder Punkt“ mehr, kein Trigger. Es ist nur eine Erfahrung.

Über den Segen und das Segnen

Es gab früher mitunter eine Redeweise, da hat man gesagt, wenn ein bestimmtes Vorhaben durch die Umstände begünstigt wurde: „Da liegt ein Segen drauf“. Oder eben, wenn ein Vorhaben nicht gedieh und nicht vorankam: „Da liegt kein Segen drauf“. In manchen Familien gab es auch den Brauch, vor dem gemeinsamen Essen die Mahlzeit zu segnen. Im christlichen Gottesdienst werden zum Abschluss des Gottesdienstes die Gemeindemitglieder gesegnet. Im modernen Alltag hat sich diese Praxis des Segnens eher verloren.

Was hat es mit dem Segen bzw. mit dem Segnen auf sich? Auf Wikipedia findet sich die Angabe, ein Segen „bezeichnet in vielen Religionen ein Gebet oder einen Ritus, wodurch Personen oder Sachen Anteil an göttlicher Kraft oder Gnade bekommen sollen. Durch einen Segen erhält also eine Person oder auch ein Geschehen einen Zuwachs an Kraft. Und dieser Kraftzuwachs wird aber nicht erfahren aus dem begrenzten Ich heraus, sondern er wird bewirkt durch etwas Überpersönliches, in gewissem Sinne durch „höhere Mächte“, so die Vorstellung.

Bert Hellinger hat in die Welt der Familienaufstellungen einige sehr altertümliche Formulierungen eingeführt, die auf den ersten Blick sehr altbacken wirken, aber tatsächlich oft eine besondere Kraft entfalten. Es gibt einige Formen von Verstrickungen mit schweren Schicksalen in Familiensystemen, welche sich so auswirken, dass eine nachgeborene Person sich etwas versagt, was dieser Person eigentlich möglich wäre. Und die Verstrickung besteht darin, dass ich mir etwas versage in unbewusster Solidarität mit einem früheren Familienmitglied, welches dies eben auch nicht haben konnte, oft aus schicksalhaften Gründen. Dies kann eine Frau sein, die keine glückliche Beziehung zu einem Mann führen kann aus – natürlich völlig unbewusster – Verstrickung mit vielleicht einer Tante, welcher dies ebenfalls verwehrt war. Oder ein Mann, der trotz bester Ausbildung und Fähigkeiten beruflich nicht erfolgreich ist, weil er unbewusst treu zu seinem Vater steht, der ebenfalls beruflich nicht erfolgreich war.     
In solchen Fällen hat Hellinger dann mitunter jemandem in einer Aufstellung vorgeschlagen, er oder sie solle die Person, mit der man verstrickt ist, sagen: „Bitte, segne mich, wenn ich mit einem Mann glücklich werde“ oder „Bitte, segne mich, wenn ich beruflich erfolgreich bin“.

Wie gesagt, das wirkt alles etwas altertümlich, aber ich selber habe auch schon häufiger ähnliche Sätze bei ähnlichen Verstrickungen vorgeschlagen und den Eindruck gewonnen, dass gerade in diesem „gesegnet werden“ oft eine besondere Kraft liegt. Ein solcher erbetener und dann vom jeweiligen Gegenüber in der Aufstellung ausgesprochener Segen scheint den „Bann“ der unbewussten Verstrickung besonders effektiv lösen zu können, vorausgesetzt, der Segen wird ernsthaft und gesammelt erbeten und dann innerlich vollständig angenommen.

Eine etwas weichere Formulierung, die ebenfalls auf Bert Hellinger zurückgeht, wäre: „Bitte schau freundlich auf mich, wenn ….“. Auch dies wirkt oft und vermeidet die religiöse Assoziation, die im Segen liegt. Mein Eindruck ist allerdings, dass in der Variante der Segnung noch mehr Kraft liegt. Vielleicht gerade deshalb, weil das Segnen für uns im Alltag so unüblich geworden ist.

Es gibt bei der Segnung auch mitunter recht überraschende Konstellationen, etwa bei der Frage, von wem der Segen erlangt werden sollte. Ich erinnere mich an eine Aufstellung im Rahmen meiner Ausbildung, da hatte eine Frau das Anliegen, dass sie es immer wieder nicht schaffte, eine dauerhafte und tragfähige Beziehung zu einem Mann einzugehen. In der Aufstellung stellte sich schnell als zentral für dieses Anliegen die Großmutter mütterlicherseits heraus. Diese hatte eine ganze Reihe von Ehemännern gehabt, ich meine es wären sieben gewesen. Und alle sind nach kurzer Ehezeit, mitunter nur von wenigen Monaten, unter meist merkwürdigen Umständen verstorben. Und es gab den Verdacht – der allerdings nie bewiesen wurde – diese Großmutter habe alle ihre Ehemänner vergiftet. Jedenfalls war der Schlüssel in der Aufstellung, dass die Frau, für welche die Aufstellung gemacht wurde, vor ihrer Großmutter stand und sagte: „Bitte segne mich, wenn bei mir ein Mann bleiben kann!“

Das ist natürlich mit dem Verstand schwer zu verstehen. Die Vorstellung, den Segen zu einer gelingenden Partnerschaft ausgerechnet von einer (mutmaßlich) mehrfachen Gattenmörderin zu erhalten, kann befremdlich wirken, wenn man das so berichtet. Und doch war es zumindest in diesem Fall so. Die Seele geht manchmal seltsame Wege.

Ich möchte schließen mit einer Anregung: Wie wäre es, liebe Leserin und lieber Leser, wenn du das Segnen einmal ausprobieren würdest in deinem Alltag, völlig unabhängig von der Welt der Familienaufstellungen. Wenn du vielleicht vor jeder Mahlzeit dein Essen segnen würdest, dass es möglichst bekömmlich und nahrhaft für dich sein möge. Oder wenn du morgens nach dem Erwachen den beginnenden Tag segnen würdest, damit er angenehm und erfolgreich verlaufe. Oder wenn du deine Vorhaben und Projekte segnen würdest, damit sich hier möglichst förderliche Fügungen einstellen mögen. Du könntest dann beobachten, ob und welche Wirkungen des Segens du feststellen kannst.

Bindung, Freiheit und Verstrickung

In diesem Beitrag möchte ich drei Begriffe ein wenig näher erläutern, die untereinander in einem gewissen Zusammenhang stehen, über die es aber mitunter etwas naive Vorstellungen gibt. Es geht einerseits um das Verhältnis von Freiheit und Bindung, welche auf den ersten Blick als Gegensätze erscheinen und andererseits um die sog. „Verstrickung“, die in Familienaufstellungen eine zentrale Rolle spielt, und die eine besondere Form der Bindung darstellt.

Freiheit

Freiheit erscheint zunächst als positiv, als unbedingt erstrebenswert. Allerdings ist dieses Wort neben seiner positiven emotionalen Aufladung auch ein wenig inhaltsleer. Es sei denn, wir machen nähere Angaben dazu, in welcher Situation wir genau was damit meinen. Wenn man unbefangen jemanden fragen würde „Möchtest du frei sein?“, dann werden die meisten Menschen das spontan bejahen. Wer ist schon gerne eingesperrt, das wäre etwas, was bei uns vielleicht als Gegenteil der Freiheit mitschwingt. Aber wie gesagt, die Rede von der Freiheit bleibt häufig etwas unbestimmt. Zumindest müsste man da einmal nachfragen, was genau gemeint ist. Freiheit wovon? Oder: Die Freiheit, was genau zu tun?

Nehmen wir gedanklich eine jugendliche Person. Hier kann sich, besonders in der Pubertät, ein Freiheitsstreben Bahn brechen, welches darauf zielt, unabhängiger vom Elternhaus zu werden. Vielleicht wird es so empfunden, man möchte der Bevormundung durch die Eltern entgehen. Und dieses Freiheitsstreben dient natürlich einem sinnvollen Entwicklungsschritt, nämlich der Abnabelung von den Eltern und dem Weg in die eigene Selbstständigkeit. Aber ist der erwachsene Mensch wirklich freier als das Kind? Mit der Selbständigkeit erwachsen neue Verpflichtungen, manchmal Zwänge. Ich muss mir jetzt meinen Lebensunterhalt verdienen, um nur einen Aspekt zu nennen. Und im Vergleich zum arbeitenden Menschen genießen Kinder durchaus eine größere Freiheit in Manchem, sie sind zumindest von der Sorge für Wohnung, Kleidung und Nahrung bis zu einem gewissen Grad „frei gestellt.“ Anders gesagt: Aus Streben nach Freiheit wachsen oft genug neue Einschränkungen und Abhängigkeiten, nur das sie etwas anders gelagert sind.

Ähnlich sieht es aus, wenn jemand seine Arbeitsstelle durch Kündigung verliert. In der Verwaltungssprache wird dann gesagt, diejenige Person sei „freigesetzt“. Das dürfte sich in vielen Fällen nicht als Befreiung anfühlen. Mit dem Verlust der Arbeitsstelle werde sofort eine ganze Reihe von neuen Zwängen gesetzt.

Aber wir merken an diesem Beispiel auch, dass Freiheit in einem gewissen Gegensatz zu Sicherheit steht. Die Arbeitsstelle hat ja immerhin meinen Lebensstandard gesichert. Ja, ich bin als Arbeitsloser freier in meiner Tagesgestaltung. Aber ich bin auch unsicherer. Der Verzicht auf ein gewisses Maß an Sicherheit ist oft der Preis, der für die Freiheit zu zahlen ist.

Es gibt mitunter auch so etwas wie Angst vor der Freiheit aus genau diesem Grund: Mit der Freiheit – allgemein gesprochen – ist immer auch ein Verzicht von Sicherheit verbunden. Je stärker die Restriktionen, je größer die Gleichförmigkeit, je rigider und präziser die Regeln, desto größer die Sicherheit. Nur was immer gleich bleibt, ohne Variation und Handlungsspielraum, ist zu 100% sicher und zu 100% vorhersagbar.       
Tatsächlich kann man mitunter beobachten, dass Menschen lieber in einem Leiden oder einer Abhängigkeit (besonders bei Süchten) verharren, als einen machbaren Ausweg zu beschreiten. Und es scheint oft so, als ob hier eine mögliche Triebkraft wäre: Mein Leiden ist zwar leidvoll, aber es ist eben bekannt, vertraut, sicher. In dem neuen Leben kenne ich mich nicht aus, es fühlt sich ungewohnt an.

Und noch etwas kommt mir zum Thema Freiheit in den Sinn:

In einem bekannten Pop-Song aus den späten 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts („Me And Bobby McGee“) gibt es im Refrain die Zeilen:

         Freedom’s just another word for nothin' left to lose,
         And nothin' ain’t worth nothin' but it’s free[1]

In dieser Ballade über eine verlorene Liebe (und eine nicht geglückte oder zumindest nicht dauerhafte Bindung) heißt es also, dass Freiheit lediglich bedeutet, nichts mehr zu verlieren zu haben. Das heißt auch: Das Wichtige, das Wesentliche ist bereits verloren. Welch eine Entzauberung des Mythos der Freiheit!

Wir merken: Freiheit alleine ist vielleicht nicht so rein positiv, wie wir zunächst denken mögen. Freiheit allein ist eben gar nichts, wie es in dem Song heißt, es scheint hier noch etwas Ergänzendes zu fehlen.

Bindung

Bei der Bindung geht es uns spontan eher andersherum. Dieser Begriff ist nicht so sehr positiv aufgeladen, manchmal versuchen wir auch, Bindungen zu vermeiden oder nicht zu fest werden zu lassen. Eine sehr starke Form einer Bindung wäre z.B. einen Fesselung. Und wer möchte schon gefesselt sein? Ein simples Beispiel wäre die Wahl eines Stromanbieters mit kurzer Vertragslaufzeit, ich möchte mich ja vielleicht um entscheiden können, wenn ich ein besseres Angebot finde, ich möchte mich also nicht lange binden an diesen Anbieter.

Auf der anderen Seite ist Bindung natürlich auch etwas sehr Grundlegendes. Im zwischenmenschlichen Bereich sind wir auf Bindung angewiesen. Die gesunde Entwicklung eines Kindes hat zur Voraussetzung eine sichere Bindung an die für das Kind wesentlichen Bezugspersonen. Bindung verspricht uns – im Gegensatz zur Freiheit – Sicherheit. Und ohne ein Mindestmaß an Bindung, sei es an Personen oder an Orte wie mein Heim oder auch an Interessen und Gewohnheiten kommen wir nicht aus. Ein zu großes Maß an Unsicherheit verkraften wir nicht gut, auch wenn das Ausmaß der Verträglichkeit von Unsicherheit natürlich von Person zu Person verschieden ist.

Freiheit und Bindung

Wenn wir das Verhältnis von Freiheit und Bindung betrachten, so erscheinen sie auf den ersten Blick Gegensätzen zu sein. Schauen wir genauer hin, ist es eher so, dass Freiheit und Bindung sich bedingen, es sind zwei Pole auf einer Achse. Und wie man bei einem Magneten nicht nur einen Nordpol oder einen Südpol haben kann, sondern nur einen Magneten mit diesen beiden Aspekten, die untrennbar zusammen gehören, ist für uns Freiheit nur möglich im Rahmen von stabilen Bindungen. Ebenso sind diejenigen Verbindungen die stabilsten, welche den Beteiligten genügend eigenen Freiraum erlauben.

Ich greife noch einmal das Grundthema der Entwicklungspsychologie auf, die stabile und sichere Bindung des Kindes an die Eltern als Basis für die gesunde Entwicklung. Eine Beobachtung, die man gemacht hat, war: Wenn ein Kind sicher und stabil gebunden ist, in erster Linie denken wir hier an die Mutter, dann ist es unbefangen und angstfrei im sogenannten „Explorationsverhalten“. Damit ist gemeint, wie Kinder eine ihnen fremde Umwelt erkunden, sich aneignen, sich dort ausprobieren. Man kann das manchmal auch auf Spielplätzen beobachten. Ein kleines Kind spielt oft in einem bestimmten Radius um die Mutter herum, der bekannt und vertraut ist. Und manchmal bricht sich der Entdeckerdrang Bahn, und das Kind wagt sich aus diesem Kreis des Vertrauten hinaus. Und was man dann fast immer beobachten kann: Das Kind tut das nicht, ohne sich vorher noch einmal umzuschauen. Und dieser Blick fragt: Ist sie noch da? Auch hier sehen wir, wie stark Freiheit – und der Schritt über die Grenze des Bekannten hinaus ist nichts anderes als das Wesen der Freiheit – und sichere Bindung sich in der Lebenspraxis bedingen.

Auch beim erwachsenen Menschen finden wir diesen Bezug von Freiheit und Bindung. Die Bindung an die Arbeitsstelle erlaubt mir über den damit verbundenen Verdienst einiges an Freiheit außerhalb der Arbeitszeit und auch beim Erwachsenen kann dies Exploration, Entdeckerfreude bedeuten. Die Bindung an bestimmte Gruppen und Gemeinschaften erlaubt uns im günstigen Fall, unseren Gestaltungsspielraum zu erweitern, Dinge zu erreichen, die wir alleine nicht bewerkstelligen könnten. Die Entwicklung von eigenen Talenten wird oft nur möglich über die Bindung an eine gewisse Disziplin. Man wird kein wirklich guter Geiger, auch bei viel Talent nicht, ohne täglich zu üben. Dann aber, wenn das Instrument gemeistert wird, erlaubt es ganz erstaunliche Ausdrucksmöglichkeiten, was auch eine Form der Freiheit ist.

Kurz: Freiheit und Bindung sind aufeinander bezogen, greifen ineinander wie das Einatmen und Ausatmen, wie Tag und Nacht, wie Sommer und Winter. Sie als Gegensätze einander gegenüber zu stellen, gelingt nur in Gedanken, nur in der begrifflichen Abstraktion, nicht im gelebten Leben.

Die Verstrickung als besondere Form der Bindung

In Familienaufstellungen haben wir es oft mit sog. „Verstrickungen“ zu tun, einer Form von Bindung, die im Effekt gegen das Leben, gegen den vollen Lebensvollzug wirken. Manchmal zieht es einen Menschen sogar in den Tod im Rahmen einer Verstrickung. Familienaufstellungen dienen zu einem nicht geringen Teil dazu, dass ein Mensch sich aus solchen Verstrickungen, die das gute und das volle Leben verhindern, lösen kann.

Was sind solche Verstrickungen? Eine Verstrickung bezieht sich immer auf etwas Schweres und meist auch auf etwas Schicksalhaftes in dem Familiensystem, dem ich angehöre und in das ich hineingeboren wurde. Und die Verstrickung geschieht, in dem ein Kind, meist ein sehr kleines Kind, dieses Schwere oder das Schicksal spürt und für jemand anders etwas übernehmen oder erleichtern möchte.

Verstrickungen resultieren aus Liebe, aus der großen und unmittelbaren Liebe des kleinen Kindes. Aber: Diese Liebe ist eine „blinde“ Liebe. Was das Kind nicht sieht und nicht sehen kann: Es kann durch sein „Opfer“ das Schwere und das Schicksal nicht wenden.

Es kann z.B. sein, eine Frau hat einen Mann, der ganz offen noch eine Beziehung zu einer anderen Frau oder gar mehreren anderen Frauen unterhält. Die Frau mache aber „gute Mine“, sagt nichts, beschwert sich nicht, ist äußerlich nicht verärgert oder wütend. Jetzt kann es sein, dass die Tochter, welche die unterdrückte Wut der Mutter spürt, sozusagen stellvertretend für die Mutter böse wird. Ihrem Vater böse wird, allen Männern gegenüber im späteren Leben böse wird, je nach dem. Das ist eine Verstrickung. Innerlich sagt die Tochter zu ihrer Mutter: „Ich übernehme das für dich“.

Eine andere Form der Verstrickung wäre, wenn die Tochter nicht den Männern böse wird, sondern sich später auch einen Mann sucht, mit zielsicherem Instinkt, welcher ebenfalls andere Frauen neben ihr hat. In diesem Fall sagt das (innere) Kind zu der Mutter sozusagen: „Ich mache es wie du!“. Auch das ist eine intensive Bindung.

Manchmal führt eine Verstrickung auch an den Rand des Todes oder darüber hinaus. Ich kenne eine Fallgeschichte von einem Psychotherapeuten, der eines Abends seine Fallakten durchging. Einer seiner Klienten war ein Mann, dessen Vater und auch dessen Vater, also der Großvater des Klienten, sich jeweils an ihrem 37. Geburtstag erschossen hatten. Dem Psychotherapeuten fiel auf, dass sein Klient an diesem Tag seinen 37. Geburtstat hatte. In Eile fuhr er zur Wohnung des Klienten. Dieser wollte in erst nicht einlassen, als er es dann doch tat fand der Therapeut auf dem Tisch eine geladene Pistole vor. Auch hier eine Verstrickung in der Form, wo der Mann seinen Vorfahren sagt: „Ich folge euch nach!“. Was auch heißt: Ich bin wie ihr, ich gehöre dazu.

Nicht immer ist es so dramatisch, aber Verstrickungen enthalten immer das Element der Treue. Irgendjemandem im System gegenüber bleibe ich treu. Aus großer, aber eben blinder Liebe heraus. Es kann z.B. sein, dass ein Mann sein Leben lang trotz bester Voraussetzungen und Ausbildungen beruflich erfolglos bleibt, weil sein Vater ebenfalls beruflich nicht erfolgreich war. Und wenn er jetzt erfolgreich wäre, würde er sozusagen seinem Vater untreu. So erklären sich mache Fälle von offensichtlicher Selbstsabotage.

Wichtig ist, dass diese Verstrickungen völlig unbewusst sind. Unser Verstand weiß nichts davon. Auch die Sätze wie „Ich folge dir nach“ oder „Ich trage das für dich“ oder „lieber ich als du“ werden nicht bewusst gedacht. Meist liegt der Ursprung der Verstrickung sowieso im vorsprachlichen Alter. Das noch sehr kleine Kind gerät durch die Dynamik des Familiensystems sozusagen in einen Sog. Es sind also nicht wirklich Sätze, die dann im inneren entstehen. Es ist wenn überhaupt ein Gefühl im kleinen Kind, ein Gefühl dafür, was sich richtig anfühlt. Und dieses Grundgefühl ist oft hoch wirksam, auch bis ins hohe Alter hinein, aber eben völlig unbewusst, weil vorsprachlich.

In Familienaufstellungen werden solche Verstrickungen deutlich, sie werden sichtbar. Und die Lösung besteht fast immer darin, das schwere Schicksal im Familiensystem zu sehen, zu achten und zu würdigen. Und dann darauf zu verzichten, das Schicksal wenden zu wollen. Wir lassen das Schicksal bei der Person, die es betrifft – in Liebe.     
So wird man frei von der Verstrickung, frei für das eigene Leben ohne damit die Liebe und die Verbundenheit aufzugeben. Auch in der geglückten Lösung aus einer Verstrickung zeigt sich, wie sehr Freiheit und Bindung hier Hand in Hand gehen. Und neben: Durch die Lösung aus einer Verstrickung wird aus der blinden Liebe eine wissende, eine verstehende Liebe. Diese Liebe steht dem vollen Leben nicht im Weg, im Gegenteil.


[1] Am bekanntesten ist sicherlich die Interpretation durch Janis Joplin, welche diesem an sich eher schlichtem Lied eine besondere Koloratur und auch Tiefe verleiht. Man vergleiche dazu das Original von Kris Kristofferson.

Die Kosten des Lebens und die Kostbarkeit des Lebens

Es war einmal ein Mann im mittleren Alter in einer Familienaufstellung, bei dem der Vater ihn und seine Mutter verlassen (alleingelassen) hatte, als der Mann vier Jahre alt war. Seine Mutter hat ihn dann alleine groß gezogen, was für die Mutter sehr beschwerlich war und was der heranwachsende Junge auch deutlich wahrgenommen hatte.

Im Verlauf der Aufstellung stand er dann der Mutter gegenüber und es war eine große Liebe und Dankbarkeit der Mutter gegenüber zu spüren. Ich habe ihm dann einen Satz vorgeschlagen, den er zur Mutter sagen könnte: „Ich nehme jetzt mein Leben vollständig an – um den Preis, den es dich gekostet hat!“      
Da kamen ihm die Tränen, aber das Gesicht dazu war ein glückliches Gesicht. Und er sagte: „Das sehe ich jetzt zum ersten mal – ich bin ja wertvoll, mein Leben ist wertvoll. Gerade weil es schwer war für meine Mutter.“

Es ist ja mit vielen Dingen im Leben so, dass sie für uns kostbar und wertvoll sind, weil sie etwas gekostet haben. Und damit ist nicht immer nur Geld gemeint, es kann auch Anstrengungen, Mühen, Entbehrungen damit gemeint sein, dass es mich etwas gekostet hat. Und in so einem Fall ist natürlich am Besten, das, was mit Mühe gewonnen wurde, dann auch möglichst vollständig zu nutzen und zu genießen. So bekommt die Mühe einen Sinn.

Bei dem erwähnten Mann war es so, dass er als Kind einerseits die Mühe der Mutter gespürt hat. Aber auch ihn selber hatte der Prozess des Aufwachsens etwas gekostet, nämlich die Vaterentbehrung. Und Kinder neigen dann mitunter dazu, sich sehr zurück zu nehmen. Einerseits, um die Mühen der Mutter nicht noch zu vergrößern. Aber vielleicht spielt auch – obwohl dies jetzt reine Spekulation ist – manchmal mit hinein, dass man sich mit einem fehlenden Elternteil sowieso nicht so ganz vollständig fühlt.

Aber, und dies ging dem Mann plötzlich auf, man achtet die Mühe viel besser, wenn man zumindest als Erwachsener es sich möglichst gut gehen lässt, seine Gaben und Talente fruchtbar einsetzt und nicht versteckt. Dann haben sich die Beschwerlichkeiten im Ertrag gelohnt.

Mir scheint, man kann diesen Gedanken etwas verallgemeinern. Gerade wenn die Umstände schwierig waren, erwächst daraus auch der Impuls, die Mühen mögen sich gelohnt haben, dass Leben mit seinen besonderen Beschwerlichkeiten möge dann auch besondere Früchte tragen.

Ich weiß nicht, ob es immer so ist. Was ich aber meine beobachtet zu haben: Ein Leben mit schwierigen Startbedingungen verleiht den davon betroffenen Menschen oft ein besonderes „seelisches Gewicht“. Ein Gewicht, welches in einer existenziellen Tiefe gründet und welches man bei Menschen, die es immer leicht hatten im Leben, selten so findet.

Bindung und Lösung

Wir Menschen sind grundlegend abhängig von Bindungen. Wir könnten auch sagen, da wir eben soziale Wesen sind, wir sind abhängig von Beziehungen. Besonders deutlich wird dies bei kleinen Kindern. Eines der Grundthemen der Entwicklungspsychologie ist der Aufbau einer stabilen und sicheren Bindung des kleinen Kindes an ein betreuendes Umfeld, in erster Linie natürlich die Eltern. Hier unterscheidet man neben der günstigen sicheren Bindung beim Kind noch die Formen der unsicher-vermeidenden Bindung, der unsicher-ambivalenten Bindung und der desorganisierten Bindung als behindernde Formen der kindlichen Entwicklung.

Ich will hier in diesem Beitrag gar nicht auf diese sozusagen fehlgeleiteten Entwicklungsformen näher eingehen sondern auf das Zusammenspiel mit dem – wenn man so will – Gegenspieler einer Bindung, nämlich der Lösung aus einer Bindung.        
Als man das Bindungsverhalten bei Kleinkindern erforscht hat, stellte sich nämlich auch heraus, dass eine sichere Bindung das eigenständige Explorationsverhalten des Kindes stark fördert. Mit einer sicheren Bindung ist das Kind in der Lage, seine Umwelt zu erforschen, damit Erfahrungen zu machen und zu lernen um letztendlich immer eigenständiger zu werden.

Bindung uns Lösung als scheinbar paradoxe „Gegenspieler“

Was sich hier zeigt, ist, wie sehr diese beiden scheinbar gegensätzlichen Prozesse, eben die Bindung und die Lösung aus Bindungen, miteinander verzahnt sind. Gerade die stabile, die sichere Bindung erlaubt es, zunehmend unabhängiger und eigenständiger zu werden und Eigenständigkeit ist eben immer auch eine Lösung aus einer Bindung oder doch zumindest eine Relativierung der Bindung. Als Illustration: Was man häufig zum Beispiel auf Kinderspielplätzen beobachten kann, ist eine Bewegung, dass das spielende Kleinkind sich immer mehr im Spiel von der Mutter entfernt, sozusagen seine eigenständige Welt erobert, aber immer wieder mit dem kurzen Rückblick auf etwa die Mutter und der unausgesprochnen Frage: „Ist sie noch da?“. Wenn ja, wird der Aktionskreis des Kindes noch weiter von der Mutter entfernt.

Die Lösung als Voraussetzung für Bindung

Aber auch in der Gegenrichtung sehen wir das paradoxe Zusammenspiel von Bindung und Lösung aus der Bindung. Nicht nur erlaubt die sichere Bindung die schrittweise Lösung in die Eigenständigkeit. Die Eigenständigkeit erlaubt es dann auch wieder, neue und andere Bindungen einzugehen. So müssen wir uns im Prozess des Erwachsenwerdens von unserem Elternhaus lösen, um so überhaupt frei zu werden für selbst gewählte Bindungen, etwas dem Aufbau einer eigenen Familie.

Die Lösung aus verletzenden oder traumatisierenden Bindungen und Beziehungen

Aber auch, und vielleicht sogar gerade, wenn die frühkindliche Entwicklung und Bindung nicht besonders günstig verlaufen ist, ist dieses besondere Verwobensein von Bindung und Lösung aus der Bindung zu beachten. Wenn wir an Menschen denken, die als Kinder misshandelt, missbraucht oder vernachlässigt wurden, dann ist die vertrauensvolle Bindung natürlich kaum möglich. Dasselbe gilt für Kinder, die in einem sehr frühen Alter weggeben werden.

Auch hier ist es für eine gesunde Entwicklung zu einem eigenständigen Menschen wichtig, sich aus dieser, in diesem Fall eben negativen, Bindung zu lösen. Man könnte jetzt meinen, in einem solchen Fall ist ja keine wirklich tragfähige Bindung entstanden, die zu lösen wäre. Dem ist aber nicht so. Die Bindung besteht weiter, oft sogar noch intensiver. Sie lebt in dem betroffenen Menschen als – manchmal sehr vage – empfundene Sehnsucht, nach dem, was gefehlt hat als Kind. Oder sie lebt als Vorwurf gegen die Eltern, auch das ist eine Bindung, gerade auch bei vielleicht sehr berechtigten Vorwürfen. Auch wenn ich vielleicht den Kontakt mit meiner Herkunftsfamilie radikal abgebrochen habe, lebt die Bindung dann noch durch den Vorwurf in meinem Inneren.

Auch hier gilt: Um in die Eigenständigkeit zu kommen, muss diese (innere) Bindung gelöst werden. Und auch in der Lösung gibt es ein zunächst paradox anmutendes Wechselspiel: Um die Bindung zu lösen, muss ich sie zunächst einmal erkennen und anerkennen, vielleicht sogar, aber das wäre die hohen Kunst dabei, würdigen. Das schlichte Leugnen der Bindung bewirkt wenig. Erst im Bewusstsein der Bindung kann sie transformiert werden.

In Familienaufstellungen zeigt sich häufig eine kraftvolle Wirkung, wenn jemand vor seinen Eltern (in Form von Stellvertretern) steht und noch einmal benennt, was damals, in der Kindheit, vielleicht an Schlimmen erfahren wurde. Wenn die Person in einer Aufstellung vielleicht zu seinen Eltern sagt: „Dies hättet ihr nicht tun dürfen!“ und dann vielleicht noch die Wirkung benennt, etwas mit dem Satz „Damals, als Kind, war das sehr schlimm für mich!“.
Auf dieser Grundlage, ins Auge zu fassen und klar und ohne Beschönigung zu benennen, wenn man als Kind vernachlässigt oder misshandelt wurde, kann es dann gelingen, die zweite Seite dieser Medaille zu verinnerlichen, nämlich dass ich meinen Eltern – trotz alledem – das Wichtigste überhaupt verdanke, nämlich mein Leben, egal wie die Umstände auch gewesen sein mögen. In einer Aufstellung kann hier der Satz hilfreich sein „Und trotz allem verdanke ich Euch mein Leben. Und dieses Geschenk nehme ich dankbar an und mache etwas daraus.“ Eine Überleitung kann auch der Satz sein, nachdem die schwierigen Umstände noch einmal benannt und gewürdigt wurden: „Und ich bin trotzdem erwachsen geworden und lebe jetzt mein eigenes Leben, gehe meinen eigenen Weg!“

In diesem Wechselspiel sind beide Seiten enthalten, die als fehlend erfahrene sicher Bindung und Annahme, die damals als Kind so dringend gefehlt hat und aber auch die Lösung von dieser Erfahrung, so dass sie sein kann, was sie ist: Eine Erfahrung in der Vergangenheit, etwas was war, aber jetzt nicht mehr ist.

Was bleib dann noch?

Wenn wir diese Haltung gewinnen können – und es ist im Kern ein innerer Vollzug – zu unseren Verletzungen und Traumata aus der Vergangenheit, dass wir sie in der Vergangenheit lassen als gewesen ohne etwas zu beschönigen, dann können wir im Hier und Jetzt als Erwachsene handeln, mit allen Möglichkeiten, die wir als Erwachsene haben und die wir als Kind nicht hatten.

Was aber in vielen Fällen noch bleiben wird, zumindest hin und wieder und in bestimmten Situationen, ist: Dass wir uns wieder fühlen wie das verletzte oder vernachlässigte Kind von damals. In der Sprache der Transaktionsanalyse rutschen wir dann punktuell in das Kindheits-Ich, unser Erleben und unsere Handlungsmuster entsprechen dann eben dem eines kleinen Kindes. In der Sprache der Psychoanalyse wird dies als Regression benannt.

Wir könnten auch sagen: Es meldet sich das „innere Kind“ in uns. Dieses innere Kind, oft ein verletztes inneres Kind, ist nicht dadurch verschwunden, das wir in unserem Erwachsenen-Ich zu einer Einsicht gekommen sind. Dieses innere Kind in uns lebt immer noch in dem Alter von damals. Was wir hier machen können, ist: Wir kümmern uns als Erwachsene um dieses innere Kind. So liebevoll und verständnisvoll und so angemessen der jeweiligen Alterstufe dieses inneren Kindes, wie wir es gerade vermögen[1].

Ja, das innere Kind in uns bekommt nicht mehr von den damaligen Eltern das, was es damals benötigt hätte. Aber wir selber können genau das machen, wir können das innere Kind sozusagen „nachnähren“. Wir selber müssen es auch tun, es macht niemand sonst. Wir müssen dem inneren Kind in uns Raum geben, ihm zuhören, es annehmen. Die Unterdrückung oder das Wegdrücken funktioniert nicht auf Dauer.

Dies bedeutet, wir müssen immer, wenn das innere Kind sich meldet, sozusagen doppelt da sein: Einmal als erwachsene Person mit all der Lebenserfahrung, die wir sind, und einmal eben als das verletzte Kind, das wir auch sind. Und diese beiden Persönlichkeitsanteile gehen in Kontakt miteinander.

Das ist auch die wirklich tiefere Bedeutung des Satzes: „Ich bin trotzdem erwachsen geworden.“ Der Satz bedeutet: Um mein inneres Kind kümmere ich mich jetzt selber.


[1] Für die nähere Beschäftigung mit diesem Thema des inneren Kindes, wie es sich zeigt und was wir tun können, sind die Bücher von Stefanie Stahl sehr zu empfehlen.

Der Bruch in der weiblichen Linie

Im letzten Blogbeitrag ging es um den Bruch in der männlichen Linie, vor allem dadurch, dass ein Vorfahr in der männlichen Linie nicht als zugehörig angenommen werden kann, zum Beispiel weil er ein Täter war im Zusammenhang mit Gewaltverbrechen. In diesem Beitrag will ich dagegen den Bruch in der weiblichen Linie darstellen, wie er sich häufig in Familienaufstellungen gezeigt hat. Natürlich: Jeder Einzelfall ist anders.

Aber mit scheint in vielen Fällen der Bruch in der weiblichen Linie nicht so sehr von Taten der weiblichen Vorfahren herzurühren, sondern eher von Unterlassungen. Nicht etwas, was geschehen ist, spielt so sehr eine Rolle, sondern etwas, was nicht stattgefunden hat. Die Annahme der Ahnenlinie in der Seele ist nicht belastet durch etwas, was war, sondern durch etwas, was gefehlt hat.

Was meine ich damit? Es geht um erster Linie um das Fehlen der liebevollen Annahme des Kindes, vor allem der Tochter (wir reden ja hier über die weibliche Linie) durch die Mutter.

Die Mutter, die seelisch nicht wirklich verfügbar ist

Belastungen in der weiblichen Ahnenreihe entstehen oft, wenn eine Mutter ihre Tochter nicht wirklich sieht, wenn es an Aufmerksamkeit und Liebe fehlt. Häufig stellt es sich so dar, als ob die Mutter seelisch betrachtet nicht wirklich anwesend ist. Wie entsteht so etwas? Oft ist die Mutter innerlich bei einem Toten, ihre seelische Kapazität ist sozusagen besetzt und damit nicht für die Lebenden, also z.B. ihre Kinder, verfügbar. Diese tote Person kann in manchen Fällen die Mutter der Mutter sein, die früh verstarb, als die Mutter noch sehr klein war. Manchmal ist es aber auch ein totes Geschwisterkind, bei dem die Mutter sozusagen innerlich weilt. Oder es könnte auch ein eigenes verstorbenes Kind sein, das entweder in sehr frühem Kindheitsalter oder während der Schwangerschaft verstarb.

Im Erleben der Tochter ist die Beziehung zur Mutter von einer gewissen emotionalen Kälte geprägt, es fehlt an Wärme und Herzlichkeit. Die wesentlichen Dinge im Praktischen werden vielleicht durchaus vollzogen, die Kinder werden ernährt, gekleidet usw. Aber es fehlt das Gefühl auf der Seite des Kindes, wirklich willkommen zu sein. Das Kind, die Tochter, spürt – vielleicht sehr unterschwellig, aber besonders kleine Kinder haben hier ein sehr sensibles Gespür – das es eine Belastung für die Mutter ist, dass es vielleicht besser wäre, wenn es gar nicht da wäre. Und natürlich ist dann der Fluss der ursprünglichen Liebe zwischen Mutter und Kind arg gedrosselt.

Es ist auch nicht selten, dass sich eine in dieser Weise sehr beschränkte emotionale Bindung zwischen Mutter und Tochter über mehrere Generationen hinweg erstreckt. Wenn also eine Mutter aufgrund eines traumatischen Verlusts für ihre Tochter nur eingeschränkt verfügbar ist, kann es sein, dass diese Tochter ihren eigenen Kindern gegenüber auch ein wenig emotional „auf Sparflamme kocht“, und sei es nur, weil sie es von ihrer eigenen Mutter nicht anders gelernt hat. Was es heißt, eine Frau und eine Mutter zu sein, lernt die Tochter ja in erster Linie von ihrer Mutter.

Was hier hilft

Wie kann in solch einer Konstellation eine Lösung aussehen? Ein wesentlicher Punkt scheint mir zu sein, dass die inzwischen erwachsene Tochter auf ihre Mutter schaut und wirklich sieht, wir stark diese durch eine Bindung an eine tote Person „innerlich gefangen“ ist. Das zu erleben, zum Beispiel in einer Aufstellung, welche seelischen Kräfte hier wirken und vor allem wie stark sie wirken, gibt dem Erleben von fehlender Beachtung als Kind einen anderen Rahmen.

Wenn in einer Aufstellung eine (inzwischen erwachsene) Tochter vor ihrer Mutter steht und ihr sinngemäß – die konkrete Formulierung muss natürlich im Einzelfall gefunden werden – sagt: „Damals, als Kind, habe ich manches schmerzlich vermisst bei dir und das war sehr schwer für mich“ und dann, nach einer angemessen Pause, um diesen Satz wirken zu lassen, noch dazu sagt: „Aber jetzt sehe ich, wie sehr du woanders seelisch gefangen warst. Ich sehe, dass du mir gegeben hast, was du geben konntest, mehr war für dich einfach nicht möglich“ – dann kann sich etwas lösen. Durch die beiden Teile der Aussage wird beides gewürdigt: Das verletzte innere Kind, welches den Mangel gespürt hat und aber auch die erwachsene Frau, die trotz der emotionalen Entbehrung groß geworden ist und im besten Fall ihr Leben meister, so gut sie es eben vermag.

Oft ist es auch hilfreich, den Wahrnehmungsfokus auf das zu lenken, was in so einer Situation als Tochter trotz allem empfangen wurde, nämlich das Wichtigste überhaupt, das eigene Leben. Was immer auch entbehrt wurde, damals, früher als Kind, die fundamentale Tatsache bleibt: Ohne diese Mutter, mit allen ihren Beschränkungen, gäbe es die Tochter nicht. Das Geschenk des Lebens, das wurde in jedem Fall empfangen, wie immer sonst die Umstände gewesen sein mögen. Der Beweis liegt schlicht darin, dass es die Tochter gibt und dass sie erwachsen geworden ist. Und diese ganz existenzielle Tatsache wiegt schwerer als jeder Mangel, der empfunden worden sein mag.

Der Bypass

Noch etwas anderes lässt sich in Aufstellungen mit diesem Thema mitunter beobachten: In vielen Fällen, natürlich nicht immer, gibt es für die liebevolle Zuwendung, die seitens der Mutter gefehlt hat, einen Ersatz. Oft ist es die Großmutter, zu der eine besonders herzliche Beziehung bestand, es kann aber auch ein anderes Mitglied der Herkunftsfamilie sein.

Bildlich gesprochen sieht es oft aus wie ein Bypass. In der Medizin bezeichnet ein Bypass künstlich angelegte Umgehung von geschädigten Blutgefäßen, so dass die Versorgung sozusagen unter Umgehung einer Blockade sichergestellt ist. Und in Aufstellungen sieht man manchmal die weibliche Ahnenreihe und es ist deutlich, dass emotional bei der Mutter eben nicht viel zu holen ist. Aber hinter der Mutter steht deren Mutter, die Großmutter, und Großmutter und Enkelin strahlen sich an und man spürt: Hier fließt sie, die ursprüngliche Liebe. Die Liebe fließt von der Großmutter um die Mutter herum zur Enkeltochter. Hier kann eine emotionale Sättigung stattfinden, nur ist die Quelle vielleicht eine andere als die eigene Mutter.

Auch so etwas kann helfen und lösen, wenn es deutlich wahrgenommen werden kann. Es entlastet das Verhältnis zur Mutter von Forderungen und Ansprüchen, welche jene vielleicht nicht in der Lage war zu geben, wenn die emotionale Nährung über eine andere Quelle möglich war.

Der Bruch in der männlichen Linie

Es ist ein Grundzug von Familienaufstellungen, dass es einem Menschen oft ermöglich wird, in seine oder ihre Kraft zu kommen, indem die Eltern, die Vorfahren und die Ahnen in den Blick genommen werden. Oft gibt es hier etwas zu bereinigen und zu Lösen in Bezug auf wichtige Personen in meiner Herkunftsfamilie. Und wenn diese „Verstrickung“, wie wir es oft nennen, auf eine gute Art gelöst ist, ohne dass die Verbindung zur Herkunft verleugnet oder abgelehnt wird, erwächst oft ein sichtbarer Zuwachs an Kraft, an Kraft für eigenständiges Handeln.

Oft wird es in Verlaufe einer Aufstellung, meist gegen Ende der Aufstellung, so gemacht, dass man die Eltern und vielleicht deren Eltern und vielleicht noch zusätzlich zumindest im Geiste weitere Generationen der Person, um die es geht, in den Rücken stellt. Und die Person schaut nach vorne, auf ihr Leben, ihre Aufgaben und spürt gleichzeitig die Ahnen, die verschiedensten Menschen, die zu seiner Herkunft und seinem Sein beigetragen haben, als eine bestimmte Kraft von hinten. Man fühlt sich dann im eigenen Handeln eingebunden in einen größeren Zusammenhang, getragen von einer größeren Kraft, die vor mir war und auch nach mir sein wird.

In vielen Fällen geht es aber nicht so sehr um die ganze Herkunftslinie. Gerade wenn meine Schwierigkeiten etwas mit meinem Sein als Mann oder als Frau zu tun haben, liegt die Lösung oft in der Fokussierung auf die weibliche oder männliche Ahnenlinie. Wir stellen also vielleicht nur die Mutter einer Frau in den Rücken und dahinter deren Mutter und dahinter deren Mutter usw. Oder eben bei einem Mann die Väter über verschiedenen Generationen, möglicherweise (zumindest gedanklich) bis in die Tiefe der Zeit.

Der Fluch der bösen Tat

Speziell bei der Aufstellung der männlichen Herkunftslinie habe ich es mitunter erlebt, dass sich die kraftspendende Wirkung (zunächst) nicht einstellt. Stattdessen ergab sich ein deutlich wahrnehmbarer Bruch in der Linie. Einzelne Personen aus der männlichen Linie, oft geht es 2-3 Generationen zurück, können nicht in der Linie stehen. Es gibt den starken Impuls, sich zur Seite zu drehen oder deutlich zur Seite hin herauszutreten aus der Linie, was nonverbal die deutliche Botschaft verkündet: „In dieser Linie mag ich nicht stehen!“.

Bislang habe ich dieses Phänomen nur beobachtet, wenn es in der Linie einen Täter gab, zum Beispiel aus der Zeit der Nationalsozialismus. Da wenden sich dann die nachgeborenen in der männlichen Linie von ihren Vätern ab. Und es kommt zu einem Bruch in der männlichen Linie, die männliche Kraft ist in ihrem Fluss unterbrochen, oft mit Auswirkungen über Generationen hinweg. Die nächste Generation von Söhnen kann dann ihren Vater auch nicht wirklich nehmen, wenn dieser seinen Vater abgelehnt hat.

Der Vater als Vergewaltiger

Ein anderer Fall fällt mir ein, da war der Bruch noch näher an der Person, um die es ging. Dieser Mann war der Sohn einer Mutter, die von einem Unbekannten vergewaltigt wurde. Als ein Resultat der Vergewaltigung wurde die Mutter mit eben diesem Sohn schwanger. Dieser Mann ist also nicht nur ohne seinen Vater aufgewachsen, ohne ihn zu kennen und je kennen zu lernen, man kann sich auch vorstellen, wie die Mutter zu diesem Vater gestanden haben muss. Und das hat dieser Mann als Kind natürlich gespürt.

Die Lösung

Es gibt in diesen Fällen eine Lösung, die aber sehr schwer ist. Sie kostet Überwindung. Auch für Stellvertreter in einer Aufstellung, die ja selber nicht betroffen sind, ist es meist sehr schwer und gelingt mitunter erst im zweiten Anlauf.

Die Lösung ist, wenn der Sohn sich seinem Vater zuwendet, auf ihn zugeht, und sagt: „Du bist für mich genau der Richtige!“. Dieser Satz meint: Als mein Vater bist du der Einzige, den es geben kann als meinen Vater, einen anderen gibt es nicht. Hätte ich, als Sohn, einen anderen Vater, wäre ich ein Anderer. Weil ich aber der bin, der ich bin, ist genau dieser Vater auch der einzig mögliche und der einzig richtige für mich.

In einem zweiten Schritt, besonders wenn der Bruch sich über mehrere Generationen hinzieht wie etwa bei NS-Tätern in der Herkunftsfamilie, kann es heilsam sein, wenn der Sohn des Täters sich seinem Sohn zuwendet, auf den Täter (Vater bzw. Großvater für den Sohn) weist und sagt: „Er gehört dazu!“. Man kann dann noch hinzufügen: „Auch wenn er Täter ist!“  
Und noch etwas anderes ist hier wichtig: Mit der Hinwendung zum Täter in der männlichen Linie wenden wir uns auch den Opfern dieses Täters zu, nehmen sie in den Blick. Sie gehören ebenfalls dazu, mit allem, was es sie gekostet hat.

Wir können uns vorstellen, warum es schwer ist, diese Sätze zu sagen und auch wirklich so zu meinen. Aber warum lösen sie?

Man könnte meinen, wenn wir die Täter wieder als zugehörig mit hineinnehmen, erkennen wir damit an, dass auch sie vielleicht verstrickt waren, tragisch verstrickt, schuldig verstrickt, aber eben verstrickt. Das mag so sein. Es kann ein Teil dessen sein, was hier lösend wirkt. Mit der Anerkennung der Zugehörigkeit der Täter hört es auch auf (oder lässt doch nach), dass wir uns moralisch über sie erheben. Und das alleine kann lösend wirken. Aber, diese Denkfigur der Verstrickung kann auch manchmal einer allzu wohlfeilen Bemäntelung der Taten dienen. Mir scheint, hier wirkt noch etwas anderes lösend.

Zweierlei Haltungen

Ich hole hier noch etwas weiter aus. Als Mann sind vielleicht zwei verschiedene Haltungen zu den männlichen Tätern in der Linie meiner Vorfahren denkbar. (Und in jedem Mann gibt es in dieser Linie mit Sicherheit Täter, es ist nur eine Frage, wie weit man zurückgehen müsste.)

In der einen Haltung versuche ich mich zu distanzieren, ich verzichte auf die männliche Tatkraft, die eben auch Täterenergie sein könnte. Ich sage, die gehören nicht zu mir oder ich gehöre nicht zu denen, wie herum das gedacht wird ist eigentlich egal. Aber der Preis ist eine geschmälerte Lebensenergie, ich schneide mich ab von einem Teil des Stroms des Lebens, in dem ich stehe.

Die andere Haltung wäre, ich schaue auf die Täter, auf die Taten und auch auf die Opfer und auf das, was es die Opfer gekostet hat, ohne Beschönigung. Und dann sage ich: Und trotzdem stelle ich mich in diesen Lebensstrom, nutze seine Kraft, auch wenn in diesen Wassern das Blut der Opfer geschwommen ist.         
Im günstigsten Fall nutze ich diese Energie, diese Tatkraft, die durch mich fließt, für etwas, was dem Leben dient. Nicht nur meinem Leben, sondern auch dem Leben anderer Menschen.

Wenn wir uns fragen, welche der beiden Haltungen ehrt das, was es die Opfer gekostet hat, mehr – dann scheint es mir die zweite Haltung zu sein. Ebenso erscheint mir die zweite Haltung, gerade weil sie schwieriger zu gewinnen ist, eine andere Größe zu haben.    
Aber auch dies ist natürlich eine Wertung, die vielleicht anmaßend ist, und die ich somit hier wieder relativiere.

Über die Dankbarkeit und das Danken

Wofür sind wir dankbar, wann erleben wir Dankbarkeit und welche Wirkungen hat sie? Das erste, was einem vielleicht einfallen mag, ist, wenn wir beschenkt werden. Ein anderer Anlass für Dankbarkeit wäre, wenn wir eine Hilfeleistung erfahren, jemand uns hilft, eine (größere oder kleinere) Not zu wenden. Wir können auch noch allgemeiner sagen: Immer, wenn uns etwas Gutes wiederfährt, erleben wir einen Impuls der Dankbarkeit. Es spielt keine Rolle, welche Größe dieses Gute hat. Es können sog. „Kleinigkeiten“ sein, wie ein freundliches Wort, eine Aufmerksamkeit, eine Zugewandtheit, die wir von einem anderen Menschen erfahren.

Wenn wir aber einmal genauer hinempfinden an das Danken, dann ist es bei vielen der genannten Beispiele so, dass neben dem Gefühl des Dankes sich noch etwas anderes einstellt: Ein Bedürfnis, das Empfangene auszugleichen. Wenn etwa jemand an unseren Geburtstag gedacht hat und uns etwas schenkt, kann es sein, dass neben dem Gefühl des Dankes sich noch ein anderer Gedanke mit hineinmischt. Dieser Gedanke könnte lauten: „Jetzt darf ich aber keinesfalls den Geburtstag dieser Person vergessen, ich muss ihr dann auch etwas schenken.“ Neben der Dankbarkeit entsteht hier also auch ein Gefühl der Verpflichtung, ein Bedürfnis, dass was ich bekommen habe, auszugleichen, in dem ich selber gebe.

Dieses Bedürfnis nach Ausgleich ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis und es regelt unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Nur merken wir hier, wenn wir es genau betrachten, dass wir es dann nicht mehr mit dem Dank in Reinform zu tun haben. Wir nehmen, was wir bekommen – vielleicht durchaus mit wirklich empfundenem Dank! – aber eben auch in der Absicht, dies wieder auszugleichen, in einer näheren oder auch ferneren Zukunft.

Geschenke ohne Gegenleistungsmöglichkeit

Die wirkliche Reinform des Dankes oder der Dankbarkeit können wir erfahren, wo ein Austausch nicht wirklich möglich ist. Also überall dort, wo wir nur nehmen können. Da bleibt uns nur die Dankbarkeit und deshalb erleben wir sie hier in Reinform.

Was sind das für Gegebenheiten, bei denen wir nur nehmen können? In allererster Linie ist es hier das Leben selbst, die Tatsache, dass wir atmen und leben. Das Leben haben wir empfangen, wir können aber nicht entsprechend dafür zurückgeben.

Von wem haben wir das Leben empfangen? Zunächst haben wir es von unseren Eltern. Ohne unsere Eltern wären wir nicht. Unsere Eltern haben sich – unter welchen Umständen auch immer – zur Verfügung gestellt, um unser Leben in die Existenz zu bringen. Können wir das in irgendeiner Weise „zurück erstatten“? Nicht wirklich. Dazu ist es etwas zu Großes. Das einzige, was hier bleibt als Möglichkeit, ist Dankbarkeit. Wir nehmen das Leben ganz, mit allem was dazu gehört, auch mit allen Beschwernissen, an. Und wir nehmen es mit Dankbarkeit. Wenn wir es denn können[1].    
Und es gibt beim Leben natürlich noch etwas anderes, wir können es selber weiter geben. Aber auch hier: Wenn wir selber das Leben weiter geben können und dürfen, ist das kein Ausgleich wie eben bei manchen Geschenken und Gegengeschenken.

In diesem Sinne wäre die Dankbarkeit für das eigene Leben ein Beispiel für Dankbarkeit in reiner Form. Da gibt es nichts auszugleichen. Wir können es nur annehmen ohne Vorbehalt. Und wenn wir dann denken, dass wir aus diesem Geschenk etwas machen wollen, dass wir das Leben nicht nur annehmen sondern auch möglichst gut leben wollen, das Geschenk möglichst gut nutzen wollen, was immer das auch im Einzelnen heißen mag, dann stellt sich hier wieder eine Frage. Treffe ich den Entschluss, aus diesem Leben etwas machen zu wollen, es möglichst erfüllt leben zu wollen, aus einer empfundenen Verpflichtung heraus? Oder ist mein Bestreben, etwas Gutes aus meinem Leben zu machen, ein Ausdruck dieser Dankbarkeit?

Wenn wir die (möglichst gute) Nutzung des Geschenks des Lebens als Verpflichtung empfinden, sind wir immer noch der Idee verhaftet, wir könnten dieses Geschenk ausgleichen. Wenn wir es aber tun, also aus unserem Leben etwas zu machen, aus Freude an der Entfaltung der Potentiale und Talente, die uns mitgegeben wurden, so lebt in dieser Entfaltung des Lebens die reine Dankbarkeit, sie findet in der Entfaltung ihren Ausdruck.

Das gütige Schicksal

Aber nicht nur von und durch unsere Eltern haben wir das Leben empfangen. Durch sie hindurch wirkt etwas, das schwer zu greifen ist. Wir könnten es vielleicht „das Leben selbst“ nennen. Oder auch – vielleicht – das Schicksal. Hier schreibe hier zwei Mal „vielleicht“ und ich merke beim Schreiben, dass ich mir nicht wirklich sicher bin, wie ich mich dieser Kraft, die hier wirkt, am besten nähern kann.

Der libanesische Dichter Khalil Gibran schreibt in seinem bekannten Gedicht „Eure Kinder“, Kinder seien die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Dann verdanken wir unser Leben eben dieser Sehnsucht des Lebens nach sich selbst und können dem Leben selbst dankbar sein.

Wir können auch, wenn wir uns unseren Heimatplaneten, die Erde, als Lebewesen (Gaia) vorstellen, also die große Mutter wahrnehmen, der Erde (Gaia) dankbar sein für unser Leben. In gewisser Weise hat auch sie, die große Mutter, uns hervorgebracht und nährt uns bis heute, neben ihren vielen anderen Menschenkindern.

Abhängig von unseren Vorstellungen von Gott, können wir Gott gegenüber dankbar sein für unser Leben, wenn es so etwas wie Gott in unserer Vorstellung gibt.

Es ist auch eine – mitunter sehr hilfreiche – Überlegung, einmal all die glücklichen Fügungen zu bedenken, die dazu beitrugen, dass ich bis hierher lebe. All die Krankheiten, die ich hatte, vielleicht gerade als Kind, und an denen ich nicht gestorben bin. All die größeren oder kleineren Unfälle, an denen ich nicht gestorben bin, die aber, bei leicht anderen Umständen durchaus hätten tödlich ausgehen können.
Aber auch all die verschiedenen Umstände und das Zusammentreffen mit bestimmten Personen, die uns gefördert haben und mit zu dem gemacht haben, was wir jetzt sind. Oder all die glücklichen Zufälle, in denen uns, wie das Wort es schon sagt, etwas zugefallen ist. Hier könnten wir eben dem Schicksal danken, wenn wir es so nennen wollen, dem gütigem Schicksal.

Wenn wir uns die Frage stellen, wer also – neben unseren Eltern – der Adressat für unsere Dankbarkeit für das „am Leben sein“ ist, bewegen wir uns in ein Feld, das etwas mysteriös ist und es auch bleibt, unabhängig davon, wie sehr wir es zu ergründen trachten. Wir kommen hier, auch mit unserer Dankbarkeit, in Kontakt mit etwas Größerem, was unsere Möglichkeiten und unser Ermessen übersteigt. Mit empfundener Dankbarkeit für all die glücklichen Zufälle und Fügungen in unserem Leben erweisen wir diesem Größeren unsere Referenz, wie auch immer wir es innerlich benennen mögen.

Die Dankbarkeit im Kleinen

Bislang habe ich hier viel über die Dankbarkeit gegenüber der fundamentalen Tatsache, am Leben zu sein, geschrieben. Das ist etwas sehr Großes. Aber die Segensreichen Wirkungen von Dank und Dankbarkeit zeigen sich auch im Kleinen.

Mit dem Danken nehmen wir etwas an, wir bestätigen, dass wir etwas erhalten haben, was unser Leben bereichert. Und nur, was wir innerlich wirklich annehmen, also ohne inneren Vorbehalt, kann ungehindert förderlich für uns sein, nur was wir wirklich angenommen haben, ist für uns verfügbar im Lebensvollzug.
Hier hat der Dank, wenn er ehrlich ausgedrückt ist und nicht nur eine Floskel ist, seinen Platz, auch in ansonsten reinen Austauschbeziehungen, wie etwa geschäftlichen Transaktionen. Für den Austausch selber reicht natürlich das Verhältnis von Geben und Nehmen. Wenn wir aber z.B. mit einer Dienstleistung besonders zufrieden sind oder sie uns in besonderer Weise genutzt hat, so fügt der ehrlich empfundene und ausgedrückte Dank dem noch etwas hinzu. Ja, ich habe für die Dienstleistung (im Beispiel) bezahlt und damit meine Teil dazu getan, aber der Dank bestätigt, vor allem für mich selbst, dass mich der Austausch wirklich bereichert hat, er nährt das Bewusstsein von Fülle in mir.

Der Dank als Erleichterung einer Trennung

Aber noch etwas anderes wohnt dem Dank inne. Er erleichtert Trennungen. Beziehungen zu einer vergangenen Partnerin oder einem vergangenen Partner sind oft innerlich erst dann wirklich getrennt, wenn wir innerlich dieser Person gedankt haben für alles, was gut war in dieser Beziehung. Dieser Dank macht frei für einen Neuanfang, mit dem Danken für das, was gut war, stellen wir unseren Ex-Partner oder unsere Ex-Partnerin frei von weiteren Ansprüchen, aber auch uns selber stellen wir damit frei.

Ähnlich sieht es aus bei einem beruflichem Wechsel, sei es, wir wechseln die Arbeitsstelle im gleichen Tätigkeitsbereich oder wir wechseln den Tätigkeitsbereich selber. Natürlich wird es für so einen Wechsel Gründe geben, d.h., wir sind nicht zufrieden und das treibt uns zur Veränderung. Aber trotz der Unzufriedenheit kann ich danken für das, was mir meine bisherige Stellung oder meine bisherige Tätigkeit gegeben haben, etwa ein Einkommen, dass es mir erlaubte, mein Leben zu erhalten.    
Dieser Dank richtet sich dann an etwas Abstraktes, etwas Unpersönliches wie eine Firma oder eben eine bestimmte Tätigkeit. Wir haben hier also keinen Menschen als Adressaten des Dankes und doch, so scheint mir, gelingt der Neuanfang besser, wenn wir dem Alten gegenüber dankbar sein können für das, was es uns gegeben hat. Es liegt, so scheint es, eher ein Segen auf dem Neuanfang, wenn wir den Abschied vom Alten in Dankbarkeit gestalten können.

Die Dankbarkeit als Rückweg ins Leben

Einen letzten Aspekt möchte ich noch anführen, die Dankbarkeit kann auch therapeutisch wirksam sein. Gerade bei schwer depressiven Menschen oder bei Menschen, die sich aus welchen Gründen auch immer in der „tiefen Nacht der Seele“ befinden, die sich von Gott und der Welt verlassen erleben, kann es ein Heilungsweg sein, wenn es möglich ist, möglichst täglich Dankbarkeit für 3 bis 5 Dinge im Leben laut auszusprechen. Das können ganz kleine Dinge sein oder auch Dinge, die man für selbstverständlich halten könnte. Man könnte den Dank dafür aussprechen, dass ich Kleidungsstücke zur Verfügung habe, mit denen ich mich kleiden kann. (Auch wenn diese mir nicht gefallen.) Ich kann dankbar dafür sein, dass ich ein Dach über dem Kopf habe. (Auch wenn ich vielleicht schon gekündigt bin mit dieser Wohnung, aber jetzt, in diesem Moment, habe ich sie noch.) Ich kann dankbar dafür sein, dass heute Morgen für 1 Stunde die Sonne geschienen hat. (Auch wenn insgesamt schon seit 14 Tage der Himmel grau verhangen ist und mir langsam aufs Gemüt schlägt.)

Bei allen anderen Kontexten der Dankbarkeit, über die ich hier geschrieben habe, würde ich sagen, dass die positive Wirkung der Dankbarkeit davon abhängt, dass diese nicht nur geäußert sondern auch „geinnert“, also innerlich empfunden wird. Hier ist es anders. In Phasen intensiver Verzweifelung wird es kaum gelingen, Dankbarkeit wirklich vollständig auch zu empfinden. Aber gerade hier zeigt sich eine therapeutische Wirkung, wenn es gelingt, diesen kleinen Dingen gegenüber Dankbarkeit auszusprechen, auch wenn es in dem Moment nicht so empfunden wird. In diesem Kontext kann allein das Aussprechen, wenn es regelmäßig geschieht, ein möglicher Weg der Heilung, ein Teil des Weges aus der Dunkelheit ins Licht, ein Teil des Rückkehr in das Leben sein.


[1] Es gibt viele Gründe, warum die Dankbarkeit den Eltern gegenüber für das Leben, das wir empfangen haben, überlagert sein kann und deshalb diese ursprüngliche Dankbarkeit nicht empfunden werden kann. Und viele dieser Gründe haben – auch – eine sehr gute Berechtigung. Ich will hier nicht näher darauf eingehen, weil ich beim Thema Dankbarkeit bleiben möchte. Hier nur so viel: Die Dankbarkeit für das Leben, das über und durch unsere Eltern zu uns gekommen ist, ist nicht als „moralische“ Forderung zu verstehen. Es geht nicht darum, ein Imperativ zu formulieren etwa in der Art: „Sei gefälligst dankbar!“ Damit würde alles falsch und schräg.

Weihnachten und die Geburt des Christus in dir

Dieser Beitrag ist am 24. Dezember geschrieben, der Tag heißt Heiligabend. Dem Worte nach hat dieser Tag also einen heiligen Abend. Was macht den Abend an diesem Tag heilig? Dass dieser Abend und die ihm folgende Nacht überleitet auf die eigentlichen Weihnachtsfeiertage. Was feiern wir da? In der christlichen Tradition wird hier die Geburt des Jesus gefeiert, der später der Christus werden sollte, der Messias, der Heilsbringer und Erlöser.

Nun gibt es wohl einen Ausspruch von Angelus Silesius[1], einem Arzt, Lyriker und Mystiker der frühen Neuzeit, welcher sinngemäß lautet: Was würde es nützen, wenn der Christus tausendmal in Bethlehem geboren würde, wenn er nicht in dir geboren wird? Der Satz erinnert an ein Bibelwort von diesem Jesus Christus: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme an seiner Seele Schaden?“

Das Christusbewusstsein

Was aber könnte es bedeuten, dass Christus in dir oder in mir geboren würde? Geht es hier um das „Christusbewusstsein“, von dem manchmal die Rede ist? Und was würde dies bedeuten, wenn es in mir geboren wird und erwacht?

Mir scheint, der gemeinsame Nenner in den unterschiedlichen Formen, in denen vom Christusbewusstsein gesprochen wird, vielleicht dies zu sein: Es ist ein Bewusstsein, dass sich mit dem Göttlichen in Verbindung sieht. Was immer dieses Göttliche sein mag, es heißt ja, wir sollen uns kein Bild davon machen, weil alle Bilder diesbezüglich immer falsch sind. Aber wir sehen uns damit in Verbindung, mit der ursprünglichen Quelle aus der Alles kommt. Und so sehen wir nicht nur uns in dieser Verbindung, sondern Jeden und Alles hat diese Verbindung. In Allem ist der göttliche Funke. Und Jeder und Alles ist nur ein unterschiedlicher Ausdruck dieses All-Einen. Das Christusbewusstsein bewegt sich also weg von der Trennung, dem Bewusstsein der Trennung.

Noch etwas anderes ist dann damit verbunden: Die christliche Nächstenliebe. Die Überlieferung, aus der wir unsere Vorstellung über diesen Christus im Leib des Jesu ziehen, lässt diesen Christus an mehreren Stellen sagen: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“          
Das wirft natürlich zunächst einmal die Frage auf, ob wir uns überhaupt selber lieben. Das wäre ja die Voraussetzung, auf der die Aufforderung beruht. Der Satz unterstellt ja, ich würde mich wirklich, und möglichst bedingungslos und ohne Einschränkung lieben. Und dieses Lieben soll ich dann auf meine Mitmenschen erweitern. Aber was, wenn es an dieser Voraussetzung der Selbstliebe fehlt.

Aber noch etwas Anderes ist anzumerken zu diesem Satz. Es gibt mitunter die Ansicht – und ich halte sie für sehr plausibel – der Satz sei einfach etwas falsch übersetzt. Er müsste eigentlich lauten: „Liebe deinen Nächste als dich selbst“. Liebe ihn als Verkörperung desselben Stoffes, aus dem auch du gemacht bist. Du und dein nächster Mitmensch sind gar nicht getrennt, du liebst deinen Mitmenschen, weil du in ihm dich selber erkennst. Hier schließt sich dann die Verklammerung von Nächstenliebe und dem All-Eins-Sein – Bewusstsein. Die Nächstenliebe ist dann keine Anstrengung, sondern ein natürlicher Ausfluss eines Bewusstseins jenseits der Wahrnehmung von Trennung.

Eine letzte Anmerkung sei an dieser Stelle zu dem Bewusstsein des All-Eins-Seins noch gemacht. In der deutschen Sprache hat All-Eins-Sein eine bemerkenswerte Nähe zu Alleinsein. Hier bemerken wir eine profunde Paradoxie. Gerade das Alleinsein wird ja meist – oft schmerzlich – als Trennungsgefühl empfunden. Und doch steckt eine Weisheit in dieser Verbindung. Es gibt nämlich auch die Seite, dass die (vorübergehende) Rückbesinnung auf mich selbst, eine gewisse Beschränkung durch Rückzug, merkwürdigerweise genau zu diesem Erleben einer Ausdehnung des Ichs auf Alles führen kann. So kann dieses All-Eins-Sein gerade in Situationen des alleine seins manchmal erlebt werden, etwas in bestimmten Meditationstechniken

Das Bild vom Christus

Nun hatten wir ja schon gesagt, wir sollen uns eigentlich kein Bild machen vom Göttlichen und damit auch nicht von diesem Christus, in welchem sich ja im christlichen Verständnis das Göttliche verkörpert. Aber geht das überhaupt? Können wir es vermeiden, uns ein (inneres) Bild zu machen? Mir scheint: Eher nein. Aber was wir vielleicht machen können, ist: Wir nehmen unsere inneren Bilder an, aber in dem klaren Bewusstsein, dass sie eben nur genau dies sind: Es sind Bilder. Oder vielleicht noch besser: Abbilder. Und ein Abbild von Etwas ist nicht das Abbild selber. (Das merkt man, wenn man versucht, dass Abbild einer appetitlich angerichteten Pizza mit Messer und Gabel zu traktieren, um es zu essen.)

Und welche inneren Bilder haben wir von diesem Christus, wenn er denn in uns geboren würde?

Es gibt ein Christusbild, da haben wir den Mensch geworden Gott, einen Gott der sozusagen herabgestiegen ist aus einer übermenschlichen Sphäre in die Niederungen der menschlichen Gestalt, aber eben noch ausgestattet mit Fähigkeiten, die eben aus dieser nicht menschlichen oder übermenschlichen Sphäre stammen. Diese Fähigkeiten nutzt er für Wunder und Heilungen, die normalen Menschen nicht möglich sind.      
In dieser Sichtweise wir der Jesus Christus sozusagen auf ein Podest gestellt. Man kann ehrfürchtig zu ihm aufschauen, aber er bleibt unerreichbar, ein unerreichbares Ideal.

Ein anderes Bild machte ihn zu einem mythischen Operettenhelden, der Titelfigur eines Musicals oder einer Rockoper mit dem Titel „Jesus Christ Superstar“ und mit einer eingängigen Melodie im Titelsong mit Gassenhauerpotential, in dem die Frage gestellt wird: „Jesus Christ, Superstar: Do you think you’re what they say you are?“ Hier haben wir eine Pop-Star, eine Figur der Unterhaltungsindustrie. Aber auch hier, wie bei jedem Pop-Star, funktioniert die Verehrung nur durch die Distanz, die Unerreichbarkeit.

Noch eine andere Vorstellung sieht diese mythenumrankte Figur als Prototyp dafür, wie wahres Mensch-Sein eigentlich gemeint war. In dieser Sicht ist die Christusfigur ein Ausdruck für die Potentiale, die in jedem Menschen stecken. Christus ist hier mehr Vorbild als Ideal. Die Figur und die überlieferten Geschichten sind hier eine Erinnerung an die wahre und ursprüngliche Natur des Menschen jenseits von kulturellen Konditionierungen und zivilisatorischen Überformungen.

Diese Sichtweise hat eine Bibelstelle auf ihrer Seite, in der Jesus Christus nach einer Wunderheilung zu seinen Jüngern und zur umstehenden Menge sagt, solche und noch größere Taten würde jeder einzelne zukünftig in der Lage sein, zu vollbringen. Hier, in dieser Sichtweise, erleben wir weniger Trennung zwischen dem Christus und uns.

Liebe Leserin, lieber Leser, ich möchte abschließend eine Frage an dich richten. Angenommen, es würde der Christus in dir geboren werden, ein Christusbewusstsein in dir erwachen, egal ob zur Weihnachtszeit oder zu irgendeinem anderen Zeitpunkt: Was würde es für dich bedeuten? Verbunden vielleicht mit der Frage: Woran würdest du es merken?

Und wo von würdest du erlöst werden? Und wo von müsstest du dich lösen, um erlöst werden zu können.


[1] Ich verdanke diesen Hinweis der Theologieprofessorin und Mystikforscherin Sabine Bobert, die es in einem Vortrag erwähnt hat.

Sind wir alle verstrickt?

Eines der großen und immer wiederkehrenden Themen bei Familienaufstellungen ist etwas, was wir als „Verstrickung“ bezeichnen. Gemeint ist damit, dass ein Mensch – meist höchst unbewusst – etwas übernimmt und trägt, was eigentlich zu jemand anderem im Herkunftssystem gehört. Dieser Mensch hat dann Gefühle und zeigt Verhaltensweisen, die sich aus dem eigenen Leben und der eigenen Biografie nicht recht erklären lassen. Wenn diese Übernahme, die Identifizierung mit jemand anderem in meiner Ahnenreihe, sich auf ein schweres Schicksal bezieht, dann wird eben genau dieses Schwere nachgeahmt und führt zu erheblichen Einschränkungen im Lebensvollzug.

Beispiele wären etwa ein Mann, der trotz vorhandener Fähigkeiten und Talente und trotz guter Ausbildung beruflich erfolglos bleibt und in einer Familienaufstellung tritt zu Tage, dass er innerlich seinem Vater treu ist, der auch nicht beruflich erfolgreich war. Oder eine Frau, welche für sie unerklärlich ohne Partnerschaft und kinderlos bleibt und in einer Aufstellung stellt sich heraus, sie ist identifiziert mit einer Tante, welche ihre große Liebe aufgrund der Intervention der Eltern nicht heiraten konnte und dann als Nonne in ein Kloster ging. Und es ist dann so, also ob die Frau zu innerlich zu ihrer Tante sagt: „Ich mache es wie du. Ich bleibe auch ohne Mann und ohne Kinder.“ Oder ein Mensch, der ohne es zu wollen ständig umzieht und es nie schafft, irgendwo heimisch zu werden. In einer Aufstellung zeigt sich dann vielleicht eine Verbindung zu einem Zweig der Herkunftsfamilie, welcher nach dem zweiten Weltkrieg als Flüchtlinge oder Vertriebene durch verschiedene Städte irrten und nirgendwo gut gelitten waren, nirgendwo wirklich lange bleiben konnten.

In all diesen Fällen liegt ein schweres Schicksal aus der Vergangenheit wie ein Schatten auf dem Leben eines Nachgeborenen. Ich wurde kürzlich gefragt, ob es sein könne, dass letztlich jeder Mensch irgendwo und auf die eine oder andere Weise verstrickt sei.  
Mir scheint, dass es so ist, allerdings nicht immer in der bislang beschriebenen dramatischen Form einer Verstrickung. Wenn wir vielleicht etwas allgemeiner von „Bindung“ an etwas aus der Herkunftsfamilie denken, dann kann man schon sagen, dass es kaum einen Menschen geben dürfte, der nicht an irgendeiner Stelle sich an Sitten, Gebräuche, Rituale, einen Glauben, Überzeugungen, Wertvorstellungen oder einfach Gewohnheiten, welche in seiner Herkunftsfamilie Gültigkeit hatten, gebunden ist und sich ihnen verpflichtet fühlt.

Das Eingehen von Bindungen – und das Lösen von Bindungen

Aus der Entwicklungspsychologie wissen wir, dass ein Kind für eine gute Entwicklung einer sicheren Bindung an enge Bezugspersonen bedarf. Das Kind sucht auch diese Bindung. Wenn diese sichere Bindung nicht gelingt, wird es schwer für ein Kind und auch für die spätere erwachsene Person, wirklich gut im Leben anzukommen und in seiner Kraft zu sein.

Die kindliche Bindung ist zunächst eine Bindung an Personen, aber in diese Bindung an eine Person ist immer hineingewebt eine Bindung bestimmte Gebräuche und Gewohnheiten, an Ansichten und Vorstellungen. Wie gesagt: Für das Kind, insbesondere für das kleine Kind ist eine solche Bindung ein Grundbedürfnis. Die Bindung dient hier dem Leben, sie dient der guten Entfaltung der im Kind angelegten Potentiale.

Aber auch das Gegenteil ist wichtig für das Leben. Manchmal müssen solche Bindungen auch gelöst oder zumindest gelockert werden, damit Wachstum und weitere Entwicklung möglich ist. Hier dient dann das sich Lösen aus einer Bindung, besonders aus einer Bindung an bestimmte Vorstellungen, wie etwas zu sein hat, dem Leben und der Entwicklung.

Das Beispiel der familiären Weihnachtsrituale

Dieser Beitrag wird am 1. Advent 2022 geschrieben, mit ihm beginnt die eigentliche Weihnachtszeit. Und die Weihnachtsbräuche in Familien sind vielleicht ein ganz gutes Beispiel, das illustrieren mag, wie die „Mechanik“ von Bindung und Lösung oft in einem guten Sinn arbeitet.

Wenn ein Paar sich findet, wenn sie Eltern werden und Kinder haben, dann spielt in aller Regel das gemeinsame Weihnachtsfest eine nicht unbedeutende Rolle. Jetzt kommen hier aber zwei Menschen zusammen mit Bräuchen und Gewohnheiten aus ihrer Herkunftsfamilie, denen sie auch zu einem gewissen Maß verpflichtet sind. In der einen Familie war es vielleicht Tradition, dass am heiligen Abend Würstchen mit Kartoffelsalat gegessen wird, in der anderen Familie muss es der traditionelle Gänsebraten sein. In der einen Familie wird der Tannenbaum mit Lametta geschmückt, in der anderen ist dies strikt verpönt. In der einen Familie sind „richtige“ Kerzen – möglichst aus reinem Bienenwachs – am Baum ein Muss, in der anderen Familie wird dies strikt vermieden und mit der Brandgefahr begründet.

Hier ließe sich noch etliches mehr aufzählen. Der Punkt ist: Wenn diese beiden Mensch als Paar eine eigene Familientradition zu Weihnachten entwickeln wollen, wird jede Seite hier etwas „opfern“ müssen. Vielleicht wird man manches von der einen Seite übernehmen, anderes von der anderen Seite und in gewissen Dingen ganz andere Wege beschreiten. In jedem Fall wird aber die Bindung an das, was in der eigenen Herkunftsfamilie als richtig angesehen wurde, gelockert. Diese – zumindest teilweise – Lösung von der Bindung an die Bräuche und Gewohnheiten der Herkunftsfamilie erweist sich lebensdienlich, in so fern nur so die neue Familie ihre eigenen Gewohnheiten entwickeln kann.                   
Und die Lösung von den Bräuchen, von dem was als richtig galt in der Herkunftsfamilie, muss keine Abwertung der alten Gebräuche bedeuten. Es ist aber eine Abwendung. Eine Abwendung im Dienste des Neuen.

Dieses Beispiel zur Illustration der Polarität von Bindung und Lösung mag trivial erscheinen. Aber der Weg ist auch in den schwierigeren Fällen, wie dem eingangs erwähnten Mann, der aus Treue zu seinem Vater erfolglos bleibt, derselbe.       
Wir lösen Bindungen, die nicht mehr dem Leben und der Entwicklung dienen, aber wir tun es mit Achtung, nicht mit Ablehnung.

Unsere Gefühle – Unsere Kinder

Meist ist es ja so, dass wir uns gedanklich eher mit den unangenehmen Gefühlen beschäftigen. Die angenehmen Gefühle genießen wir einfach im günstigsten Fall, aber wir würden sie nicht problematisieren oder gar versuchen, sie zu verändern.

Ich hatte kürzlich eine Aufstellung, bei der neben der Protagonistin drei Gefühle aufgestellt wurden, nämlich die Angst, die Wut und die Ohnmacht. Die Zusammenstellung genau dieser drei Gefühle ist für sich schon interessant. Sie repräsentieren drei grundlegenden Reaktionsformen auf eine anhaltende und überfordernde Stressbelastung, nämlich Flucht, Kampf oder Depression (Flight, Fight, Freeze).

Bemerkenswert an dieser Aufstellung war, dass die Stellvertreterin gegen Ende der Aufstellung, als es sich in Richtung Lösungsbild entwickelte, mit Blick auf die drei Gefühle sagte: „Es fühlt sich an, als ob ich die Mutter bin. Und dies sind meine Kinder. Ich möchte sie am liebsten in den Arm nehmen.“ Und das ist ja nun wirklich nicht der erste Impuls, der einem käme, die eigene Angst und Wut und Ohnmacht umarmen zu wollen.

Mich bringt dies zu dem Gedanken, ob es nicht wirklich so ist, dass diese Gefühle, auch die unangenehmen und belastenden, unsere Kinder sind.

Gefühle als Kinder

Es ist mit den Gefühlen ja tatsächlich so wie mit den Kindern. Wir bringen sie in die Welt, sie entstehen durch unser Leben und durch unsere körperlichen Prozesse. Und einmal auf der Welt, entwickeln sie aber ein Eigenleben, eine gewisse Autonomie, sind nur begrenzt durch uns kontrollierbar. Gefühle wie Kinder sind letztendlich Ausdruck des Lebens. Und das Leben kann nicht kontrolliert, sondern nur gelebt werden. In einem bekannten Gedicht von Khalil Gibran heißt es über die Kinder: „Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.“ Und weiter gibt es die Zeile: „Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.“ Wie gesagt, Gibran redet hier in Versform an die Eltern und er redet über die Kinder dieser Eltern. Aber könnte man dasselbe nicht auch über unsere Gefühle sagen?

Gefühle und die inneren Kinder

Aber noch in einem anderen Sinne trägt die Analogie, welche die Stellvertreterin in der Aufstellung fand. Intensive Gefühle, besonders die sog. „negativen“, erwecken eine Erinnerungsspur in uns, auch wenn das nicht immer bewusst wird. Aus dieser Erinnerungsspur gewinnen sie ihre Ladung.

In jeder aktuellen Angst schwingen als die Situationen mit, in denen wir als Kind (berechtigte) Angst hatten. In jeder Wut aktualisiert sich die Situation des abhängigen Kindes, das wir einmal waren, dessen Grenzen nicht gewahrt wurden oder dessen grundlegende Bedürfnisse missachtet wurden. In jedem Ohnmachtsgefühl spiegelt sich die Hilflosigkeit des kleinen Kindes den Größeren und Stärkeren gegenüber.

Kurz: In jedem dieser Gefühle meldet sich das innere Kind. Manchmal ist dieses innere Kind vier Jahre als, manchmal sieben oder manchmal auch nur ein halbes Jahr alt. Aber immer spielen die Spuren der damaligen Erlebnisse in unsere heutigen Reaktionen hinein, gerade bei den unerwünschten Gefühlen. Das innere Kind meldet sich dann, in aller Intensität, zu der gerade Kinder im Ausdruck ihrer unmittelbaren Gefühle noch fähig sind.

Beide Aspekte führen aber zu derselben Schlussfolgerung. Es wäre ratsam, gerade die unangenehmen Gefühle so zu behandeln, wie wir als Erwachsene ein verschrecktes oder wütendes oder hilfloses Kind behandeln würden: Mit aufmerksamer Zuwendung und in dem wir dem Gefühl (und damit dem inneren Kind) ein Zuhause geben, indem es sein darf.

Die große Mutter

Wenn wir an Mütter denken, oder an das sprachliche Attribut "mütterlich", was verbinden wir damit, üblicherweise zumindest? Wir verbinden damit vielleicht Fürsorge, Nährung, ein wohlwollendes und unterstützendes Kümmern, welches Wachstums und Eigenständigkeit ermöglicht. Vielleicht verbinden wir damit auch Schutz und Trost und nicht zuletzt die mütterliche Liebe, welche zumindest im Ideal sehr nahe an einer bedingungslosen Liebe ist. Je kleiner wir noch sind als Kinder desto größer ist das Bedürfnis eines Kindes nach dieser mütterlichen Zuwendung. Und umso größer der seelische Schmerz, die seelische Wunde, wenn wir diese mütterlich-bejahende Zuwendung ganz oder teilweise vermissen. Die reale Mutter handelte nicht nach einem Ideal von Mütterlichkeit, sondern nach dem, was ihr möglich war, nach ihren Begrenzungen. Nicht selten liegen diese Begrenzungen in eigener Traumatisierung und diese wiederum ist oft eine transgenerationale Traumatisierung, hier wird etwas höchst unbewusst, aber höchst wirksam, übernommen von den Vorfahren.

In diesem Beitrag möchte ich eine Sichtweise anregen, dass wir alle vielleicht noch eine andere Mutter haben, eine größere Mutter.

Die Gaia-Hypothese

Jegliches menschliche Leben und jeder Lebensprozess basiert auf dem Planeten Erde, auf dem wir heimisch sind. Es sind zwar im Wesentlichen unsere menschlichen Gebäude, die uns stützen und halten, aber sie alle ruhen auf der Erde, letzten Endes hält uns also die Erde. Jegliche Form von Nahrung, die wir zu uns nehmen – in welcher veränderten und umgestalteten Form auch immer – basiert auf dem, was die Erde in Form von Tieren und Pflanzen wachsen lässt. Die Luft, die wir atmen, stellt die Erde mit der zu ihr gehörenden Atmosphäre zur Verfügung, ebenso das Wasser, dessen wir zum Leben bedürfen.

Es gibt eine Sichtweise, die Erde selber mit ihrer Atmosphäre und ihrem sehr differenziert entwickelten Ökosystemen als ein Lebewesen zu betrachten, also einen großen lebendigen Organismus. Diese Betrachtungsweise gibt es nicht nur in einem esoterischen Kontext, sondern auch in einem naturwissenschaftlichem Kontext, der sich aus Evolutionstheorie und systemtheoretischen Überlegungen speist. In diesem wissenschaftlichem Kontext gibt es eben die sog. „Gaia-Hypothese“, welche unseren Planeten inklusiver aller lebenden und nicht lebenden Materie als einen großen Superorganismus auffasst, der lebt und vielleicht auch ein eigenes Bewusstsein aufweist.

Wenn wir in diesen Bahnen denken, dann könnten wir uns auch als Kinder dieses großen Organismus sehen, als Söhne und Töchter von Mutter Erde. Genau so sie jedes andere Lebewesen, jedes Tier und jede Pflanze, auch. Und diese große Mutter stellt uns – und auch allen ihren anderen Kindern, allen anderen lebenden Organismen – alles zur Verfügung, was wir zum Leben benötigen. Sie tut dies großzügig und ohne Unterscheidungen zu machen, sie tut dies bedingungslos.

In der Bibel gibt es eine Aussage, die Sonne scheine gleichermaßen die Gerechten wie auch die weniger Gerechten, ähnlich fällt der Regen gleichermaßen auf sie ohne Unterschied.
Ähnlich ist es mit „Mutter Erde“, wenn wir sie denn als eigenständigen Organismus ansehen würden und uns als ihre Kinder begreifen würden. Sie, die große Mutter, liebt und versorgt alle ihre Kinder gleichermaßen, ohne Ansehen von Leistung oder moralischem Verdienst.

Diese Sichtweise ist entgegengesetzt einer Sichtweise, in welcher die Natur sozusagen der Feind ist, ein lebensfeindliche Umwelt, der wir unser Leben und unsere Lebensbedingungen erst abringen müssen, in dem wir die Natur bekämpfen.

Tatsächlich ist es ja so, dass die Mutter Erde sehr freigiebig ist. Dies wird unmittelbar deutlich, wenn man z. B. Wildkräuter sammelt oder wildes Obst auf Streuobstwiesen pflückt. Aber selbst da, wo wir kulturgestaltend eingreifen in Form von Ackerbau und Viehzucht, gibt die Erde immer in Fülle und umsonst. Ja, es Bedarf unserer Anstrengung, dass die gegeben Lebensmittel eine bestimmte Form annehmen. Aber trotzdem wird alles frei gegeben. Die Bezahlung ist ein rein menschliches, ein gesellschaftliches, wirtschaftliches und soziales Konstrukt.

Sich tragen lassen

Wenn wir uns auf diesen Gedanken einlassen einer großen Mutter, deren Kinder wir sind und die uns nährt und trägt, wie sie auch alle anderen ihrer Kinder nährt und trägt, dann könnten wir uns vielleicht ein wenig entspannen. Wir könnten uns bewusst tragen lassen von Mutter Erde. Wir könnten uns ihrem starken und haltendem Körper anvertrauen. Wir könnten uns bewusst und mit Dankbarkeit von ihr Nähren lassen.

Liebe Leserin, lieber Leser, du kannst dies einmal ausprobieren. Egal ob im Stehen, im Sitzen oder im Liegen, spüren einmal nur der simplen Tatsache nach, dass du in jedem Moment gehalten wirst, ohne dazu etwas tun zu müssen.
Und jetzt kannst du dies in deiner Vorstellung vielleicht noch ein wenig ausbauen. Stell dir vor, dieses Gehalten-Werden hätte die Qualität, mit der ein Säugling von seiner Mutter auf dem Arm gehalten wird, voller Lieben und voller Wärme. Du kannst dich hier vollständig anvertrauen, du musst nichts tun und nichts erreichen, du wird einfach gehalten und mit dem Wesentlichen versorgt. Und dann stell dir vor, wie die große Mutter, Mutter Erde, auf dich schaut. Wie sie auf dich schaut, als wollte sie sagen: „Willkommen, mein Kind, in dieser Welt. Wie schön, dass du da bist!“ Wie fühlt sich dies an für dich?

Vielleicht können wir über diesen Weg auch ein wenig etwas von den ungestillten Bedürfnissen unseres inneren Kindes befriedigen. Das, was wir von unserer Mutter, der „kleinen“ Mutter in diesem Bild, nicht erhalten haben und was wir schmerzlich vermisst haben, lebt ja noch in unserem inneren Kind. Unsere Mutter konnte uns vielleicht nicht oder nicht immer die bedingungslose Liebe geben, deren wir als Kind bedurft hätten. Das liegt auch daran, dass Mütter Menschen sind und somit Grenzen haben, fehlbar sind. Vielleicht können wir einen Teil unseres Bedürfnisses nach bedingungsloser Annahme ja auch an die große Mutter richten?

Es könnte unsere Beziehung zur „kleinen“ Mutter entlasten und entspannen.

Eine Familienaufstellung im Geiste

Ich möchte mit diesem Beitrag dir, liebe Leserin, lieber Leser, eine Anregung für eine Phantasiereise vorschlagen. Wir könnten es auch eine Art Meditation oder leichte Trance nennen, der Name ist nicht wichtig. In der Phantasiereise, die ich dir vorschlagen möchte, besuchst du deinen Eltern, deinen Vater und deine Mutter. Diese Phantasiereise kann in manchem Aspekt wirken wie eine Familienaufstellung, nur dass wir sie eben im Geiste machen.

Für diese Phantasiereise solltest du dafür sorgen, dass du für vielleicht eine halbe Stunde ungestört bist. Du setzt dich dazu bequem und entspannt hin oder du liegst entspannt, das spielt keine Rolle. Du kannst dabei auch im Hintergrund eine entspannende Musik haben.
Dann nimmst du einige ruhige und bewusste Atemzüge und richtest dein Bewusstsein auf deine Atmung und darauf, wie dein Körper durch den Stuhl auf dem du sitzt oder die Unterlage, auf der du liegst, getragen und gehalten wird. Wenn du spürst, wie du getragen und gehalten wirst und dass du dazu nichts tun musst, kannst du dich in deiner Vorstellung an einen für dich angenehmen und sicheren Ort begeben. Vielleicht ist es ein Strand, vielleicht ein anderer Platz in der Natur, an dem du dich wohl fühlst.

Dein Vater als Kind

Wenn du an deinem Wohlfühlort innerlich angekommen bist, dann lass in deiner Vorstellung deinen Vater als Kind an diesem Ort erscheinen. Sag dir innerlich, dein Vater soll in einem Alter als Kind erscheinen, in dem er besonders geprägt wurde für sein späteres Leben. Und dann nimm das erste Bild von deinem Vater, das vor deinem inneren Auge erscheint. Es spielt keine Rolle, ob er 4 Jahre alt ist oder 7 Jahre alt oder irgendein anderes Alter. Es spiel auch keine Rolle, ob du innere Bilder über deinen Vater als Kind – vielleicht von Fotos – hast oder nicht. Es spielt nicht einmal eine Rolle, ob du deinen Vater überhaupt je kennen gelernt hast. Du gehst einfach immer mit dem ersten inneren Bild, welches dir in deiner Phantasiereise kommt.

Du stehst jetzt in deiner Vorstellung deinem Vater als Kind gegenüber. Schau ihn an. Schau ihm in die Augen. Und dann heiße ihn willkommen und sag zu ihm, dass du aus der Zukunft kommst. Du bist die Tochter oder der Sohn, welche er später einmal haben wird. Und du bist gekommen, um ihn kennen zu lernen. Du bist gekommen, weil du wissen möchtest, wie es ihm geht.

Und dann lass dir von deinem Vater in diesem bestimmten Alter erzählen, wie es für ihn war, ein Kind zu sein. Ein Kind in diesem Alter, ein Kind dieser Eltern und in genau diesen Umständen. Was erlebt er? Was bedrückt ihn vielleicht? Was erhofft er sich? Was vermisst er?

Und wenn er dir dies alles erzählt hat – du hörst dabei nur aufmerksam zu – dann kannst du nach weiteren wichtigen Zeiten in seinem Leben als Kind oder als Jugendlicher fragen. Und immer wenn dein Vater berichtet über etwas, was er erlebt und empfunden hat und wie alt er damals war, stellst du ihn dir in diesem Alter vor.

Und so begleitest du ihn durch seine Kindheit, seine Jugend und Pubertät bis in die Zeit des jungen Erwachsenenalters.

Dann kannst du dir von ihm auch noch zeigen lassen, wie es für ihn war, als er deine Mutter kennen gelernt hat. Was hat er da empfunden, wie ist es ihm da ergangen? Und als deine Mutter mit dir schwanger war, wie ist es ihm da ergangen? Was waren seine Hoffnungen aber vielleicht auch sein Befürchtungen in Bezug auf diese Schwangerschaft? Und wie hat er deine Zeit als Säugling und später als Kleinkind erlebt? Und noch später das Heranwachsen zum Kind, zum Jugendlichen, zum jungen Erwachsenen?

Und wenn du bis hierhin aufmerksam zugehört hast, kannst du deinem Vater sagen, wie du es erlebt hast, sein Sohn oder seine Tochter zu sein. Was hat dich glücklich gemacht? Was hast du vermisst? Vielleicht gibt es bestimmte Begebenheiten, die du ihm erzählen möchtest, wie du dich damals gefühlt hast.
Wichtig ist dabei, dass du es nicht als Anklage oder Vorwurf vorbringst. Du erzählst ihm einfach „Als das und das vorgefallen ist und du so und so reagiert hast, ist das für mich so und so gewesen.“ Noch einmal: Es ist ein Bericht von deiner Seite, keine Anklage.
Und du stellst dir dabei vor, dein Vater hört aufmerksam zu. Ohne etwas zu erwidern. Er ist nur interessiert daran, von dir zu erfahren, wie es für dich damals war. Ohne Rechtfertigung, ohne Entschuldigung – nur zuhören.

Und wenn du damit durch bist, nimmst du noch mal den Blick auf deinen Vater in dem Alter, in dem du ihn zu erst in dieser Phantasiereise begegnet bist. Du schaust ihm noch einmal in die Augen. Und dann lässt du deinen Blick weich werden und du schaust über deinen Vater hinaus. Und schaust auf seine Eltern, deine Großeltern väterlicherseits. Und du schaust, wie Sie waren, wie sie und auch ihre Lebensumstände deinen Vater geprägt und beeinflusst haben, im Guten wie im nicht so Guten. Und dann schaust du über die Großeltern hinaus auf deren Eltern, und wie sie und ihre Zeit deinen Großeltern geprägt haben.
Und zum Abschluss schaust du dann noch ganz weit in die Tiefe der Zeit. Auf die Eltern der Urgroßeltern, deren Eltern usw.

Und dann verabschiedest du dich von deinem Vater. Vielleicht magst du ihm noch einmal sagen, dass du aus seiner Zukunft kommst. Und das alles gut weitergegangen ist.

Deine Mutter als Kind

Danach lässt du vor deinem inneren Auge deine Mutter als Kind erscheinen, in einem Alter, in dem dieses Kind in irgendeiner Weise besonders geprägt wurde. Auch hier nimmst du Kontakt auf mit deiner Mutter als Kind, heißt sie willkommen und erklärst ihr, dass du als Sohn oder Tochter aus ihrer Zukunft kommst.

Auch hier lässt du dir von deiner Mutter als Kind berichten, wie sie diese Zeit erlebt hat. Was sie hier geprägt hat. Und vielleicht auch, welche grundlegenden Überzeugungen sich in dieser Situation bei ihr herausgebildet haben.

Und auch bei deiner Mutter lässt du dich durch weiterer wichtige Stationen ihrer Kindheit und Jugend führen und lässt dir erzählen, wie sie, deine Mutter, diese Stationen in ihrem Leben erlebt hat. Du hörst wieder nur zu, aufmerksam und interessiert.

Auch deine Mutter begleitest du so auf dem Weg in ihr erwachsen Werden. Und du kannst dir auch von deiner Mutter berichten lassen, wie es für sie war, deinen Vater kennen zu lernen. Wie sie die Schwangerschaft mit dir erlebt hat, welche Hoffnungen oder vielleicht auch Befürchtungen sie gehegt hat.

Dann lässt du dir berichten, wie sie es erlebt hat, die Zeit in der du Säugling, Kleinkind, Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener warst.

Und wenn du dies alles vernommen hast, dann erzähle auch deiner Mutter, wie es für dich war, ihr Sohn oder ihre Tochter gewesen zu sein. Auch hier: Deine Mutter hört nur zu, offen und interessiert an deiner Wahrnehmung. Und du berichtest, ohne Beschuldigung, nur wie es für dich war. Du berichtest bestimmte Erlebnisse und die Reaktionen deiner Mutter auf diese Ereignisse und wie es für dich war, wie du es erlebt hast.

Und auch hier nimmst du, wenn du damit fertig bist, deine Mutter noch einmal in dem Alter in den Blick, in dem du ihr in dieser Phantasiereise zuerst begegnet bist. Du schaust ihr noch einmal in ihre Kinderaugen und dann nimmst du ihren Hintergrund in den Blick. Du schaust auf ihre Eltern und wie sie und ihre Zeit und die Umstände deine Mutter geprägt haben. Dann schaust du auf die Eltern der Großeltern, auf deren Eltern und deren Eltern – bist in die Tiefe der Zeit. Und du siehst, wie jede dieser Personen auch beeinflusst wurde über ihre Zeit und die Umstände.

Und wenn du damit fertig bist, verabschiedest du dich von deiner Mutter. Vielleicht möchtest du ihr noch etwas sagen, vielleicht möchtest du ihr danken, dass sie dich ausgetragen und auf die Welt gebracht, dich großgezogen hat.

Nach dem du dich von deiner Mutter als Kind verabschiedet hast kehrst du dann langsam und in dem für richtigen Tempo mit der Aufmerksamkeit wieder zurück in die Jetzt-Zeit. Vielleicht spürst du wieder, wie der Stuhl oder die Unterlage dich hält und trägt, vielleicht wirst du auf deinen Atem aufmerksam. Wie auch immer dies im Einzelnen sich vollzieht, in dem für dich richtigen Moment öffnest du wieder die Augen und bist ganz wach und präsent im gegenwärtigen Augenblick.

Das Schicksal und Ich

Dieser Blogbeitrag hat ein unmögliches Thema. Es ist eigentlich unmöglich, über das Schicksal zu schreiben. Nicht, weil es sich beim Schicksal um etwas handelt, was größer ist als wir alle. Das ist zwar so, aber das ist nicht der Grund, warum es unmöglich ist, darüber zu schreiben. Die Sexualität z.B., die Kraft die alles menschliche Leben hervorbringt, unter welchen Umständen auch immer – und manche Umstände sind schlimm – die Sexualität ist auch größer als wir alle. Und doch kann man über sie schreiben, reden, philosophieren. Ist es vielleicht deshalb, weil das Schicksal etwas Göttliches oder etwas Heiliges wäre, wo jeder Versuch sich dem schreibend anzunähern, von vornherein Selbstüberhebung wäre? Auch das ist nicht Grund.

Der Grund ist ein anderer. Wenn man über das Schicksal schreiben will, könnte es sein, ehe man sich versieht, hat man vielleicht ganz Bibliotheken vollgeschrieben und Jahrzehnte damit verbracht – und hat doch nicht genug geschrieben. Und paradoxerweise gilt das Gegenteil aber auch. Man schreibt (oder sagt) nur ein oder zwei Sätze über das Schicksal – und selbst das ist schon zu viel und geht am eigentlichen Thema vorbei.

Ich schreibe also hier über das Schicksal und beginne mit der Aussage, dass es gar nicht möglich ist. In diesem Beitrag löse ich den Widerspruch, in dem ich eigentlich gar nicht über das Schicksal „an sich“ schreiben, sondern nur über zwei Aspekte, die vage etwas mit diesem Thema „Schicksal“ zu tun haben.
Bei Familienaufstellungen haben wir es oft mit schweren Schicksalen zu tun, diese mysteriöse Kraft wirkt hier, oft im Verborgenen mit Wirkungen auf die Nachgeborenen. Ich frage mitunter zu einem Anliegen: „Ist etwas Besonderes, etwas von schicksalhafter Qualität, in deiner Herkunftsfamilie vorgefallen? So weit du davon weißt?“. Die folgenden zwei Gedanken, die ich hier teilen möchte, speisen sich aus dem Umgang mit den Wirkungen von Schicksal in Familiensystemen. Ich schreibe hier also nicht über das Schicksal selber – was immer das auch sein mag – sondern über Wirkungen von schicksalhaften Ereignissen.

Die Schicksalsschläge – Das Schicksal als Negativum

Wenn wir an Schicksal denken, dann denken wir meist an die sog. Schicksalsschläge, die schweren Schicksale. Wir denken an bestimmte Behinderungen oder Beeinträchtigungen, mit denen Menschen vielleicht geboren werden oder durch Unfälle erleiden. Wir denken an schwere Erkrankungen, an früh verstorbene Kinder, an Verluste von Besitz und Heimat durch Krieg oder ethnische Konflikte. Wir bezeichnen solche Ereignisse als Schicksal, wenn sie uns ereilen, ohne dass wir sie durch unser Verhalten, durch größer Vorsicht oder Umsicht oder durch geeignete Lebensführung hätten vermeiden können.

Aber es gibt natürlich auch das Gegenteil: Ohne dass wir es unserer Leistung zuschreiben können, werden wir vielleicht von solchen Schicksalsschlägen verschont. Wir werden vielleicht in Zeiten und Umstände hineingeboren, die uns vor existenziellem Mangel bewahren. Wir überstehen gefährliche Situationen unbeschadet durch glückliche Umstände, die leicht hätten anders ausgehen können. Wir treffen vielleicht bei wichtigen Vorhaben durch Zufall genau die richtigen Menschen zur rechten Zeit, die unserem Wollen zum Erfolg verhelfen. Wir nennen das dann vielleicht nicht Schicksal, sondern etwa eine glückliche Fügung oder Glück oder schlicht Gnade. Aber es ist dieselbe Macht, dieselbe überpersönliche Kraft, die hier wirkt.

Das Schicksal als Gestalt

Manchmal ist es hilfreich, sich das Schicksal als Gestalt vorzustellen, wie eine Person, aber eine Person, die sehr viel größer ist als jeder Mensch. In Aufstellungen stelle ich manchmal auch das Schicksal auf, aber dann stelle ich die Person als Stellvertreter auf einen Stuhl, so dass diese Gestalt alle anderen Stellvertreter überragt.

Die Mythen und Legenden der verschiedenen Völker und Kulturen künden von etwas Ähnlichem. Auch hier stellt man sich das Schicksal oft als Götter oder Göttinnen vor, gibt dem Schicksal somit ein Antlitz, ohne ihm damit sein Mysterium zu nehmen. Was ist der Vorteil von einer solchen Vorstellung? Wir können dann das Schicksal im Inneren ansehen und wir können das Schicksal auch innerlich ansprechen. Im Fall von schweren Schicksalen können wir zum Beispiel mit unserer Wut, mit unserer Verzweiflung, mit unserer Hilflosigkeit, mit unseren Klagen uns an das Schicksal wenden. Wir können das Schicksal dann auch beschimpfen, wir können ihm mit der Faust drohen, wir können es anschreien und sagen „das ist nicht gerecht“. All dies können wir tun und all dies kann hilfreich sein in der Verarbeitung von Schicksalsschlägen, die in bestimmten Phasen verläuft.

Nur eines können wir auch dann nicht tun: Das Schicksal wenden!

Letzten Endes, am Ende der Verarbeitung eines Schicksalsschlages, bleibt nur eins zu tun gegenüber dem Schicksal: Sich vor ihm zu verneigen. Dann werde ich innerlich ruhig. Aber das ist der Endpunkt einer Auseinandersetzung mit dem Schicksal, niemals sein Anfang.
Aber auch vor der anderen Seite des Schicksals, den glücklichen Fügungen in unserem Leben, könnten wir uns – gelegentlich – verneigen. Das wäre eine Übung in Dankbarkeit.

Letzen Endes ist dies aber vielleicht der Einzige Satz, den man sinnvoll über das Schicksal schreiben kann: Am Ende bleibt nur, sich zu verneigen.

Keine Regel ohne Ausnahme

In der Aufstellungsarbeit gibt es eine Reihe von Regeln, nach denen sich die seelischen Bewegungen in einen System von Menschen abspielen, sei es in Familiensystemen oder auch anderen Systemen wie z.B. Organisationen. Gefunden wurden diese Regeln von Bert Hellinger in der Frühphase der Entwicklung der Familienaufstellung. Die Regeln betreffen solche Fragen, wie:

  • Wer gehört alles zu einem System und wer nicht? Hier ist die Frage der Bindung des Einzelnen an eine größere soziale Einheit angesprochen.
  • Welche Verbindungen und Verstrickungen gibt es zwischen den Schicksalen von Nachgeborenen und den Schicksalen von Vorfahren in Familiensystemen?
  • Welchen Platz habe ich in einem System? Hier spielt z.B. Umstand eine Rolle, dass Personen die früher sozusagen da waren in einem System einen gewissen Vorrang vor später zum System dazugekommen Personen haben.

Dies sei hier nur beispielhaft genannt, es ließen sich weitere Regeln formulieren, die insbesondere in Familiensystemen gefunden wurde wie etwas die Regeln des Ausgleiches zwischen Geben und Nehmen und einige weitere Dinge mehr.

Wichtig ist dabei: Diese Regeln sind ursprünglich nicht in irgendeiner Weise theoretisch „hergeleitet“ worden, sondern durch Beobachtung in vielen Familienaufstellungen gewonnen worden. Es sind also keine normativen Regeln, die beschreiben würden, wie etwas sein soll. Sondern es sind Beobachtungen gewesen, wie etwas sich wiederholt immer wieder in Aufstellungen gezeigt hat.

Aber – und dies ist ein großes „Aber“: Es bleibt grundsätzlich dabei, dass solche Regeln nur dann eine Aufstellung wirksam leiten können, wenn und so weit sie sich im konkreten Einzelfall dann auch so zeigt. Und dies muss nicht immer so sein. Oder anders gesagt: Zu fast jeder Regel gibt es – zumindest im Einzelfall – Ausnahmen.

Der unbefangene Blick auf das, was ist

Am Besten wäre es natürlich, wenn Aufstellungsleiterinnen und Aufstellungsleiter an jede Aufstellung mit einer Art „Anfängergeist“ heran gehen könnten. Wenn sie also zu Beginn einer Aufstellung sich ausschließlich von den Informationen im „wissenden Feld“ leiten lassen würden und jegliche Erfahrungen aus anderen Aufstellungen in diesem Moment aus dem Gedächtnis tilgen könnten. Das würde also bedeuten, die Leitung einer Aufstellung würde man so angehen, als ob man gar nichts über diese Regeln wüsste und zum allerersten Mal mit einer Aufstellung zu tun hätte.

Dies ist natürlich tatsächlich in Reinform so nicht möglich. Wenn man einige Erfahrung mit der Leitung von Aufstellungen hat, kann man es nicht vermeiden, dass es gewisse Erfahrungswerte aus anderen Aufstellungen gibt, die mit dazu beitragen, mich als Leiter einer Aufstellung auf bestimmte Ideen zu bringen. Zum Beispiel Ideen, wer oder was zu einem bestimmten Thema aufzustellen ist oder auch Ideen bezüglich bestimmter Sätze, die man Stellvertretern vorschlagen kann.

Was man aber machen kann als Aufstellungsleiterin oder –leiter ist: Ich kann darauf achten, dass dies jetzt eine Idee ist, die aus einer vergangenen Erfahrung stammt und nicht unmittelbar aus dem Feld der gegenwärtigen Aufstellung. Und wenn ich dies merke, dann muss ich in der Leitung einer Aufstellung diese Idee für mich als Hypothese auffassen. Und diese Hypothese wäre dann im konkreten Einzelfall, in der gerade vorliegenden Aufstellung, zu prüfen. Man testet also etwa, ob die Hereinnahme z.B. einer bestimmten Person in die Aufstellung etwas bei den Stellvertretern auslöst oder nicht. Wenn es keine Reaktion der Stellvertreter gibt, dann nimmt man diese Person wieder heraus aus dem Feld, dann war es in diesem Fall eben nicht ein entscheidender Impuls in Richtung Lösung, auch wenn es in früheren Aufstellungen so gewesen sein mag.

Ich selber habe zum Beispiel in verschiedenen Aufstellungen erleben können, dass bei Protagonisten mit einem Zwillingsgeschwister der wirkliche Durchbruch für eine Lösung erst dann gelang, wenn der Zwillingbruder oder die Zwillingsschwester auch aufgestellt wurde, auch wenn das vordergründige Problem als Anlass der Aufstellung nur eines der Zwillingskinder betrifft. Hier scheint es eine besondere seelische Verbindung bei Zwillingen zu geben, die stärker ist als bei anderen Geschwistern.

Dies führte dann im Laufe der Zeit dazu, dass ich – wenn im Vorgespräch ein Zwillingsgeschwister erwähnt wurde – sofort dachte: „Dieses Zwillingsgeschwister müssen wir in jedem Fall auch aufstellen.“
Bis ich dann einmal eine Aufstellung hatte mit Mann, der noch eine Zwillingsschwester hatte. Diese Zwillingsschwester wurde dann auch aufgestellt, obwohl sie erst einmal nicht direkt mit dem Anliegen des Mannes zu tun hatte. Und in diesem Fall war es dann so, dass sich in der Aufstellung sehr schnell zeigte, dass die Zwillingsschwester keinen Unterschied machte für das Thema, die Stellvertreter reagierten durchweg nicht auf ihre Anwesenheit in der Aufstellung.

Hier war sie also: Die Ausnahme von der Regel, die bislang immer wirksam war. Ich habe dann die Zwillingsschwester wieder aus der Aufstellung genommen und zur Stellvertreterin gesagt, sie könnte sich wieder setzen. Es hat der Aufstellung nicht geschadet, die Zwillingsschwester zumindest versuchsweise erst einmal mit dazu genommen zu haben.

Allerdings hat es mich noch einmal daran erinnert, jegliche Erfahrungswerte aus anderen Aufstellung allenfalls als Vermutungen zu behandeln, die überprüft werden müssen.

Wenn Aufstellungen scheitern – und manchmal gute Folgen haben

Ich habe kürzlich eine Geschichte gehört von einem Aufstellerkollegen, wie er zur Aufstellungsarbeit gekommen ist. Er war gerade frisch Vater eines Sohnes geworden und stellte fest, dass er Schwierigkeiten hatte, wirklich eine Beziehung zu diesem Baby, seinem Sohn, aufzunehmen. Er konnte sich diese Blockade nicht erklären, sie hat ihn umgetrieben und dann hörte er von der damals noch recht neuen Methode der Familienaufstellung und er meldete sich zu einem Wochenendseminar an.

Als er an der Reihe war mit seiner Aufstellung, ging es sehr schnell um das Verhältnis zu seinem Vater. Der Aufstellungsleiter stellte ihn dann seinem Vater gegenüber und forderte ihn auf, sich vor seinem Vater zu verneigen. Er aber spürte in sich einen Widerwillen dagegen und sagte, es wäre doch mindestens genau so richtig, wenn sein Vater sich vor ihm verneige. Daraufhin brach der Aufstellungsleiter – offenbar recht brüsk – die Aufstellung ab mit den Worten, er solle sich wieder setzten, er hätte seine Chance verspielt.

Diese Intervention war, natürlich, ein Schock. Der Mann, von dem ich spreche, fuhr an diesem Abend nach Hause mit einer ziemlichen Wut auf den Aufstellungsleiter und die Methode und dem Gedanken, dass Familienaufstellungen ein ziemlich nutzloser Unfug sind. Er schlief dann in dieser Nacht unruhig. Am nächsten Morgen schaute er seinen Sohn an nach dem Aufwachen und empfand intensiv die väterlichen Gefühle der Liebe seinem Sohn gegenüber, die er vorher an sich nicht feststellen konnte. Und sein Gedanke dazu in dieser Situation war: „Ich stehe in der Mitte. Meinem Vater gegenüber bin ich der Kleine und meinem Sohn gegenüber bin ich der Große“. Dieser Gedanke überfiel ihn eher, als das er ihn aktiv dachte, er kam wie aus dem Nichts.
Und doch war es diese klare Erkenntnis darüber, wo er steht in der Reihe, von wem er das Leben empfangen hat und an wen er es weitergegeben hat, die es ihm zum ersten mal erlaubte, sich wirklich als Vater zu fühlen, diese Rolle innerlich anzunehmen und auszufüllen.

Wenn man diese Geschichte betrachtet, dann scheint es hier so zu sein, als ob die wesentliche Botschaft, welche in der Aufstellung hätte vermittelt werden sollen, sich trotz des kompletten Scheiterns der Aufstellung irgendwie in der Psyche und Seele lebendig und wirksam wurde. Die Botschaft könnte man vielleicht beschreiben als: „Ich stehe in einer Linie der Weitergabe des Lebens. Über die Dankbarkeit für das Empfangen des eigenen Lebens über meine Eltern, eben auch über den Vater, als großes Geschenk kann ich das große Geschenk sehen, selber das Leben weitergeben zu dürfen und mit um diesen kleinen Menschen als Vater zu kümmern und für sein Wohlergehen zu sorgen.“
In diesem Fall hat, so wirkt es zumindest, die Aufstellung durch ihr Scheitern, den Abbruch der Aufstellung und das Gefühl der Kränkung hindurch etwas in der Seele ausgelöst, was unterschwellig weiter gearbeitet hat in Richtung der Lösung, die in der Aufstellung nicht vollzogen werden konnte. Der Same war gesetzt in der Seele und er ging auf, er wirkte auf einer unterschwelligen Ebene, während die Oberfläche des Bewusstseins mit dem Fehlschlag und dem Ablehnen der Methode beschäftigt war.

Das Beispiel illustriert, dass die seelische Bewegung auch nach einer Aufstellung oft weiter geht. Und diese seelische Bewegung sucht sich eine Lösung, welche die betroffene Person vielleicht erst später als plötzliche Einsicht überfällt.

Ist das immer so, dass auch gescheiterte Aufstellungen eine segensreiche Wirkung entfalten? Wahrscheinlich nicht. Aber manchmal kommt es vor. Es soll an dieser Stelle auch nicht geleugnet werden, dass Leiterinnen oder Leiter von Aufstellungen Fehler machen können, weshalb eine Aufstellung misslingen kann und damit den Personen, welche ihr Anliegen aufstellen, nicht wirklich geholfen wird. Es wäre irrig, diese kleine Episode als Beleg dafür zu nehmen, dass es egal sei, welche Interventionen die Leitung einer Aufstellung setzt und aus welcher inneren Haltung heraus. Die Episode belegt aber, dass die Seele über eine große Autonomie verfügt, wie sie mit Erlebnissen in einer Aufstellung weiter arbeitet. Dies steht nicht in der Verfügungsmacht der Leitung einer Aufstellung oder des Bewusstseins der Person mit dem Anliegen. Und das ist auch gut so, möchte ich anfügen.

In meiner Erfahrung in der Leitung von Aufstellungen habe ich bislang drei Muster des Scheiterns einer Aufstellung ausmachen können, die ich kurz beschreiben möchte.

„Ich kann diesen Weg NOCH nicht gehen“

Ich erinnere mich an eine Aufstellung, bei der es beim Protagonisten auch um die Annäherung, die Heilung der „unterbrochenen Hinbewegung“ zum eigenen Vater ging. Über den Stellvertreter in der Aufstellung war dieser Weg vorgebahnt, es zeigte sich beim Stellvertreter, dass die Annahme des Vaters als Vater die Lösung das Problem wäre, aufgrund dessen die Aufstellung gemacht wurde. Als der Stellvertreter gegen den eigentlichen Protagonisten ausgetauscht wurde, konnte dieser den Weg nicht gehen. Genauer: Er konnte ihn nur bis zu einem bestimmten Punkt gehen, danach ging es nicht weiter, der Widerstand war zu groß. Der Protagonist sagte dazu: „Ich kann diesen Weg noch nicht gehen“. Ich habe dabei sehr stark das Wort „noch“ in dem Satz herausgehört. Ich habe die Aufstellung an dieser Stelle beendet mit dem Satz: „Ich vertraue dich deiner guten Seele an.“ Mein Gefühl war: Der Weg zur Lösung ist deutlich geworden, es nur im Moment noch nicht der Zeitpunkt für den inneren Vollzug.

Das wäre so ähnlich wie in der eingangs erzählten Begebenheit. Mein Eindruck war: Hier arbeitet jetzt etwas innerlich weiter und es darf nicht darum gehen, ein bestimmtes Ergebnis in einer bestimmten Zeit erzwingen zu wollen. Ob die innere seelische Bewegung in einem Monat, in einem Jahr oder sogar am nächsten Tag schon zu ihrem Ziel gelangt, ist unerheblich. Wichtig war nur – in diesem Fall – dass der Same gesät ist, und dies war deutlich zu spüren. Danach zieht man sich als Aufstellungsleiter am Besten von diesem Prozess zurück.

Die Ablehnung der Lösung

In einem anderen Fall, auch hier ging es um Annäherung, diesmal an die Mutter, war es zunächst ähnlich. Durch die Stellvertreterin wurde der Weg zur Lösung deutlich. Die Protagonistin aber lehnte den Vollzug der Lösung für sich ab. Sie tat es aber mit einem jammernden Tonfall mit der Bedeutung: „Dies kann man mir nicht zumuten.“

Auch hier war an dieser Stelle die Aufstellung beendet und gescheitert. Mein Gefühl dazu war aber: Hier wird sich in Bezug auf das Problem, weshalb diese Frau die Aufstellung gemacht hat, nichts ändern. Es bleibt alles so, wie es ist.

Aus meiner Sicht ist dies so als Aufstellungsleiter zu akzeptieren. Man sollte hier nicht mit gesteigerter Intensität versuchen, doch noch irgendwie – mit einem genialen Kniff oder so – zu einer „guten Lösung“ zu kommen. Das würde nur das Ego des Aufstellungsleiters befriedigen.

„Nein, ich WILL diesen Weg nicht gehen“

Es gibt noch eine andere Variante, die ich allerdings nur einmal erlebt habe, dort aber besonders eindrücklich. Auch hier war in der Aufstellung eine Lösung für ein bestimmtes Problem durch die Stellvertreter deutlich geworden. Die Protagonistin, nachdem sie für ihre Stellvertreterin in die Aufstellung eingewechselt wurde, ging dann auch zunächst einige Schritte in die Richtung der Lösung, allerdings zunehmen zögerlicher.

An einem bestimmten Punkt drehte sie um und sagte, klar und deutlich: „Nein, das mache ich nicht!“. Das wirklich beindruckende war dabei ihre Körpersprache. Bis dahin wirkte sich unsicher und schüchtern. Und hier stand sie nun, aufgerichtet zu ihrer vollen Größe und stand offensichtlich mit dieser Entscheidung voll in ihrer Kraft.

Es war, so wirkte es auf mich, eine klare Entscheidung, eine Entscheidung für etwas Größeres, dem sie mit dieser Entscheidung gegen die Lösung treu blieb. Und die unterschwellige Aussage war: „Wenn diese Entscheidung bedeutet, dass ich weiter mit dem Problem zu tun habe, weswegen ich hergekommen bin, dann soll es so sein. Ich nehme das billigend in Kauf.“ Und das ist eine ganz andere Haltung dem ursprünglichen Problem gegenüber als ein resignierendes „dann geht es eben so weiter.“
Wie gesagt: Mein Eindruck war, hier hat die Frau in ihrem Inneren etwas Größeres gefunden, dem sie verpflichtet ist und dem gegenüber ihr ursprüngliches Problem weniger bedeutsam ist, ja eigentlich die Qualität eines Problems verliert, sondern nur noch ein Umstand ist, mit dem ich umgehe, um einem anderen Zweck zu dienen.

Kannst du Frieden machen?

Der vorletzte Blogbeitrag vom Februar 2022 handelte vom Krieg und seinen langen Folgen, auch Generationen später noch. Und er schloss mit der etwas spekulativen Überlegung, die Kriege, welche wir in der äußeren Welt erleben, könnten auch etwas mit einem Krieg – oder sagen wir besser: mit dem fehlenden Frieden – in uns selber zu tun haben. Ich möchte hier diesem Gedanken etwas näher nachgehen.

Der Wille zur Vernichtung

Ein wesentliches Merkmal des Krieges ist der Wille zur Vernichtung. Es werden Menschen, Landschaften, Gebäude, Infrastruktur usw. vernichtet. Das ist das Ziel. Woher speist sich der Vernichtungswille, der sich hier Bahn bricht? An seinem Urgrund steht (auch) unsere Biologie als Säugetiere. Der Wille zur Vernichtung hängt zusammen mit biologisch tief liegenden Reflexen, mit der unwillkürlichen Antwort auf eine unmittelbare Bedrohung des Lebens durch Flucht oder Angriff. In dieser Hinsicht dient der „Angriff oder Flucht“-Reflex dem Leben, dem Überleben. Durch Flucht entziehe ich mich dem Vernichtungswillen eines anderen Lebewesens (sei es der Säbelzahntiger oder die meinem Stamm gegenüber fremde Horde). Durch Angriff und Vernichtung des Angreifers beende ich die Gefahr für mein Leben.

Wir können also diesen Willen zur Vernichtung nicht einfach nur schlecht nennen. An der Basis dient er dem Leben. In höchster Not kann der Einzelne diesen Kräften kaum entrinnen.

In der Entwicklung der Menschheitsgeschichte wurde der Mensch sesshaft. Er entwickelte Kultur und Zivilisation, die ursprünglichen und archaischen Verhältnisse unmittelbarer Gewalt wurden durch Gesetze und Regelungen sowie das staatliche Gewaltmonopol eingehegt.
Ist der Wille zur Vernichtung damit verschwunden? Wir können beobachten, dass der Wille zur Vernichtung sich unter solchen Verhältnissen eher verschiebt auf andere Ebenen der Auseinandersetzung. Wir können hier an den Streit um politische, wissenschaftliche, religiöse oder allgemein ideologische Meinungen denken. Hier gibt es natürlich auch immer eine Ebene des Suchens nach der besten Lösung, des Austausches und Vergleichens von Ideen. Es passiert aber sehr schnell, dass diese Ebene verlassen wird und der ideologische Kampf über persönliche Diffamierung, Ausgrenzung, Verleumdung usw. geführt wird. Auch hier wirkt der Wille zur Vernichtung, wenn auch weniger blutig, weniger in der Form unmittelbarer Gewalt.

Das gute Gewissen, dass zu schlimmen Taten führt

Es wirkt hier auch noch etwas Anderes. Sowohl in den wirklichen Kriegen wie auch in den im übertragenen Sinne Kriegen der Ideologien wirkt bei den Beteiligten ein gutes Gewissen. Dieses Gewissen ist ein Gruppengewissen. Der Kampf gegen den Feind sichert mir meine Zugehörigkeit zu meiner Gruppe. Alles was meine Zugehörigkeit zu meiner Gruppe sichert, gibt mir das gute Gefühl, dazu gehören zu dürfen. Das ist der Kern des guten Gewissens.

In meiner Gruppe, sei es als Nation in einem Krieg, als Partei in einem Bürgerkrieg oder auch als Kombattant in einer ideologischen Auseinandersetzung fühle ich mich im Recht. Ich fühle mich der Gegenseite gegenüber überlegen. Ich bin besser als der Andere, wir sind besser als die andere Gruppe. Daher ist alles, was ich ihnen– individuell und kollektiv – antue, gerechtfertigt. Es ist gerecht. Ich tue es mit gutem Gewissen. So wird die Gerechtigkeit als Pferd vor den Karren des Vernichtungswillens gespannt, wie Bert Hellinger es einmal ausgedrückt hat. Mein gutes Gewissen (was eigentlich nur das Recht auf Zugehörigkeit bedeutet) ist heilig. Und so werden die heiligen Kriege geführt. Die Kriege auf den Schlachtfeldern und die Kriege auf den Feldern der Ideologien.

Kriegspropaganda

Jeder Krieg benötigt Propaganda. Sie weckt den Vernichtungswillen, stattet diesen mit einem guten Gewissen aus. Ohne dieses gute Gewissen könnten die schlimmen Taten nicht vollbracht werden, nicht in der Größenordnung, wie es in Kriegen oder auch in gewaltsamen Umstürzen und Revolutionen aber auch in ideologischen Auseinandersetzungen geschieht. Zu jedem Krieg muss die Bevölkerung erst mobilisiert werden.

Im ersten Weltkrieg spielte eine bestimmte „Erzählung“ in England eine große Rolle für diese Mobilisierung. Ja, die Armeen des damaligen deutschen Kaiserreiches sind auf dem Weg nach Frankreich in das neutrale Belgien eingefallen. Ein klarer Rechtsbruch. Aber das alleine hätte nicht ausgereicht. Es wurde in England die Meldung verbreitet, die deutschen Armeen hätten bei ihrem Durchzug durch Belgien den belgischen Kindern systematisch die Hände abgehackt. Ein Beispiel für Gräuelpropaganda. Eigentlich ist die Erzählung kaum glaubhaft. Was hätte die deutsche kaiserliche Armee davon gehabt? Welchen Vorteil in der Kriegsführung hätte sich ergeben, sich damit aufzuhalten, sinnlos und wahllos belgischen Kindern die Hände abzuhacken, wenn es darum ging, möglichst schnell nach Frankreich zu gelangen? Aus der Distanz betrachtet, wirkt die Erzählung absurd.
Aber sie wurde geglaubt, es erzielte die gewünschte Wirkung. Die Stimmung, die öffentliche Meinung in England kippte, nun war es da, das gute Gewissen, mit welchem dieser Krieg geführt werden konnte. Was kann schlecht daran sein, solche Barbaren vernichten zu wollen, die unschuldigen Kindern die Hände abhacken?

In neuerer Zeit erlebten wir etwas Ähnliches mit der sogenannten „Brutkastenlüge“. Sie ermöglichte in den USA die Zustimmung zum Krieg gegen den Irak 1991. Ohne sie wäre dieser Krieg innenpolitisch kaum durchsetzbar gewesen.

Aktuell erleben wir den Krieg in der Ukraine, in den wir zunehmend zu Beteiligten werden über Waffenlieferungen, finanzielle und logistische Unterstützung. Weil wir beteiligt sind, läuft dieser Krieg nicht so unterhalb der Wahrnehmungschwelle für uns ab wie z.B. der Krieg im Jemen, der seit Jahren tobt, von dem aber nur wenige überhaupt jemals gehört haben dürften.
Ich meine, wir tun gut daran, jegliche Meldung über das Kriegsgeschehen von jeglicher Seite erst einmal unter Propagandavorbehalt zu stellen. Wenn wir bei jeder Meldung denken, es könnte so sein, es könnte aber auch reine Propaganda sein, ist unser Empörungsbereitschaft vielleicht nicht so leicht zu bewirtschaften, unser Vernichtungswille nicht so leicht zu wecken.

Kannst du Frieden machen … mit dem Krieg?

Wir könnten aber auch in der Betrachtung von Krieg und Vernichtungswillen innerlich einen Schritt zurücktreten, sozusagen das größere Bild ins Auge fassen. Ich hatte ja eingangs schon erwähnt, dass der Vernichtungswille, seine biologischen Grundlagen im ältesten Teil unseres Nervensystems, durchaus lebensförderlich sind. Diese Impulse dienen, der ursprünglichen Intention nach, dem Leben, dem Überleben.

Es könnte sich der Gedanke einstellen, dass auch Krieg und Vernichtungswille sich aus einem größeren Feld speist, einer Art übergreifendem Feld, welches eher geistiger Natur ist. Im Familienstellen erleben wir immer wieder das wirksame Feld der Herkunft, der Familie und der Sippe, welches meist unbewusst durch uns wirkt, im Guten wie im nicht so Guten. Und hier ist die Erfahrung, dass wir die negativen Wirkungen nur wenden können, wenn wir die Kräfte, die hier wirken, anerkennen. Dann zeigt sich mitunter eine gute Lösung. Solange wir diese Kräfte oder überhaupt dieses Feld, in das wir eingebunden sind, entweder bekämpfen oder nicht wahrhaben wollen, ist die gute Lösung meist versperrt.

Könnte dies auch für den Krieg gelten? Das wir ihn anerkennen müssen, als wirksame Kraft in einem größeren Feld, damit Frieden entstehen kann? Betrachten wir einmal andere Bereiche, in denen oft von einem „Krieg“ in übertragenem Sinne geredet wird. Der US-Präsident Richard Nixon hat in seiner zweiten Amtszeit den „Krieg gegen die Drogen“ ausgerufen. Und seit dem wird dieser Krieg gegen die Drogen durch verschiedenste staatliche Instanzen geführt. Mit welcher Wirkung? Seite einigen Jahren gibt es in den USA einen Opiatemissbrauch in einer Größenordnung, die alles bisher Gekannte in den Schatten stellt. Seit Jahrzehenten befindet sich die westliche Medizin mit großem Aufwand im Kampf gegen Krebs, auch hier wird manchmal von einem Krieg gegen den Krebs gesprochen. Mit welchem Resultat? Die Krebserkrankungen nehmen zu.
Erlöst und hier der Vernichtungswille? Würde die Anerkennung des Feindes, dass es ihn gibt und dass er dazu gehört, andere und bessere Lösungen eröffnen?

Wie geht es mir mit dieser Frage, kann ich mit dem Krieg meinen Frieden machen? Die Antwort ist: Mir fällt es schwer. Aber was ich auch bemerke: Wenn es mir gelingt, die Kriegführenden, die Soldaten, die Befehlshaber, die Entscheider und Initiatoren der Kriege als Menschen zu sehen, die in einem größeren Feld sich bewegen, geführt von Kräften, um die sie allenfalls ansatzweise wissen – in diesen Momenten gelingt es mir, sie in mein Wohlwollen einzuschließen. Ich stelle mir diese Menschen vor – und will Ihnen wohl. Ich nehme sie in den Blick, in meiner Vorstellung, ich nehme sie in mein Herz, unabhängig von ihren Taten, egal auf welcher Seite. Und dann wird in mir etwas friedlicher. Diese Haltung gelingt mir nicht, solange ich denke, diesen Krieg sollte es nicht geben, dass es seine Betreiber nicht geben sollte.

Kannst du Frieden machen mit dem Krieg in dir?

Gehen wir vielleicht noch etwas weiter nach innen in der Betrachtung. Wie sieht es mit dem Krieg in meinem inneren aus, mit meinem inneren Feind?

Viele Menschen kämpfen mit Seiten und Anteilen von sich selbst. Manche bekämpfen mit Eifer und rigider Verhaltenskontrolle gegen jedes Gramm Bauchspeck. Andere bekämpfen in sich eine Sucht. Oder eine Erkrankung, beispielsweise eine Krebserkrankung. Wieder andere hadern mit ihrer Faulheit oder mit ihrem mangelnden Ehrgeiz. Was auch immer es im Einzelnen sein mag: Diese inneren Kämpfe, der „Kampf gegen den inneren Schweinehund“, tragen sie nicht auch die Insignien des Vernichtungswillens? Irgendetwas sollte es am besten nicht geben, es soll verschwinden, es soll „mit Stumpf und Stiel ausgerottet“ werden.

Welche Erfolge erzielen wir in diesen Kämpfen? Und welche Misserfolge? Macht es uns friedlicher, wenn wir diejenigen Anteile und Bestrebungen in uns, die wir gerne „weg machen“ würden, zumindest anerkennen? Wenn wir sehen, dass sie da sind? Wenn wir uns vielleicht diesen inneren Anteilen sogar aufmerksam zuwenden, mit Interesse? Mit dem Wunsch, sie wirklich kennen zu lernen, statt ihnen das Existenzrecht abzusprechen?

Wäre die Welt – und auch das geistige Feld, dem wir angehören – friedlicher, wenn wir den Krieg in uns selber befrieden könnten?

Die Kraft, die aus dem Schweren und dem Leid kommen kann

Manche Menschen sind mit einem schweren Schicksal geschlagen, wie man so sagt. Dies kann eine schwere Erkrankung oder Behinderung sein. Oder das Erleben von Anfeindung und Verfolgung als teil einer ethnischen Minderheit. Oder jemand wird – ohne eigenes Zutun oder Verschulden – Opfer einer Gewalttat. Oder jemand wird von einem Naturereignis wie einem Vulkanausbruch oder einer Flut erfasst und verliert sein Heim, sein Gut und seine wirtschaftliche Existenz. Oder jemandem widerfährt ein schweres Unrecht, dass ungesühnt und ohne Ausgleich bleibt. Ich könnte die Liste möglicher schwerer Lebensumstände hier noch länger fortsetzen.

Was passiert mit einem solchen Menschen? Natürlich sind die Reaktionen darauf sehr individuell, je nach Persönlichkeit, Naturell und Temperament. Aber in vielen Fällen wirken sich diese schicksalhaften Begebenheiten beschwerend und einschränkend auf die betroffenen Personen aus, Menschen leiden und sind am vollen Lebensvollzug gehindert. Es gibt jedoch auch das Gegenteil, dass schwierige Lebensumstände oder traumatische Erlebnisse einen Menschen zu einer besonders starken Persönlichkeit formen, zu einem Menschen, der in einer besonderen Weise in sich und im Sein ruht und verankert ist. Oft strahlen solche Menschen eine besondere Güte, Weisheit und Zugewandtheit aus.

Das Gefühl der Stimmigkeit

Der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky beschäftigte sich mit der Gesundheit (in einem weiten Sinn, also nicht nur körperlich sondern auch seelisch, psychisch und geistig) unter anderem von Überlebenden der Konzentrationslager des Nationalsozialismus. Es zeigte sich, wie zu erwarten war, dass ein Teil dieser Menschen traumatisch belastet war während dagegen ein anderer Teil nicht nur einfach „gesund“, sondern gerade besonders ausgeprägt gut im Leben verwurzelt waren, das Leben besonders freudvoll und sinnvoll erlebten. Antonovsky interessierte sich dann besonders für diese zweite Gruppe. Was macht hier den Unterschied? Und die Antwort, die er fand: Diese Menschen hatten – nicht nur trotz, sondern gerade wegen ihrer schweren Schicksale – etwas, was er „sense of coherence“ nannte. Es handelt sich hier um ein Gefühl, oder wörtlich um einen Sinn dafür, dass in diesen Beschwernissen des eigenen Lebens ein tieferer Sinn verborgen liegt, den man vielleicht nicht immer benennen kann, der aber empfunden werden kann.

Ähnlich entwickelte der Psychiater Viktor Frankl, selber Überlebender mehrerer Konzentrationslager, während der größte Teil seiner Familie in Konzentrationslagern ermordet wurde, aus dieser Erfahrung heraus die sog. Logotherapie[1]. Auch hier geht es zentral darum, dass der Mensch durch die Erfahrung von Leid, Schuld und Schicksal hindurch einen tieferen Sinn, ja vielleicht auch so etwas wie einen persönlichen inneren Auftrag entdecken kann.

Und tatsächlich kann man oft beobachten, dass Menschen mit einem schweren Schicksal, wenn sie es gut verarbeitet haben, ein größeres seelisches Gewicht haben. Und wenn man sie vergleicht mit Menschen, die ein leichtes und von schicksalhaften Ereignissen unbeschwertes Leben hatten, dann wirken Letztere wie seelische „Leichtgewichte“, auf der seelischen Ebene ist da weniger Substanz.

Es erscheint paradox, aber es scheint so, dass unser Gefühl für Stimmigkeit und Sinnhaftigkeit des Lebens gerade dann besonders gestärkt kann, wenn die Sinnhaftigkeit durch Schicksal einmal verloren gegangen und maximal erschüttert wurde, dann aber wieder gefunden werden konnte. Ein persönlicher Sinn im Leben kann gerade durch den vorübergehenden Verlust danach besonders deutlich vernehmbar in uns wirken.

Das Anlehnen an schicksalshafte Ereignisse

Das erste ;al stieß ich im Rahmen einer Aufstellung auf diesen Prozess bei einem Mann mit einer schweren und sehr einschränkenden chronischen Erkrankung. Ich habe dann die Krankheit aufgestellt, zunächst in dem vagen Impuls, diesem Mann die Krankheit gegenüber zu stellen und vielleicht auch die Krankheit eine bestimmten Satz sagen zu lassen. Aber schon beim Hereinführen der Stellvertreterperson in das Feld wurde deutlich, der Platz gegenüber ist nicht passend, die Krankheit musste hinter die Person gestellt werden. Und dann entwickelte sich die Aufstellung – ohne Worte – so, dass die Krankheit noch näher an diesen Mann heranging, bis sie unmittelbar hinter ihm stand. Als der Mann die Krankheit hinter sich fühlte, lehnte er sich ein wenig zurück. Er lehnte sich leicht an die Krankheit an. Dann tat er ein paar tiefe Atemzüge, seufzte – und plötzlich wurden sein Antlitz, seine Gesichtszüge, friedlich. Er war im Frieden, angelehnt an seine Krankheit.

Ähnliche Bewegungen habe ich dann später auch in anderen Aufstellungen beobachten können, etwa bei sexuellem Missbrauch, wenn der Missbrauch (nicht etwas der Täter!) aufgestellt wurde.

Wir verstehen es nicht wirklich, aber es scheint so zu sein, dass ein schweres Schicksal eine besondere Kraft vermitteln kann, wenn ich mich diesem Schicksal anvertraue, mit an es anlehne. Dann kann es eine segensreiche Wirkung haben, allerdings unter Verzicht auf jegliches sich Beklagen über dieses Schicksal.

Bert Hellinger hat einmal mit einer querschnittsgelähmten Frau im Rollstuhl gearbeitet, die sehr verbittert über ihre Querschnittlähmung war. Er hat sie dann aufgefordert, einmal die Augen zu schließen und ihr gesamtes Leben mit der Querschnittlähmung noch einmal innerlich zu betrachten. Nach einer Weile, nachdem sie damit durch war, schlug er ihr vor, noch einmal die Augen zu schließen und sich ihr Leben ohne die Querschnittlähmung vorzustellen, es vor dem geistigen Auge ablaufen zu lassen. Dann stellte er die Frage: „Welches der beiden Leben ist kostbarer?“
Die Frau reagierte zunächst mit Widerwillen auf diese Frage, dann ließ sie sich aber darauf ein. In ihrem Gesicht war eine zeitlang ein innerer Kampf zu beobachten. Dann sagte sie: „Dieses Leben ist kostbarer“ und die Augen strahlten dabei.

[1] Abgeleitet von „Logos“, einem Wort aus dem Altgriechischen, dass in etwa „göttliche Vernunft“ oder „umfassender Sinn“ bezeichnet.

Von den langen Folgen des Krieges

Kürzlich hörte ich von einem Heilpraktiker, der im Bereich der Energie- und Informationsmedizin arbeitet, eine Fallgeschichte. Es ging um einen jungen Mann, dessen Gesicht durch eine extreme Form von Akne regelrecht entstellt war. Alle medizinischen Bemühungen waren erfolglos und er war verzweifelt und trug sich mit Suizidgedanken.

Der Heilpraktiker fragte nach seiner Familiengeschichte und es fiel ihm auf, dass bei der Erwähnung des einen Großvaters die Stimme des jungen Mannes verändert war. Er frage nach und erhielt zur Antwort, über diesen Großvater wüsste er wenig, er habe ihn nicht kennen gelernt, der Großvater sei im zweiten Weltkrieg als Soldat gefallen. Der Heilpraktiker trug ihm auf, sich in der Familie nach diesem Großvater und seinem Schicksal zu erkundigen. Es stellte sich heraus, dass dieser Großvater getötet wurde, als ihm ein Schrapnellgeschoss buchstäblich das Gesicht zerfetzte.

Hier war nun eine offensichtliche Verbindung zur Akne des jungen Mannes, welche sein Gesicht verunstaltete. Im Rahmen der Behandlung kam der junge Mann mit dem Großvater in Verbindung, er träumte von ihm und seinem Tod, trauerte und weinte um ihn. Innerhalb von zwei Monaten heilte die Akneerkrankung aus.

Dies ist ein besonders dramatisches und illustratives Beispiel dafür wie Krieg und andere schicksalshafte Ereignisse sich in folgenden Generationen auswirken können. Es muss nicht immer (und tut es meist auch nicht) diese Dramatik und diese lebhaft-bildliche Erscheinungsform annehmen. Häufiger wirk es sich eher in einem grundlegenden Lebensgefühl der Nachgeborenen aus. Aber dieses Phänomen, dass die Schicksale der Vorfahren in den Nachgeborenen weiterleben, sieht man im Familienstellen recht häufig. Ebenso ist es nicht untypisch, dass in der Auswirkung eine oder zwei Generationen übersprungen werden.

Bert Hellinger hat dies immer so interpretiert, dass die Nachgeborenen von einem größeren seelischem Prozess erfasst werden, den wir bestenfalls ansatzweise verstehen, mit dem Ziel, an die schweren Schicksale in der Herkunftsfamilie zu erinnern, wenn sie vergessen oder nicht gewürdigt sind. Er sprach in diesen Zusammenhängen oft in der Formulierung, hier nähme die „große Seele“ jemanden „in Dienst“ um etwas sonst Verborgenes sichtbar zu machen.

Man möchte meinen, dies sei aber nicht gerecht. Womit hat etwa der junge Mann mit der extremen Akne es „verdient“, hier zum Erinnerungsträger zu werden? Er trägt ja keine persönliche Verantwortung am damaligen Geschehen.
Solche Fragen führen meines Erachtens nach in die Irre. Warum hier bestimmte Familienmitglieder ausgewählt werden, warum es in der Enkelgeneration auftritt und nicht etwa in der Kindergeneration, all dies sind müßige Fragen, die versuchen, eines großen Mysteriums in erklärender Weise habhaft zu werden. Dieser Versuch scheitert, es bleibt ein Mysterium. Und vor der Größe des Mysteriums können wir uns nur verneigen. Und wir können, im kleinen und beschränkten menschlichem Rahmen, uns um Heilung bemühen. Die Heilung bedeutet eigentlich immer die Anerkennung des Schicksals, so wie es war. Und die Trauer um die davon Betroffenen. Wenn wir uns davon anrühren lassen, kann etwas heilen.

Die Aktualität des Krieges

Ich schreibe diesen Beitrag zu einer Zeit, in welcher der Krieg in seiner Realität wieder näher in unser alltägliches Bewusstsein rückt. Nicht, dass der Krieg vorher tatsächlich abwesend gewesen wäre. Er klopft lediglich vernehmlich an die Türen unseres Bewusstseins durch die aktuellen Geschehnisse in der Ukraine.

Derzeit wissen wir nicht, welches Eskalationspotential hier besteht. Aber wir sind mit der Realität des Krieges konfrontiert, es ist nicht mehr irgendwo weit weg, etwas was in den Nachrichten wenn überhaupt, dann nur am Rande aufscheint.

Sicher ist eines: Dieser Krieg wird viel Leid verursachen. Er wird Tote, Verletzte, Verstümmelte zur Folge haben. Er wird Lücken in Familien reißen und Lebensgrundlagen zerstören. Das ist die unmittelbare Folge des Krieges. Und er wird auch noch in die nächsten Generationen hinein wirken, auch dies ist bereits jetzt sicher.

Goethe lässt im Faust im Rahmen der Osterspaziergangsszene, die ja insgesamt von der Lust am Leben geprägt ist („zufrieden jauchzet Groß und Klein / hier bin ich Mensch, hier darf ich sein“) einen Bürger sagen:

„Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus.“

Diese naiv-unbefangene Haltung dem Krieg gegenüber, den es ganz weit weg irgendwie und irgendwo noch gibt, mit dem wir aber nichts zu tun haben, ist aktuell kaum mehr möglich. Sie, diese Ansicht, war immer eine Illusion.

Der Krieg und der Frieden in uns

Ich möchte einen etwas verwegenen Gedanken anfügen. Leo Tolstoi wird das Zitat zugeschrieben: „Solange es Schlachthöfe gibt, wird es Schlachtfelder geben.“ Er meint damit: Die Art, wie wir mit anderen empfindungsfähigen Geschöpfen umgehen, prägt die Art, wie wir untereinander umgehen.

In einem ähnlichem Sinne scheint mir: Solange wie wir Kriege in unserem Inneren führen, wird es auch im Äußeren Kriege geben. Und den Krieg im Inneren führen wir, in unterschiedlicher Intensität und Abstufung, immer dann, wenn wir irgendetwas an uns nicht haben wollen, nicht wahr haben wollen, weg bekommen möchten. Viele Bemühungen um „Selbstverbesserung“ nehmen mitunter diese Form an, dass Krieg gegen einen Teil in mir geführt wird, mit geringem langfristigem Erfolg.

Ich weiß nicht, ob es wirklich so stimmt. Aber doch scheint es mir: Wenn wir es schaffen würden, uns mit uns selber zu versöhnen, mit allen Anteilen in uns, auch mit dem Schatten und dem Feind in uns, dann wäre die Chance auf Frieden in den äußeren Verhältnissen größer. Dies aber ist ein lebenslanges Unterfangen. Wir könnten die Kriege im Außen als Erinnerung daran nehmen.

Was eine Aufstellung nicht kann (und was man auch nicht versuchen sollte)

Vor einigen Jahren hatte ich ein Erlebnis, als jemand über eine Aufstellung erzählte, welches mich unangenehm berührte. Eine Frau berichtete, sie vermisste ein bestimmtes Schmuckstück, dass neben dem materiellen Wert einen noch viel größeren ideellen Wert als Erbstück darstellte. Und sie hatte nun ihre polnische Putzfrau im Verdacht, dieses Schmuckstück entwendet zu haben. Sie berichtete, sie habe zu dieser Frage eine Aufstellung durchführen lassen, um Gewissheit über diesen Verdacht zu erhalten. Ich war –  so erinnere ich noch lebhaft – milde schockiert. Schockiert einerseits, wie man überhaupt auf die Idee kommen kann, ein solches Anliegen an eine Aufstellung heranzutragen aber noch mehr, weil die Leiterin oder der Leiter dieser Aufstellungsveranstaltung das Anliegen nicht rundweg abgelehnt hat.

Es war zunächst einmal ein starkes, ein eindeutiges Gefühl, dass die Klärung eines strafrechtlichen Vorwurfes nichts in einer Aufstellung zu suchen hätte. Etwas schwieriger gestaltet es sich schon, stringent zu begründen, warum nicht. Aber genau dies will ich in diesem Beitrag versuchen.

Zunächst einmal geht es in (Familien)aufstellungen um seelische Bewegungen und Kräfte, Dynamiken. Diese seelischen Bewegungen haben meist mit der Bindung an und der Zugehörigkeit zu für uns wichtigen Personen, besonders aus unserem Herkunftssystem, zu tun. Die seelischen Kräfte und Dynamiken die über eine Aufstellung sichtbar gemacht werden können, dienen der Liebe zwischen den Beteiligten und der Würdigung aller, die dazu gehören – unabhängig von ihren Taten.

Zwar erweisen sich oft die Wahrnehmungen der Stellvertreter in einer Aufstellung als erstaunlich „hellsichtig“ in der Weise, dass die Anliegengeber vielleicht sagen „ja, genau in diesem Tonfall hat der Onkel Otto immer geredet“ oder „das war exakt die Körperhaltung von meiner Großmutter mütterlicherseits“. Aber es kann noch dramatischer sein. Ich habe es einmal in einer Aufstellung erlebt, dass eine Teilnehmerin der Stellvertretung für eine Vorfahrin plötzlich in Atemnot geriet und sich dem Ersticken nahe fühlte, sie hatte sichtbar Mühe, Luft zu holen. Erst später stellte sich heraus, dass die Person, für die sie stand, als Flüchtling auf der MS Gustloff in der Endphase des zweiten Weltkrieges mit diesem Schiff untergegangen und (vermutlich) ertrunken ist.

Solche sehr dramatische Erlebnisse sind zwar selten, kommen aber vor. Und dies hat offenbar bei manchen Menschen die Vorstellung erzeugt, Aufstellungen hätten eine „orakelhafte“ Qualität, man könne damit Vorgänge beobachten, bei denen man räumlich und zeitlich nicht anwesend war.
Meiner Erfahrung nach haben Aufstellungen diese Qualität nicht. Sie erlauben zwar manchmal einen Blick „hinter den Schleier“ aber nur in so weit, wie es wirklich dem seelischem Anliegen dient. Im Fall der vermutlich mit dem Untergang der MS Gustloff untergegangen Ahnin diente die Dramatik der Situation der Würdigung des schweren Schicksals und hatte in diesem Zusammenhang eine seelische Funktion für die Person, für welche die Aufstellung durchgeführt wurde.

Die Seele interessiert sich – wenn man  einmal so von ihr reden wollte, als wäre sie eine Person – durchaus dafür, dass vergangen Personen und ihre Schicksale nicht vergessen werden. Sie interessiert sich aber dagegen sehr wenig für Besitz und Eigentum an sich. Die Seele interessiert sich also nicht dafür, ob eine bestimmte Person tatsächlich mein Schmuckstück entwendet hat, um auf das Eingangsbeispiel zurückzukommen. Sie würde sich aber wahrscheinlich schon dafür interessieren, welche Beziehung ich zur Erblasserin des Schmuckstücks hatte, was diese Person für mich bedeutet hat und dergleichen. Auf solche Fragen würde man in einer Aufstellung Hinweise bekommen, aber nicht auf die Frage, ob sich jemand dieses Schmuckstück angeeignet hatte und wenn ja, wer?

Um noch ein anderes, hier jetzt gedanklich konstruiertes Beispiel zu bemühen: Nehmen wir an, eine Ehefrau hat den Verdacht, dass ihr Ehemann eine uneheliche sexuelle Beziehung zur Nachbarin unterhält. Könnte man so etwas aufstellen? Ja, könnte man. Aber nicht mit dem Ziel, danach zu wissen, ob der Verdacht richtig ist oder nicht. Es könnte sein, dass sich in der Aufstellung herausstellt, die Frau steht innerlich treu zu ihrer Mutter und ihrer Großmutter, die beide von ihren Ehemännern betrogen wurden. Dies wäre hier das entscheidende seelische Phänomen, diese Verbindung zu voran gegangen Frauen, denen sie ihre Existenz verdankt.

Diese Verbindung, diese Treue, dieses sich innerlich (wenn auch völlig unbewusst) sagen „ich mache es wie du“ oder auch in der Variante „ich mache es für dich“, ist auf der seelischen Ebene von Interesse. Ob die fragliche Frau nun die Tradition fortsetzt, in dem sie genau wie ihre Vorgängerinnen sich einen Ehemann aussucht, der tatsächlich untreu ist oder zumindest Anlass zum Verdacht bietet? Oder ob die fragliche Frau hier eher stellvertretend für z.B. ihre Mutter handelt, in dem sie die Vorwürfe, die seitens der Mutter an den Vater angemessen wären, sozusagen stellvertretend an ihren Ehemann richtet? Für solche Fragen könnte man in einer Aufstellung durchaus Hinweise gewinnen. Aber nicht für die Frage: Ist mein Verdacht wirklich berechtigt? Hat er also oder hat er nicht? Beide seelischen Dynamiken können in unserer gedachten Frau wirken – und zwar sowohl wenn ihr Ehemann tatsächlich untreu sein sollte wie auch wenn er es nicht wäre. Auf diese Frage, bekommen wir in der Aufstellung keine Antwort.

Aus meiner Sicht ist das auch gut so. Aufstellungen können dazu beitragen, mich aus unbewussten Verstrickungen mit den Schicksalen meiner Ahnen zu lösen, in dem ich diese Schicksale anerkenne und würdige und damit frei werde, für den eigenen Lebensvollzug.
Zu diesem eigenen Lebensvollzug würde es im (ausgedachten) Beispiel dann eben auch gehören, dass die Frau ihren Mut zusammen nimmt und mit ihrem Mann spricht über ihren Verdacht und über die Hinweise, die sie wahrnimmt oder meint wahrzunehmen. Mit offenen Ausgang. Das kann und soll eine Aufstellung niemandem abnehmen.

Das Neue

Dieser Blogbeitrag ist geschrieben in der Zeit "zwischen den Jahren", wie man sagt, also in der Zeit zwischen Weihnachten und Sylvester. Es ist dies eine Zeit, wo das neue Jahr vernehmlich vor der Tür steht und das alte Jahr schon so gut wie vergangen ist. Vielleicht ziehen wir Bilanz bezogen auf das alte Jahr und entwickeln eine Erwartung an das neue Jahr.

Das neue Jahr beginnt in unserem Kulturraum am 1. Januar. Dies ist eine recht willkürliche Setzung des gregorianischen Kalenders. Andere Kulturen haben für den Beginn des neuen Jahres andere Daten, wie etwa China, wo der Beginn des neuen Jahres zwischen dem 21. Januar und 21. Februar liegt, je nach dem, wann in dieser Zeit ein Vollmond ist.
Stimmiger in Bezug auf die Zyklen eines Jahreskreislaufes wäre sicherlich entweder die Wintersonnenwende am 21. Dezember, also die Rückkehr des Lichts nach dem dunkelsten Tag als Neujahrsbeginn zu nehmen oder den Frühlingsanfang um den 21. März, wie auch in der astrologischen Betrachtung mit dem Eintritt der Sonne in das Tierkreiszeichen Widder ein neuer Jahreszyklus startet.

Unbeschadet der eher willkürlichen Setzung am 1. Januar wird aber doch der Beginn eines neuen Jahres als ein bedeutsamer Einschnitt und Wechsel erlebt. Mit diesem Tag beginnt etwas neues, ein neues Jahr, ein neuer Zyklus der Monate und Jahreszeiten.

Wie begegnen wir nun dem Neuen? Das Neue hat seinen besonderen Reiz, weil es frisch ist und noch unberührt, weil es noch offen ist für Gestaltung. In dem bekannten Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse heißt es:
         „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, 
         Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“

Was macht diesen Zauber aus? Nun, sicherlich ist es die Unverbrauchtheit, die uns im Neuen begegnet. Das Neue, so scheint es, eröffnet ein Feld von Möglichkeiten, gerade weil es noch nicht zu Ende geformt und somit festgelegt ist, sondern offen. So wie bei einem neugeborenen Kind zwar nicht alles, aber doch vieles noch offen ist bezüglich seines Lebensweges.

Und wie begrüßen wir am Besten einen neuen Menschen, ein neues Erdenwesen? In dem wir es anschauen mit dem Gedanken: „Sei Willkommen!“. Sei willkommen, du Mensch unter Milliarden Menschen, von denen keiner genau so ist wie du. Sei Willkommen, du Mensch, wie es in der ganzen Menschheitsgeschichte nie einen Menschen genau so gegeben hat und auch nie wieder einen genau so geben wird. Dies wäre, so scheint mir, die angemessene Begrüßung für ein Neugeborenes aber auch für jedes Neue in unserem Leben. Mit freudiger Neugier, was aus diesem Neuen wohl erwachsen mag.

Der Abschied

Aber alles Neue ist nicht nur neu, es trägt auch die Insignien des Alten, aus dem es erwachsen ist, in sich. Der neue Baum trägt in sich das Vermächtnis des Samens eines alten Baumes, aus dem er entstand. Der neu geborene Mensch ist in allem ganz eigen und einzigartig und doch steht er auf den Schultern der Ahnen, entstand durch die Eltern mit ihrer Lebensgeschichte und Kultur und diese wiederum wurden wer sie sind durch ihre Eltern und so weiter, bis in die Tiefe der Zeit hinein. Auch ein neues Jahr, mit allem was es für uns persönlich bringen mag, erhebt sich aus dem Fluss der vergangenen Jahre und auf der Grundlage dessen, was wir in den vergangen Jahren erreicht haben. Das Neue erwächst aus dem Alten, muss dieses Alte aber auch hinter sich zurück lassen.

Und auch bei einem neuen Jahr, so scheint mir, setzt das vollständige Einswerden mit dem Zauber des Anfangs, von dem Hermann Hesse redet, einen Abschied voraus. Das Alte, hier das alte Jahr, will würdig verabschiedet werden. Wie machen wir das? Am Besten mit einem Dank, mit Dankbarkeit. Dankbarkeit all dem gegenüber, was gut war im alten Jahr, was uns genährt, geschützt und genützt hat. Aber auch in Dankbarkeit den Schwierigkeiten, Herausforderungen und Niederlagen gegenüber. Auch sie haben uns geformt zu der Person, die wir jetzt sind. Und gleichzeitig verabschieden wir uns – nach Möglichkeit – mit leichtem Herzen, um uns dem Neuen ganz zuwenden zu können. Bei Hesse heißt es in dem angesprochenen Gedicht ein paar Zeilen vorher:
         „Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe      
         Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,  
         Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern      
         In andre, neue Bindungen zu geben.“

Diese Spannung zwischen Abschied und Neubeginn wohnt aber natürlich nicht nur dem Jahreswechsel inne. Genau genommen ist es der Rhythmus des Lebens selber, der in jedem Augenblick, genau betrachtet mit jedem Atemzug, von diesem Zusammenhang von Abschied und Neubeginn geprägt ist. Mit jedem Ausatmen verabschieden wir einen bis dahin noch gegenwärtigen Moment, der damit zur Vergangenheit wird, um mit dem nächsten Atemzug des Einatmens dem nächsten gegenwärtigen Moment zu begegnen, sich in seine „neue Bindungen zu geben“, wie es bei Hesse heißt. Dies scheint mir die eigentliche Bedeutung der Lehre vom Leben im großen JETZT zu sein. Was war ist Vergangenheit und nur noch Geschichte, war wird ist ein Rätsel. Und dazwischen, in diesem kurzen Zwischenraum, leben wir. Im gegenwärtigen Moment. Immer am Berührungspunkt von Abschied und Neubeginn – in jedem Moment.

Vielleicht wäre es eine hilfreiche Übung, wenn wir es denn könnten, wenn wir zumindest jedem neuen Tag, direkt nach dem Aufwachen, so begegnen könnten, wie wir es vielleicht am Neujahrsmorgen mit dem neuen Jahr noch machen. Wir würden uns bewusst, dass dieser neue Tag frisch und noch unverbraucht ist, dass ihm der Zauber des neuen Anfangs inne wohnt.

Die Stufen (Hermann Hesse, Mai 1941)

Da das erwähnte Gedicht von Hermann Hesse mit dem Titel „Stufen“ tief in der Seele etwas anrührt, sei es hier noch einmal ganz zitiert:

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Es war genau so wie es war – und jetzt darf es gut sein

Dies ist der Blogbeitrag für den November 2021. Der November ist in vielerlei Hinsicht der Totenmonat. Ich hatte dies im Beitrag vom November 2018 näher erläutert und im Beitrag vom November 2019 daran anknüpfend über den Umgang mit den Toten in unserem Leben geschrieben. Hier hatte ich angeführt, dass die Begegnung mit den Toten im Rahmen einer Aufstellung in den meisten Fällen sich in drei groben Schritten vollzieht:

  1. Die Hinwendung zu den Toten
  2. Der Kontakt mit den Toten
  3. Die Abwendung von den Toten und die Zuwendung zum eigenen Lebensvollzug

In gewisser Weise gilt diese Bewegungsform nicht nur Themen, die mit den Toten zu tun haben, sondern in den meisten Aufstellungen, unabhängig vom Thema.

Wenn es etwas Belastendes aus der Vergangenheit gibt, wenden wir uns zunächst dem – meist bislang Verdrängtem – mit gesammelter Aufmerksamkeit zu. Dann gehen wir in Kontakt mit dem, was schlimm war. Und dann lassen wir es hinter uns mit der Perspektive auf die Gegenwart und die nächsten Schritte in unserem Leben.

Die Hinwendung

Ein bekannter Psychotherapeut hat einmal gesagt, die Traumata in unserem Leben oder wo etwas gefehlt hat oder nicht genug vom Nährenden oder zuviel vom Zehrenden war, führen nicht deshalb zu Unglück oder Krankheit im jetzigen Leben, weil es so war, wie es war. Sondern weil wir in unserem jetzigen Leben an den damals gebahnten Reaktionsmustern festhalten, die damals sinnvoll und oft überlebenssichernd waren, in der Gegenwart aber dysfunktional sind. Und diese alten Reaktionsmuster dienen immer der Verdrängung, was einen großen Teil der Lebensenergie kostet. Dieser Verlust der Lebensenergie macht uns krank oder unglücklich, nicht das Ereignis selber.

In der Hinwendung zu dem, was zu wenig war in dem, was nährt und nützt oder zuviel war von dem, was zehrt und schadet, verlassen wir die Verdrängung als Bewältigungsstrategie. Wir bestätigen: Es war genau so wie es war!

Der Kontakt mit dem Schlimmen

Der zweite Schritt, der häufig mit dem ersten fast zusammen fällt, ist dann, dem Erkanntem und Anerkanntem eine Wertung zu geben. Wie war es damals für mich? Wir sagen nach dem „Es war genau so“ als Nachsatz vielleicht „Und es war schlimm für mich, damals“ wenn es eben um etwas Erlebtes geht, was schlimm erlebt wurde. Das „Anerkennen was ist“ bezieht sich also nicht nur auf Tatbestände, wie sie waren, sondern wie es für mich war. Damit wird ein Gefühl erinnert und wieder aktualisiert, ein damaliger bestimmter Erregungszustand im Nervensystem. Auch dies geschieht mit der Haltung „es war genau so wie es eben war“.

Die Abwendung von der Vergangenheit

Und in einem letzen Schritt orientieren wir uns wieder in der Gegenwart, im Hier und Jetzt. Wir nehmen unser Leben in den Blick und den hier fälligen nächsten Schritt. Wir bemerken dabei, dass wir jetzt andere Möglichkeiten haben als damals, in der Vergangenheit. Wenn etwa das Belastende aus dem Familiensystem kam und uns als kleines Kind betroffen hat, so hatten wir damals, als kleines Kind, wenig Möglichkeiten. Kinder sind sehr stark angewiesen auf Schutz und Versorgung, je kleiner, desto mehr. Als Erwachsene haben wir andere Möglichkeiten. Wir können das Verlassen, was uns schädigt und aktiv auf das zugehen, was und nährt und nützt oder auch gegen das angehen, was uns bedroht.

Die Heilung von Traumatisierungen

Es ist nun nicht so, dass die drei beschriebenen Schritte eine Art „Rezeptur“ für eine Aufstellung sind, dass man also für die Durchführung einer Aufstellung diese drei Schritte so planen könnte. Tatsächlich geht man ja in der Leitung einer Aufstellung so vor, dass man erst einmal abwartet, was sich zeigt und dann damit arbeitet mit der Frage: Was ist hier der nächste Schritt, der getan werden will oder was ist der Satz, der gesagt werden will? Erst in der Rückschau stellt sich heraus, dass sich viele Aufstellungen in ihrem Verlauf im Nachhinein als Abfolge dieser drei groben Schritte beschreiben ließen, auch wenn dies im Moment der Durchführung einer Aufstellung nicht im Bewusstsein war.

Wir hatten gesagt, dass schwierige Bedingungen in der Vergangenheit uns in der Gegenwart Probleme machen können, nicht weil die Vergangenheit so war wie sie war, sondern weil wir in unserem Nervensystem Reaktionsmuster gebahnt haben, die damals die vielleicht einzige Möglichkeit waren, die jetzt aber hinderlich sind. Das reine Verdrängen, wie es damals war, heilt nicht. Was heilt wäre, sich dem Damals noch einmal zuzuwenden, es noch einmal in seinem spezifischen Erregungsmuster zu erleben und dabei gleichzeitig zu erleben, dass die Situation sich geändert hat, jetzt nicht mehr dieselbe ist.

Warum brauchen wir aber diese Bewegungen, uns den alten Verletzungen von damals noch einmal – erkennend und anerkennend – zuzuwenden und das alte Erregungsmuster noch einmal neu zu fühlen? Es scheint so zu sein, dass ein Umlernen in der Reaktion der alten Erregungsmuster am besten gelingt, wenn genau dieses Erregungsmuster noch einmal neu erlebt wird, jetzt aber in einem geschützten und unterstützendem Kontext, in dem Ressourcen mobilisiert werden, die ich damals nicht hatte aber ja jetzt habe. Diese Gleichzeitigkeit beider Momente, der alten Erregung im Nervensystem und der Wahrnehmung der jetzt veränderten Situation mit anderen Möglichkeiten ist der Schlüssel. Ohne die Wahrnehmung des alten Erregungsmusters bleibt es entweder bei der Verdrängung oder bei einer rein kognitiven Erinnerung, die keine Kraft hat. Ohne den zweiten Teil, in der alten Erregung die jetzige Situation mit den neuen Möglichkeiten in einem unterstützenden Setting zu erleben, droht einen Retraumatisierung. Erst beides zusammen bringt die fundamentale Veränderung.

In der Traumatherapie geht man ähnliche Wege. Auch hier geht es darum, sich die Auslöser Ereignisse in der Vergangenheit noch einmal zu vergegenwärtigen, während man gleichzeitig in dem Gewahrsein bleibt, jetzt in einer geschützten, liebevoll unterstützenden und sicheren therapeutischen Umgebung zu sein. Die Erregung des Nervensystems aus dem Damals wird also nicht vermieden, sondern in einer bewältigbaren Intensität noch einmal neu aktiviert, aber gleichzeitig wird eine andere Art des Durchlaufes durch die Erregung und ihres Abbaus im Nervensystem gebahnt in dem Bewusstsein, dass ich jetzt sicher bin und andere Möglichkeiten der Bewältigung habe.

Auch hier könnte in einer Art Kurzformel sagen: Im Kern geht es darum, gleichzeitig zu sehen spüren, dass es genau so war wie es war (und dass es schlimm und überfordernd war) und dass es jetzt anders ist. Das Schlimme darf genau so wie es war gewesen sein. Und dann darf es gewesen sein. Und jetzt darf es gut sein.

Vaterliebe

Bruce Springsteen und seine E-Street-Band hatten während ihrer Europa-Tournee in den 80er Jahren ein Stück in ihrem Programm mit dem Titel „War (What is it good for? Absolutely nothing!).“ Ein Antikriegslied. Und zur Einleitung dieses Songs hat Bruce Springsteen auf den Konzerten immer eine persönliche Geschichte erzählt darüber, wie es war in den 60ern des letzten Jahrhunderts als Teenager aufzuwachsen „with war on TV every night“, also mit den Bildern vom Vietnamkrieg im Fernsehen jeden Abend. Diese persönliche Geschichte dient natürlich als Kontext für den nachfolgenden Song im Konzert und vordergründig handelt er eben vom Krieg bzw. von einer Antikriegshaltung. Aber die Geschichte erzählt noch etwas anderes, und darauf möchte ich hier das Augenmerk legen. Die Geschichte erzählt etwas von Vaterliebe.

Für diejenigen, die des Englischen halbwegs mächtig sind, empfehle ich, sich die folgende Audioaufnahme mit einer Länge von gut 4 Minuten erst einmal anzuhören, bevor man weiter liest.

Ich will es im Folgenden kurz nacherzählen, um auf meine Punkt zu kommen. Bruce Springsteen erzählt hier von den 60er Jahren, die Zeit in der er ein Teenager war. Und diese Zeit war in vielen Fällen geprägt von Konflikten und Auseinandersetzungen dieser Jugendlichen mit ihren Eltern und insbesondere mit den Vätern. Den Vätern gefiel oft vieles nicht an ihren Sprösslingen. Die langen Haare, die auch bei den jungen Männern Mode wurden, die Jeans-Kleidung, die Musik, die sie hörten und ihre politischen Einstellungen wie zum Beispiel eben auch die empörte Ablehnung des Vietnamkrieges durch die jüngere Generation.

Jedenfalls, so die Erzählung durch Bruce Springsteen, war es nicht nur so, dass sie jeden Abend den Vietnamkrieg im Fernsehen hatten. Er hatte auch jeden Abend Streit mit seinem Vater. Und in diesem Zusammenhang äußerte der Vater dann gelegentlich, er könne es gar nicht erwarten, bis Bruce zur Armee müsste. In der Armee würden sie ihm schon die Flausen austreiben und einen richtigen Mann aus ihm machen – und ihm die Haare schneiden, natürlich.

Nun war der Vietnamkrieg zumindest für die männlichen Heranwachsenden in der Zeit nicht nur etwas, was man im Fernsehen sieht. Es war eine reale nahe Zukunft. Damals gab es Wehrpflicht in den USA und viele junge Männer wurden mit gerade 18 Jahren eingezogen und zum Kriegsschauplatz Vietnam verbracht. Bruce Springsteen schildert das so, dass er es bei vielen jungen Männern in der Nachbarschaft beobachtet hat. Eines Tages waren sie bei den US-Streitkräften und nicht mehr da. Und, so sagt er, vielen kamen nicht mehr zurück. Und von denen, die zurückkamen, waren viele danach nicht mehr dieselben, hatten sich sehr verändert. Wie gesagt: Dieser Krieg im Fernsehen war keine Geschehen weit weg, sondern die mögliche Realität in der nahen Zukunft für die männlichen Heranwachsenden.
Und in dieser Situation wünscht sich sein Vater offenbar nicht sehnlicher, als das es für ihn, also den Sohn, möglichst bald so weit sein möge.

Und eines Tages ist es soweit. Er erhält seinen Musterungsbefehl. Er verlässt das elterliche Haus und treibt sich auf der Straße mit seinen gleichaltrigen Kumpels herum. Und alle haben Bammel. Die nächsten drei Tage bis zum Musterungstermin geht er nicht mehr nach Hause. Es wird wenig geschlafen, wahrscheinlich auch viel Alkohol und andere Drogen konsumiert in seiner Gruppe. Und die Frage ist: Was können wir tun, um nicht nach Vietnam zu müssen.

Nach der Musterung kommt er wieder nach Hause, nach dem er für drei Tage abwesend war, ohne Erklärung, ohne Abschied, ohne dass seine Eltern wussten, wo er war. Natürlich müssen wir annehmen, dass die Eltern in großer Sorge waren. Und zu Hause trifft er als erstes seinen Vater in der Küche. Es entwickelt sich das folgende kurze Gespräch:

Der Vater fragt: „Wo bist du gewesen?“
Der Sohn antwortet: „Ich war zu meinem Musterungstermin“.
Darauf der Vater: „Wie ist es ausgegangen?“
Der Sohn: „Sie haben mich nicht genommen.“
Darauf der Vater: „Das ist gut.“

Und hier ist sie: Die Vaterliebe. In diesem einfachen und kurzen Satz („that’s good“). Die ganzen Konflikte und Streitereien, der Wunsch, der Sohn möge möglichst bald zur Armee und damit in den Krieg müssen („I can’t wait till the army gets you!“), das spielt alles keine Rolle mehr, erweist sich als oberflächliches Geplänkel. In dem Moment, wo es konkret wird, bricht sie durch, ursprüngliche Liebe, hier die Liebe des Vaters zu seinem Sohn.

In Aufstellungen und auch hier in diesem Blog geht es oft um diese ursprüngliche Liebe und wie sie wieder in Fließen kommt, da wo sie blockiert ist. Und genau das passiert hier in dieser Geschichte. Mit drei einfachen Worten.

Für mich ist diese Geschichte eine Illustration für die Behauptung, dass diese ursprüngliche Liebe immer da ist, immer existiert, egal wie wenig es danach aussieht und egal, wie verschüttet sie erscheinen mag. Und wenn sie zu Tage tritt, ist es ein bewegendes Erlebnis.


PS: Um dem erwähnten Song ("War") auch Genüge zu tun: Hier ist eine Live-Aufnahme von 1985 mit ein wenig zeitgeschichtlicher Einrahmung:

Geschwisterliebe

In diesem Blog geht es häufiger um die sogenannten „ursprüngliche Liebe“. Um dieses Phänomen der ursprünglichen Liebe zu verstehen, ist es notwendig, sich beim Wort Liebe eine wenig zu befreien aus unseren Idealvorstellungen der romantischen Liebe, wie sie insbesondere in der Paarbeziehung aufscheint. Die ursprüngliche Liebe meint eine noch viel solidere Form der Bindung, es geht buchstäblich um die Existenz.

Die ursprüngliche Liebe meint in erster Linie die Verbundenheit der Eltern und der Kinder. Diese Bindung ist existenziell, weil das Kind nur über die Eltern ins Leben kommt, also existiert. Dieses Band bleibt bestehen, egal was an späteren Gefühlsaufladungen überlagernd dazu kommt. Diese Sichtweise bedeutet auch, dass diese ursprüngliche Liebe immer da ist, auch wenn es eher so scheint, als sei die Beziehung durch Wut, Ablehnung, Kränkung oder Kritik geprägt. Letzteres sind aber eher sekundäre Reaktionen darauf, dass die ursprüngliche Liebe nicht frei fließen kann oder konnte.

Es gibt aber noch eine andere Form dieser ursprünglichen Liebe, die (fast) so stark sein kann wie die Verbindung zwischen Eltern und Kindern und die manchmal auch das ein wenig ersetzen kann, was vielleicht in der Beziehung zu den Eltern schmerzlich vermisst wird: Die Liebe zwischen Geschwistern.

Die negative Seite der Geschwisterliebe

Ich erinnere mich an eine Aufstellung, in der die Mutter der Fokusperson (der Person mit dem Anliegen für die Aufstellung) ganz kalt und erstarrt war. Sie war nicht seelisch zu erreichen, weder von ihren Kindern noch von ihrem Mann noch von ihrer Mutter, sie war innerlich abwesend. Auf die Frage „Ist etwas schicksalhaftes bei deiner Mutter passiert?“ gab es die Information, diese habe als Kind von vier Jahren ihren einen Jahr jüngeren Bruder bei einem Unfall verloren. Es wurde deutlich, dass diese Mutter mit ihrem toten Bruder inniglich verbunden blieb. Sie folgte ihm sozusagen innerlich nach in den Tod, obwohl sie äußerlich lebte, heiratete, Kinder bekam usw.

Diese Liebe, hier zwischen Schwester und Bruder, hatte genau die Qualität und Intensität, die wir im Rahmen der Aufstellungsarbeit als die ursprüngliche Liebe bezeichnen. Allerdings wirkte sich diese – schicksalshafte – lebenslange Bindung an den Bruder negativ aus, weil sie den Fluss der ursprüngliche Liebe zu den eigenen Kindern behinderte.

Die positive Seite der Geschwisterliebe

Auf der anderen Seite kann einen solche tiefe Geschwisterliebe sich auch hilfreich und fördernd auswirken und Prozesse ermöglichen, die einzeln vielleicht so nicht möglich sind.

So ist es in Aufstellungen oft ein kritischer, aber mitunter auch sehr schwieriger Punkt, dass die Kinder auf die Eltern zugehen, auf sie zugehen können. Manchmal scheitert diese Hinbewegung erst einmal oder gerät ins Stocken. Und hier zeigt sich in Aufstellung mitunter, dass diese Hinbewegung zusammen mit einem oder auch mit mehreren Geschwistern, die sich an der Hand nehmen und dann gemeinsam auf die Eltern zugehen, möglich ist. Dies erweist sich als unmittelbar segensreich und gleichzeitig sind die Kinder nicht vereinzelt, sondern aufgehoben und verbunden in ihrer Geschwisterreihe.

Bei solchen Szenen in einer Aufstellung kommt mir häufig das Märchen von Hänsel und Gretel in den Sinn, den beiden verlorenen und ausgesetzten Kindern, die aber immerhin noch einander haben und dadurch sowohl die Gefahren des Märchens meistern wie auch das Schicksal wenden können, so erzählt es zumindest das Märchen.

Mitunter sieht es in einer Aufstellung so aus, als ob eine solch innige Geschwisterbeziehung einen Mangel an Beziehung und emotionaler Wärme zu den Eltern lindern oder gar heilen könne. Solche Geschwister wirken dann emotional genährt und satt, auch wenn die Eltern aufgrund eigener seelischer Belastungen nur sehr eingeschränkt zur Verfügung stehen.

Oft findet man dieses Phänomen der Geschwisterliebe auch besonders intensiv bei Menschen, die Zwillingsgeschwister haben. Hier kann man oft beobachten in einer Aufstellung, dass ein Protagonist sich aufrichtet, in die volle Kraft und Größe kommt und einen unbefangenen Blick erhält wenn der andere Zwilling neben ihr oder ihm steht.

Wenn die Hinbewegung zu den Eltern nicht möglich ist

Jeder Mensch und allgemein jedes Lebewesen ist bedürftig. Ein Lebewesen bedarf bestimmter Dinge, um Leben zu können. Diese Dinge müssen wir nehmen. Ohne dieses Nehmen haben wir auch nichts zu geben. Unser Körper benötigt zum Beispiel Flüssigkeit und Nahrung. Diese müssen wir nehmen, wir müssen sie in uns aufnehmen. Ohne dieses Nehmen können wir nicht Geben, sind wir nicht leistungsfähig.

Wenn immer ein Bedarf, ein Bedürfnis da ist, muss zu seiner Befriedigung etwas genommen werden. Und zum Nehmen, zur Aufnahme dessen, was unser Bedürfnis stillt, müssen wir uns dort hin bewegen, wo das Bedürfnis gestillt werden kann. Es bedarf einer Hinbewegung zur Quelle, um zu nehmen.

Eine Grundtatsache, die im Familienstellen immer wieder deutlich wird, ist: Die Kinder nehmen von den Eltern. Weil die Kinder bedürftig sind und die Eltern die Quelle sind. Das ungeborene Kind im Mutterleib nimmt aus dem Körper der Mutter, uns zwar auf Gedeih und Verderb. (Wenn z.B. bei der Mutter eine Intoxikation mit Alkohol besteht, erfährt auch das Ungeboren eine solche Intoxikation. Es gibt hier für das Kind keine Wahl.) Nach der Geburt setzt die aktive Hinbewegung zur Quelle ein, die ein Bedürfnis stillen kann. Die Bewegung des Säuglings zur Mutterbrust ist eine solche ursprüngliche Hinbewegung.

Bei der Hinbewegung der Kinder zu den Eltern geht es aber nicht nur um die körperlichen Bedürfnisse. Auch im geistig-seelischen Bereich muss das Kind, um sich entwickeln zu können, nehmen von den Eltern. Dazu muss es sich auf die Eltern, die Quelle, hin bewegen, um nehmen zu können. Das ist ein aktiver, kein passiver Prozess.

Oft ist diese ursprüngliche Hinbewegung der Kinder zu den Eltern gestört. Dafür gibt es vielerlei Gründe und Ursachen, das Resultat bleibt aber gleich: Das Leben kann nicht voll von den Eltern genommen werden, so wie es von ihnen kommt und ohne Abstriche. Und dies führt zu einem eingeschränktem eigenen Lebensvollzug und oft zu Krankheiten. Im Rahmen von Familienaufstellungen ist es daher eine Grundfigur in den Bewegungen der Seele, diese Hinbewegung der Kinder zu den Eltern nachzuholen und zu heilen, wo sie ursprünglich gehemmt oder unterbrochen war. Wichtig ist dabei der Grundsatz, dass die Kinder auf die Eltern zugehen und nicht umgekehrt.

Mitunter erweist sich aber in einer Aufstellung, dass selbst diese nachträgliche und in gewisser symbolische Hinbewegung zu den Eltern nicht möglich ist. Die Hinbewegung scheitert auch in der Aufstellung. Manchmal ist für die Person, die aufstellt, nicht möglich, auf die Eltern oder auf einen Elternteil zu zu gehen. Die innere Hürde ist zu groß. Manchmal sind die Eltern oder ein Elternteil einfach nicht erreichbar auf der seelischen Ebene, sie sind wie abwesend, oft wirken sie versteinert. Manchmal entziehen sich auch Eltern oder Elternteile aktiv der Hinbewegung der Kinder. Man sieht dies in Aufstellungen, wenn die Stellvertreter der Eltern vor der Annäherung der Kinder zurückweichen, wie es manchmal vorkommt, wenn Kinder verlassen wurden oder ohne Not weggegeben wurden oder auch wenn bei Geburt eines Kindes nach einem gescheiterten Abtreibungsversuches.

In dem letztgenannten Fall scheitert die Hinbewegung, weil Eltern oder ein Elternteil sich dem entzieht. Das Kind wird verlassen oder zurückgewiesen, weil es den Plänen zur Selbstverwirklichung der Eltern im Wege steht, es ist also eine willkürliche Entscheidung seitens des Elternteils.
Dies muss unterschieden werden von frühen Trennungen zwischen Eltern (und insbesondere Müttern) von kleinen Kindern aufgrund schicksalshafter Ereignisse wie Tod, medizinischen Notlagen oder Krieg und Vertreibung. Die Seele des Kindes weiß um diesen Unterschied zwischen Schicksal und willkürlichen Entscheidungen.[1] Dieser Beitrag befasst sich mit den Wirkungen solcher Trennungen, die auf Willkürentscheidungen ohne Not beruhen.

Was bleibt? Das Leben!

Was bleibt für ein Kind in einem solchen Fall dann noch? Im Rahmen von Aufstellungen haben wir es ja mit einem Kind zu tun, das erwachsen ist. Aber im Erwachsenen lebt eben immer noch das bedürftige Kind. Was also bleibt für dieses innere Kind, wenn die Hinbewegung – auch symbolisch – nicht möglich ist? Was tatsächlich bleibt ist: Das Leben selber.

Wir hatten gesagt: Das Kind muss nehmen von den Eltern, es hat hier keine Wahl. Und das aller elementarste im Leben ist: Von meinen Eltern habe ich mein Leben. Ohne sie wäre ich nicht. Das überstrahlt alle anderen Umstände, wie auch immer sie gewesen sein mögen. Aber auch dieses Nehmen ist ein aktiver, kein passiver Prozess. Es ist zwar faktisch, zumindest auf der körperlichen Ebene schon passiert. Wenn ich lebe, dann lebe ich, weil es meine Eltern gab, so wie sie waren und sie mich gezeugt haben und ich auf die Welt gekommen bin, mit genau den Umständen, wie sie eben waren.
Aber dieser Umstand, der faktisch so ist, muss auch in gewissem Sinne geistig noch nachvollzogen werden. Die Frage dahinter ist: Kann ich „JA“ sagen zu meinem Leben, so wie es ist und wie es sich entwickelt hat in den Umständen, die waren, wie sie eben waren? Oder noch anders gefragt: Wenn ich mein Leben betrachte mit allen Einschränkungen und Beschwernissen und emotionalen Wunden – sage ich dann, es ist gut das ich lebe, auch mit diesen besonderen Schwierigkeiten? Oder wäre es besser, wenn ich nicht leben würde, weil die Bedingungen für dieses Leben zu defizitär waren, sie hätten anders sein sollen? Es zeigt sich oft, dass ohne dieses bewusste Nehmen des Lebens, so wie es ist und wie es war, der Lebensvollzug eingeschränkt bleibt.

Was noch bleibt: Die Narben!

Die bisherige Antwort, auf die Frage, was bleibt für das Kind, wenn die liebevolle Hinbewegung zu den Eltern nicht möglich ist, es bleibe ja immer noch das Leben selber, ist aber unvollständig. Sie muss ergänzt werden um einen anderen Aspekt. Was nämlich noch bleibt, ist der Schmerz und die Erinnerung an den Schmerz ganz tief in der Psyche und auch in der Seele. Wenn z.B. ein neugeborenes Kind noch vor der Geburt von seinem Vater verlassen wird, der mit diesem Kind und dieser Familie nichts zu tun haben will, dann empfängt es eine Botschaft, die es ein Leben lang begleitet und die sich in vielfältiger Weise im späteren Leben auswirken kann, insbesondere wenn es um Vertrauen und Selbstliebe geht.

Und auch dieser fundamentale Schmerz der Verlassenheit und des Nich-Gewollt-Werdens, den das kleine Kind als Prägung erfährt (erneut: ohne eine Wahl dabei zu haben) muss gewürdigt werden.
Es kann sich als notwendig erweisen, im späteren Erwachsenenleben diesem Schmerz, der damit verbundenen Trauer oder auch Wut, einen Raum zu geben, in dem dieser empfunden werden kann.

Die Wunde, die hier entstanden ist, kann dadurch nicht ungeschehen gemacht werden. Aber sie kann heilen. Was zurückbleibt, ist eine Narbe. Und im besten Fall tragen wir diese Narbe dann mit Würde, ohne sie verstecken zu wollen vor der Welt. Das ist die andere Seite des Nehmens des Lebens von Eltern mit allem was dazugehört. Auch die Narben gehören dazu. Die entscheidende Frage ist hier: Ist es eine noch offene Wunde oder ist es eine Narbe aus der Vergangenheit, was bedeutet, was einmal war, ist eben vergangen. Es war so, dort und damals, und es hat mich geprägt. Und trotzdem nehme ich das Leben im Hier und Jetzt – auch mit dieser Narbe!

Noch etwas ist wichtig in diesem Zusammenhang. Die Reaktion der Seele auf die ursprüngliche Wunde ist häufig, dass ein innerer Teil von uns abgespalten wird. Dieser innere Teil wird sozusagen ins Exil geschickt. Das ist eine Überlebensstrategie. Aber irgendwann muss dieser innere Teil wieder heimgeholt werden. Sonst hindert das Überleben das Leben.

Genau dieser Heimholung dient der Prozess, die ursprüngliche Wunde und die damit verbundenen Emotionen noch einmal zu erleben. Wir sagen damit dem abgespaltenem inneren Teil in uns: Jetzt darfst du da sein! Jetzt wende ich mich dir zu. Was damals als Kind nicht möglich war, weil es zu schmerzhaft war, ist jetzt möglich, weil ich erwachsen bin. In dieser Zuwendung zur Wunde liegt die Verwandlung der offenen Wunde in die Narbe. Die Wunde muss ans Licht, im Dunklen ist die Heilung der Wunde schwer möglich.

Was hier angesprochen ist, ist das verletzte innere Kind in uns. Was ist hier die Aufgabe? Die Aufgabe ist, das verletzte innere Kind zunächst einmal heimzuholen, ihm einen sicheren Platz in meinem Inneren zu geben. Und dann kann der erwachsene Teil in mir das innere Kind sozusagen „nachnähren“. Dies geschieht, wenn ich als Erwachsener meinem inneren Kind all die Aufmerksamkeit, Liebe, Fürsorge und Anteilnahme gebe, die das Kind so schmerzhaft vermisst hat. Dann kann das innere Kind in mir, das durch die Abspaltung im Alter des Schmerzes stehen geblieben ist, wachsen und älter werden. Auf diesem Weg wird aus der Wunde die Narbe.

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[1] Ich kann mich nicht erinnern, dass bei einer schicksalshaften Trennung der Eltern vom Kind die Hinbewegung zu den Eltern in einer Aufstellung gescheitert wäre.

Gefühle und Emotionen – wo ist der Unterschied?

Im letzten Blogbeitrag hatte ich Gefühle und Emotionen thematisiert hinsichtlich der Frage, welche Form von Gefühlen und Emotionen einen seelischen Gehalt haben. In diesem Zusammenhang hatte ich als Randbemerkung erwähnt, dass es sinnvoll sein mag, zwischen Gefühlen und Emotionen zu unterscheiden, ohne dies näher auszuführen. Für die Erwägungen im letzten Beitrag wurden dagegen Gefühle und Emotionen als austauschbare Begriffe verwendet, wie wir es ja im Alltagssprachgebrauch auch tatsächlich meistens tun.

In diesem Beitrag soll auf die Unterscheidung von Gefühl und Emotion näher eingegangen werden. Ganz trennscharf ist die Unterscheidung nicht, es geht mehr um eine unterschiedliche Akzentsetzung in der Betrachtung. Hier spielen zwei Überlegungen eine Rolle:

  1. Die Unterscheidung zwischen Gefühl als eher körpernahem Aspekt, also dem Spüren bestimmter körperlicher Regungen, die oft recht autonom sind, einerseits und der inhaltlichen Erlebnisqualität dieser körperlichen Regungen, die ich als Freude, Ärger, Wut, Überraschung, Liebe, Angst usw. erlebe.
  2. Die Kontrollierbarkeit der Regung, was die Umsetzung in Handlungen angeht, wobei ein Gefühl eher für die kontrollierte Form und Emotion für die durch mich nicht mehr kontrollierbare Form steht.

Körpersensationen und ihre Interpretationen

In der Psychologie gibt es ein klassisches sozialpsychologisches Experiment aus den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts[1]. Dabei wurden Probanden angeblich ein Vitaminpräparat verabreicht, tatsächlich aber Adrenalin gespritzt, was natürlich einen Reihe von körperlichen Reaktionen wie beschleunigte Herzrate, verstärkte Durchblutung und Hautschweiß, veränderter Muskeltonus usw. auslöste. Verschiedene Teilgruppen der Probanden wurden dabei in unterschiedliche soziale Situationen gebracht, in denen durch verdeckte Versuchsleiter die Situationen entweder in Richtung Ärger oder in Richtung freudige Erregung beeinflusst wurden. Es zeigte sich, dass tatsächlich dieselbe physiologische Veränderung je nach Kontext entweder als Ärger oder als positive Emotion (in der Beschreibung ist von Euphorie die Rede) interpretiert und erlebt wurden.

Dies lässt sich nun so auffassen, dass offenbar einer erlebten Emotion zunächst einmal nur ein – inhaltlich zunächst unspezifisches – Erregungsmuster im Körper zugrunde liegt. Dieses Erregungsmuster wird, bewusst oder unbewusst, bemerkt und dann in einem zweiten Schritt mit Hinweisen aus dem situativen Kontext abgeglichen. Auf Basis dieser Informationen entscheiden wir uns dann sozusagen, ob diese körperliche Erregung nun eine freudiges Ereignis oder ein Ärgernis ist. Die Physiologie dahinter ist aber dieselbe.

Für den Unterschied zwischen Gefühl und Emotion bedeutet dies, das Gefühl wäre jetzt wirklich das wahrnehmbare Körpergefühl, dass ich in Form einer Selbstbeobachtung an mir wahrnehmen kann. Ich kann hier, ein wenig wie ein distanzierter Beobachter, feststellen: "Aha, mein Herz fängt gerade an, schneller zu schlagen" oder "Interessant, ich merke eine vibrierende Anspannung in der Muskulatur meiner Hände" oder dergleichen. Erst in dem Moment, wo ich diese Körpersensationen als etwa Angst oder Zorn oder dergleichen interpretiere, erhält das unspezifische Erregungsmuster seine inhaltliche Qualität im Erleben.

In diesem Sinne wäre die Unterscheidung zwischen Gefühl und Emotion wichtig, weil es oft sinnvoll sein könnte, beim Herannahen einer unerwünschten Emotion den Aufmerksamkeitsfokus weg von der Emotion und hin zum Körpergefühl zu verlagern. Ich bleibe dann im Gefühl, wirklich im engeren Sinne im Körpergefühl, aufmerksam und beobachtend, werde aber nicht von der Emotion überschwemmt.

Gefühl und Emotion als Grad der Kontrolle

In einer ähnlichen, aber etwas anders gelagerten Form könnte man den Unterschied zwischen Gefühl und Emotion auch als Grad der Kontrolle beschreiben. Nehmen wir einmal als Beispiel das Gefühl der Trauer, weil vielleicht ein geliebter Mensch verstorben ist Die Funktion der Trauer ist ja eine Anpassung an einen Verlust.

Ich kann hier das Gefühl der Trauer empfinden und gleichzeitig, zumindest bis zu einem bestimmten Grad, noch handlungsfähig bleiben. Es kann sein, ich organisiere die Dinge, die mit dem Begräbnis zu tun haben. Und während ich dies tue, bin ich im Gefühl der Trauer, empfinde Trauer. Wenn ich jedoch am offenen Grab stehe und es mich übermannt, in diesem Moment fange ich vielleicht an, hemmungslos zu Schluchzen, ich lasse hier alle Hemmungen fahren, lasse mich von der Emotion vollständig ergreifen. Dies kann ein sehr heilsamer Prozess sein.

Was ist der Unterschied? Im ersten Fall wird das Gefühl der Trauer zwar auch gefühlt, aber im Ausdruck gibt es eine gewisse Hemmung. Wenn mich das Gefühl als Emotion ergreift, fällt dagegen jegliche Hemmung weg. Es gibt hier nichts mehr zu kontrollieren und im Beispiel am offenen Grab ist es auch völlig unnötig, etwas kontrollieren zu wollen. Hier passt es in den sozialen Kontext, sich dem Gefühl ohne jeglichen Kontrollanspruch zu überlassen. Die Emotion geht wie eine Welle durch mich hindurch und aus mir heraus[2], ungehindert, und verebbt nach einer gewissen Zeit auch wieder. Und für eine gewisse Zeit und im passenden Kontext lasse ich mich von der Emotion mitreißen. Ohne Vorsicht und ohne Rücksicht.

Genau diese Vorsichts- und Rücksichtslosigkeit von starken Emotionen ist natürlich auch der Grund, warum starke Emotionen uns manchmal Angst machen. Wir fürchten verloren zu gehen in der Emotion oder im Rausch der Emotionen einen Schaden anzurichten, den wir später bereuen. Im Vergleich dazu erscheint das Gefühl sicherer, gerade weil es eben auch noch der Kontrolle und bis zu eine Gewissen Grad der Hemmung unterliegt. Das Gefühl ist noch der Abwägung zugänglich, ob und in welcher Form sein Ausdruck passend zu Situation und Anlass ist. Dies wäre der wesentliche Punkt dieses Aspekts der Unterscheidung: Beim Gefühl bin noch zu einer Moderation des Gefühlsausdrucks in der Lage, bei der ungehinderten Emotion bin ich es nicht mehr.

Die weit verbreitete Angst vor dem Gefühl oder eigentlich die Angst vor der Emotion wäre in diesem Sinne vor allem die Angst vor Kontrollverlust.

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[1] Das Experiment von S. Schachter und J.E. Singer aus dem Jahr 1962 begründete in der Sozialpsychologie die sog. Zwei-Faktoren-Theorie der Emotionen.

[2] Emotion ist im lateinischen Ursprung des Wortes eine Zusammensetzung der Vorsilbe "e" (aus oder heraus) und des Verbs "movere" (bewegen), bedeutet wörtlich also "herausbewegen".

Über das Seelische (VI): Gefühle und Emotionen

Im Rahmen unser Umkreisung und Einkreisung des mysteriösen Themas des Seelischen, dass trotz aller Klärungsversuche natürlich ein großes Mysterium bleibt, soll in diesem Beitrag auf etwas eingegangen werden, was man vielleicht zuallererst mit dem Bereich des Seelischen verknüpft: Die Welt der Gefühle und Emotionen.

Die Möglichkeit der Empfindung und der emotionalen Bewegtheit ist das, was uns veranlasst, ein Wesen als „beseelt“ zu bezeichnen, die Momente der emotionalen Bewegtheit sind die „beseelten“ Momente in unserem Leben, besonders bei intensiven positiven Emotionen sagen wir, wir seien „selig“.

Die emotionale Bewegtheit steht hier im Gegensatz zu einer nüchternen, kalten Rationalität. Das Emotionale erweist sich als das Lebendige, die reine Rationalität erscheint dagegen mechanisch, roboterhaft.

Dazu passt, dass wir im ersten Teil dieser Serie gesagt hatten, das Wesen des Seelischen sei, dass es uns Lebendigkeit verleiht, alles Seelenlose dagegen tot, wenn nicht gar „untot“, also zombiehaft sei. Ebenso passt dazu, dass wir im zweiten Teil der Serie das Feld des Seelischen als genuin weiblich und dem Element des Wassers zugehörig identifiziert hatten. Auch hier ist bei beidem die Assoziation zum Emotionalen sofort gegenwärtig, sowohl das Weibliche wie das Wasser tragen diese Insignien.

Ist also jedes Gefühl auch ein seelisches Phänomen? So einfach ist es nun wieder auch nicht. Zunächst einmal gibt es große Anteile des Fühlens im engeren Sinne, also die körperlichen Empfindungen, die nicht seelisch, sondern eben rein physiologisch sind. Wenn ich mir eine Zehe an einem Tischbein schmerzhaft anstoße, empfinde ich zwar einen – möglicherweise heftigen – Schmerz. Aber offensichtlich fehlt hier die seelische Dimension. Es ist ein kleineres Missgeschick. Ebenso gibt es Emotionen, die zwar eindeutig psychologisch sind, bei denen wir aber doch davor zurückschrecken, sie in den Bereich des Seelischen einzuordnen. Wenn der Fußballfan auf der Tribüne mit langem Gesicht und Tränen in den Augen zu sehen ist, nachdem seine Mannschaft verloren hat, ist dies eindeutig eine psychische Reaktion. Aber interessiert sich die Seele wirklich dafür, welche Mannschaft ein Spiel gewinnt oder verliert?[1] (Wenn überhaupt, geht es ihr um das Spiel an sich.)

Was also verleiht einem Gefühl oder einer Emotion[2] seine seelische Eigenschaft? Ist es die Intensität? Ist es die Tiefe? Ist es die Qualität?

Dimensionen der Gefühle und Emotionen

Die Intensität alleine kann es kaum sein. Wenn wir wieder an körperliche Schmerzen denken, wird sofort deutlich, dass diese intensiv sein können, ohne dadurch an sich schon seelisch zu sein. Die Frage, wie ich mit solchen körperlichen Schmerzen umgehe, ob ich sie stoisch ertrage, ob ich sie ungehemmt herausschreie, ob ich jammere, all dies wären schon eher seelische Phänomene dabei. Oder, um ein anderes Phänomen als den Schmerz anzuführen: Ein Erschrecken kann sehr intensiv sein, ist aber nur von sehr kurzer Dauer und kaum als seelisch zu bezeichnen. Ebenso ist eine Panik sicherlich eine intensive Emotion, die auch eindeutig psychologisch ist. Aber ist sie seelisch? Allein die Tatsache, dass wir im Panikmodus sozusagen auf Autopilot geschalten sind, spricht schon dagegen. Hinzu kommt, dass viele Gefühle, die einer seelischen Bewegung entspringen, eben gerade nicht besonders aufdringlich daher kommen, nicht als betont intensiv erlebt werden, sondern sich eher beiläufig einstellen, weshalb sie auch gerne übersehen werden.

Die Frage nach der Tiefe eines Gefühls kommt dem eigentlichen Punkt schon näher. Aber was macht die Tiefe aus? Eine tiefe Emotion erfasst uns in unserem gesamten Selbst vollständig, etwa wenn wir von der Schönheit eines Musikstückes, der Anmut einer Bewegung, der Präsenz eines Augenblickes erfasst und getragen werden. Aber im Gegensatz zur schon erwähnten Panik ist der davon erfasste Mensch nicht im Wortsinne "außer sich", sondern im Gegenteil zutiefst bei sich. In solchen Momenten geht der Mensch zwar in dem, was das Gefühl im Außen ausgelöst hat, auf – aber sie oder er verliert sich dabei nicht. Im Gegenteil: Nie ist man mehr bei sich, nie ist man mehr „Selbst“ als in solchen Momenten.

Ein anderer Aspekt der Tiefe eines Gefühls ist die Frage, ob das Gefühl an die wirklichen Grundlagen meines Seins rührt. Hier ist natürlich in erster Linie zu denken an die Gefühle / Emotionen die mit unseren Eltern und im weiteren Sinne mit der Sippe, der Herkunftsfamilie zu tun haben ebenso wie die Beziehungen zu unseren Kindern. Ebenso an die Grundlagen des Selbst und der Existenz gehen Gefühle und Emotionen, welche auf unseren Lebenssinn verweisen. Und wir hatten schon gesagt, dass die tiefsten Gefühle, die existenziellsten Gefühle, nicht notwendig immer als besonders intensiv erlebt werden, sondern mitunter eher leise daher kommen.
Eher ego-bezogene Gefühle, die sich etwa um die Insignien von Erfolg und Misserfolg oder um meinen Status in einer sozialen Hierarchie drehen, sind in aller Regel lauter und in diesem Sinne deutlicher wahrnehmbar, sie haben aber nicht die existenzielle Tiefe und oft überhaupt keine seelische Qualität. Die Seele kümmert sich weniger um Erfolg oder Misserfolg, sondern eher um Erfüllung. Wir erkennen die tieferen emotionalen Regungen daher meist nur, wenn wir uns mental etwas abseits von einer alltäglichen Geschäftigkeit aufhalten, etwa in Momenten der Kontemplation oder Meditation.

Wie ist es nun mit der Qualität der Gefühle? Wenn wir mit Qualität eine inhaltliche Bestimmung eines Gefühls meinen, ist damit noch wenig darüber gesagt, ob es sich hier wirklich um eine seelische Bewegung handelt. Wir können Gefühle inhaltlich erleben als Liebe, Zorn, Angst oder Furcht, Freude, Erschrecken, Ekel, Wohlbefinden, Trauer, Stolz, Hoffnungslosigkeit usw. Das alleine sagt noch wenig über die seelische Qualität.

Bezüglich der seelischen Qualität geht es eher um die "Reinheit" und Unmittelbarkeit der Emotion. Die Frage ist, ob die Emotion und ihr Ausdruck für sich selber stehen oder ob, insbesondere mit dem Ausdruck der Emotion, noch andere Ziele, wenn auch mitunter höchst unbewusst, verfolgt werden. In diesem Sinne wären Gefühlsäußerungen, welche – wie bewusst oder unbewusst auch immer – zumindest auch dem Ziel der Manipulation von Anderen dienen, nicht „rein“. Sie gehören definitiv in den Bereich der Psyche, in dem Fall als psychologische "Spiele", die sehr ernst gemeint sein können, aber sie gehören nicht in den Bereich der seelischen Bewegungen. Die Seele ist nicht an Manipulation interessiert.

Die beste Annäherung ist hier vermutlich die Unterscheidung zwischen Primärgefühlen, Sekundärgefühlen und übernommen Fremdgefühlen. Genauer wird auf diese Unterscheidung hier eingegangen. In diesem Zusammenhang nur so viel: Primärgefühle sind unmittelbar, werden als passend zur Situation erlebt und sind meist nur von kurzer Dauer, auch wenn sie heftig sein können. Sie entsprechen damit der "Reinheit", die schon angesprochen wurde. Sekundärgefühle sind dagegen Stellvertreter, sie sind "Deckgefühle" für ein anderes Gefühl, dessen Ausdruck unterdrückt wird. Übernommene Fremdgefühle haben zwar die Unmittelbarkeit des Erlebens mit den Primärgefühlen gemein, passen aber nicht zu Kontext oder Anlass. Sie werden stellvertretend für andere Mitglieder im Familiensystem erlebt, zu denen sie eigentlich gehören.

Bezüglich der seelischen Qualität lässt sich sagen, dass Primärgefühle praktisch immer seelische Bewegungen sind und somit in den seelischen Bereich gehören. Sekundärgefühl sind dagegen psychologische Konstruktionen, meist Behelfskonstruktionen. Sie sind selber nicht seelischer Natur, obwohl das dadurch verdeckte eigentliche Gefühl seelische Qualität haben kann. Übernommene Fremdgefühle sind auch seelischer Natur, nur sozusagen in der falschen Person. Im Gegensatz zu den eigenen Primärgefühlen lösen sie nichts, sondern binden auf eine meist ungute Weise. Sie dienen auch nicht der Lebendigkeit, sondern schränken den lebendigen Lebensvollzug ein.

Es ist also hier wie mit den Schwänen, die zwar alle weiß sind, aber nicht alles, was weiß ist, ist auch ein Schwan. Seelische Bewegungen sind zwar ohne Gefühle kaum denkbar, aber nicht jedes Gefühl oder jede Emotion hat auch einen seelischen Bezug.

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[1] Die Frage berührt natürlich den Unterschied zwischen Psyche und Seele. Rein vom Wortstamm und der altgriechischen Herkunft wäre sie zwar identisch, im modernen Sprachgebrauch sind sie es aber nicht mehr. Dies wäre ein eigenständiges Thema, dass hier nur gestreift werden soll.

[2] Auch dieser Unterschied wäre ein eigens Thema und soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Wir gehen hier mit dem Alltagssprachgebrauch, in welchem beides weitgehend synonym verwendet wird.

Über das Seelische (V) – Der Atem

In der biblischen Schöpfungsgeschichte gibt es ein Bild – und wie bei den meisten dieser Geschichten ist es ein seelisches Bild, es regt etwa in der Seele an  – nach dem der erste Mensch erschaffen wurde aus dem Material der Erde und dass er zum Leben erweckt wurde, in dem ihm der Atem (Odem) eingehaucht wurde. Bis zu diesem Moment war er nur ein Stück gestaltetes Material. Mit dem Atem beginnt er das Leben und seinen seelische Existenz.
Ebenso gibt es die Beobachtung bei Sterbenden, dass sie unmittelbar vor dem Ableben noch einmal einen ganz betonten Atemzug tun, insbesondere ein letztes mal betont ausatmen. Und es hat den Anschein, dass mit diesem letzten Ausatmen das Leben und die Seele aus diesem nun abgelegten Körper entweicht.

Wir haben hier also sowohl am Beginn wie am Ende eine besondere Verbindung von Atem und Seele. Eine Besonderheit des Atems ist es, dass der Vorgang des Atems im Normalfall völlig unbewusst vonstatten geht, ähnlich wie für uns völlig unbewusst unsere Haare oder Fingernägel wachsen oder unser Magen sich rhythmisch zusammen zieht und wieder entspannt. Im Gegensatz zu anderen autonomen körperlichen Prozessen ist der Atem aber deutlich bewusstseinsfähig und auch über Bewusstheit beeinflussbar.

Wenn man auf den Atem achtet, kann man bemerken, wie genau man atmet, ob eher in die Brust oder in den Bauchraum, ob schnell oder langsam, ob hektisch oder in Ruhe usw. Und wir können es nicht nur bemerken, sondern wir können es mit dem Bemerken auch beeinflussen, wir können unseren Atemfluss bewusst moderieren. Und dies hat sehr schnelle und tiefgreifende Effekte sowohl auf unsere Psyche wie auch auf unsere seelische Gestimmtheit. Der Atem befindet sich also an der Schnittstelle von Bewusstem und Unbewusstem, auch dies ist etwas, was er mit dem Seelischen teilt. Der Atem steht unmittelbar für das Lebendige in uns ebenso wie die seelischen Funktionen uns lebendig machen. Ohne Nahrung können wir eine ganze Weile überleben, ohne Wasser einige Tage aber ohne Atem nur wenige Minuten.

Der Gedanke liegt daher nahe, dass der Atem ein Weg sein kann, etwas über die eigene Seele zu erfahren. (Wenn man denn etwas darüber wissen wollen würde. Es scheint so, als ob viele Menschen nur in Phasen großer innerer Not oder Verzweifelung in diesem Punkt wissbegierig seien.)

Über Sinn und Unsinn von Atemtechniken

Die Verbindung von Atem und Seele ist in den östlichen spirituellen Überlieferungen historisch länger verwurzelt als im Westen. Aus den östlichen Traditionen gibt es nicht nur die Praktiken, einen Zeit lang sein Bewusstsein ausschließlich auf den Atem in seinem spontanen Kommen und Gehen auszurichten wie etwas im Zen-Buddhismus, sondern auch etwa im Kontext von Yoga wie auch anderen spirituellen Praktiken bestimmte Atemübungen, bei denen der Adept dieser Richtungen zu einer bestimmten Atemweise angehalten wird. Hier wird dann, anders als im Zen, der Atem nicht nur beobachtet in seiner spontanen Entfaltung ohne Eingreifen, sondern es wird bewusst eine ganz bestimmte Art zu Atmen angestrebt. Manchmal geht es darum, genau eine bestimmte Anzahl von Sekunden einzuatmen, auszuatmen und dazwischen inne zu halten im Atemstrom. Manchmal geht es um einen bestimmten Wechsel der Atmung zwischen dem linken und dem rechten Nasenloch oder einen Wechsel der Atmung zwischen Mund und Nase. Oder es geht um eine bestimmte Region im Körper, in die hinein bewusst geatmet werden soll. In wieder anderen Techniken geht es um die Atemgeschwindigkeit, manchmal als beschleunigter, manchmal als verlangsamter Rhythmus.

Nun haben alle diese Techniken sicherlich ihren Sinn in einem bestimmten Kontext und sie können zu nützlichen Erfahrungen führen. Allerdings besteht hier die Gefahr – und diese mag eher für einen westlichen Menschen bestehen, der östliche Praktiken mit einem westlichen Verständnis auffasst – über die Atemtechniken dem Atmen eine Art militärischen Drill aufzuherrschen. Das wird gelingen, weil der Atem ja durchaus bewusst steuerbar ist, allerdings wird er dann sozusagen maschinell, verliert gerade die Lebendigkeit, um die es hier ja geht. Es besteht also die sehr reale Gefahr, mit bestimmten Atemübungen das Ziel dahinter umso mehr zu verfehlen, je erfolgreicher die Selbstdressur gelingt. Das Seelische im Atmen verabschiedet sich dann einfach und schaut der Sache mehr oder weniger gelangweilt zu.

Natürlich hat die bewusste und gezielte Beeinflussung des Atems sinnvolle und hilfreiche Wirkungen, dass soll hier nicht in Abrede gestellt werden. Auch ganz ohne östliche Weisheitslehren gibt es ja mitunter den Ratschlag an sehr erregte Personen, sie mögen doch erst einmal zehn tiefe Atemzüge nehmen (was automatisch zu einer Verlangsamung der Atmung führt, nicht nur zu einer Vertiefung) und dann erst reagieren. Man kann ein ungünstiges Erregungsniveau auf diese Art erfolgreich regulieren. Wenn, ja wenn, man sich in dem Moment, wo man diese Ratschläge besonders nötig hätte, sich an sie erinnern könnte.

Noch einmal: Natürlich kann man sich über bestimmte Atemtechniken, besonders über gezieltes und länger andauerndes Hyperventilieren etwa im holotropen Atmen oder noch früher im Rebirthing mit bestimmten Tiefendimensionen der Seele verbinden und hier wertvolles "seelisches Material" zu Tage fördern. Aber: So wie die Seele sich nicht erfolgreich in etwas zwingen lässt, gehen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit fehl, wenn wir über den Atem etwas Bestimmtes im seelischen Bereich erzwingen wollen.

Trotzdem kann man den Atem wegen der engen Verbindung mit dem seelischen Bereich nutzen, um etwas über die eigenen seelischen Bewegungen und Bestrebungen zu erfahren.

Sich über den Atem mit der Seele verbinden

Wie kann denn nun der Atem für seelische Erkenntnisprozesse genutzt werden?

Nun, mir scheint für den Anfang das Wichtigste, den Atem in seiner spontanen Entfaltung zunächst einmal nur zu beobachten, ohne ihn in eine bestimmte Richtung beeinflussen zu wollen. Dieser Schritt sollte vor jedem Beeinflussungsversuch stehen. Wir hatten eingangs auf den Doppelcharakter des Atems verwiesen, dass er im Normalfall vollständig unbewusst erfolgt, aber sehr einfach und direkt bewusstseinsfähig ist. Der unbewusste Prozess der Atembewegung wird durch die Aufmerksamkeit auf den Atem ins Bewusstsein gebracht. Und mit ihm manches an Seelischem, dass ebenso im Normalfall unbewusst ist. "Bewusstheit und Atem haben eine direkte Korrelation. Wer nie seinem Atem gelauscht hat, hat nie seiner Seele gelauscht" schreibt Peter Orban in seinem Buch "Seele. Geheimnis des Lebendigen.[1]"

Es geht also zunächst einmal darum, den Atem – und über ihn die Seele – erfahrbar zu machen. Wichtig ist dabei, den Atem nicht so sehr physiologisch zu betrachten. Sicher, auf der rein organischen Ebene ist der Atem einfach ein Gasaustausch, der im Organ Lunge stattfindet. In die Lunge hinein atmen wir ein, aus der Lunge heraus atmen wir ab, was der Körper an Gasen ausscheidet. Aber es gibt noch eine andere Ebene, die erlebt werden kann. Auf dieser nicht organischen Ebene erfasst der Atem den ganzen Leib. Das kann so gespürt werden. Der Atem in diesem Sinne kann also in die Beine gehen, in den Unterleib, in den Kopf, kurz überall hin in den Körper. Und um diese Ebene der Beobachtung geht es. Es geht um den seelischen Atem und den seelischen Leib, nicht nur um das Organ Lunge.

Was erfahren wir, wenn wir auf diese Weise unseren Atem beobachtend erfahren? Nun, zunächst erleben wir im Fluss des Atems eine Polarität, den Wechsel von Einatmen und Ausatmen. Mit dem Einatmen nehme ich etwas in mich hinein, ich nehme etwas in Besitz, ich binde mich an etwas, ich möchte damit auch Energie für meinen Willen und meine willentlichen Handlungen verfügbar machen. Mit dem Ausatmen betrete ich den Gegenpol, hier lasse ich los, hier löse ich mich von etwas. Wie ahnen schon: Die beiden Pole entsprechen dem archetypisch Männlichem und dem archetypisch Weiblichem, die wir auch in unserer Seele vorfinden.

In den vorherigen drei Beiträgen war die seelische Landschaft beleuchtet worden unter dem Aspekt des weiblichen, des männlichen und des neutralen vermittelnden Prinzips. Wo finden wir nun den dritten Aspekt im Atem? Es sind die Atempausen, die Umkehrpunkte zwischen Einatmen und Ausatmen, die selten beachtet werden. Wenn wir aber genau hinspüren, dann offenbaren sie sich deutlicher. Zwischen den Ein- und Ausatembewegungen liegt eine – meist kleine – Lücke. Durch die Achtsamkeit auf den Atem kann sie deutlicher werden. Hier haben wir das dritte Element des Seelischen, gespiegelt im Atem und im Atem erfahrbar.

Die Übung

Die Übung wäre also: Wir beobachten für einige Momente bis hin zu einigen Minuten unseren Atem ohne Absicht, ohne Intention hier etwas verändern zu wollen.

Dabei achten wir darauf: Wo genau im Körper können wir die Zirkulation des Atems spüren. In welchen Körperteilen deutlicher, wo weniger deutlich? Ist eine der beiden Atembewegungen (Einatmen und Ausatmen) deutlich betonter oder länger als die andere? Können wir die Pausen zwischen dem Atem bemerken und wie fühlen sie sich an? Gibt es irgendwo in den Atemzügen eine Stockung oder fließt der Atem frei und widerstandslos? Wie tief berührt der Atem mich im Inneren? Oder bleibt er an der Oberfläche? Ist er hektisch oder ruhig?
Und dann beobachten wir, wie der Atem den Leib, den Seelenleib, durchströmt. Wir achten jetzt bewusst auf jede Region im Körper. Gibt es hier Stellen, wo der Atemfluss nicht so gut oder gar nicht spürbar ist? Gibt es hier Unterschiede zwischen der linken und der rechten Köperseite? Wir erstellen uns ein inneres Bild wie einen "Scan" des Körpers. Da gibt es hellere Stellen und dunklere Stellen, die wir bemerken können, die wir uns merken können.

Das Ziel dieser Atemübung ist ja, sich über den Atem mit der Seele zu verbinden. Hier sind insbesondere die dunklen Stellen im Körper in der oben erstellten Landkarte informationsträchtig. Wenn es Stellen im Leib gibt, die vom Atem nicht oder nicht gut erreicht werden, dann sitzt hier eine blockierte Energie, unbewusste Seelenanteile, die irgendwann in den Untergrund verbannt wurden. Und dort im Untergrund warten sie darauf, dass wir uns wieder mit ihnen verbinden.

Es kann sein, dass bei dir, wenn du diese Übung machst, bei der Beachtung dieser Stellen im Köper innere Bilder auftauchen oder Gefühle und Emotionen sich einstellen. Das ist ein gutes Zeichen, die Übung erfüllt ihren Zweck!
Was machen wir mit den inneren Bildern und Gefühlen? Wir wenden uns ihnen zu. Wir lassen sie ungehindert sich entfalten und durch uns hindurch fließen. Statt der Abwehr und Verdrängung dürfen sie jetzt in Fluss kommen, aus der Versteinerung in die Lebendigkeit gelangen.
Du kannst beim Auftauchen eines solchen inneren Bildes oder Gefühls, wenn es unangenehm ist – und das wird es sein, sonst wäre es nicht in den seelischen Untergrund verbannt worden – dieses Bild oder Gefühl ansprechen. Sag ihm: "Vielen Dank dafür, dass du dich zeigst. Ich habe dich viel zu lange nicht beachtet. Ich bin jetzt bereit, dich zu fühlen. Ich stimme dir zu, dass es dich gibt, ich spüre jetzt hin." Und lass das Gefühl sich entfalten und durch dich hindurchfließen, wie eine Welle, die ansteigt und nach einer bestimmten Zeit wieder abebbt.

Je weniger Widerstand wir diesem Gefühl entgegensetzten, je mehr wir es bejahend fühlen und anerkennen können, dass es sich jetzt zeigen darf, desto weniger schmerzhaft wird das Gefühl in seiner Freisetzung sein, desto weniger Leiden wird es verursachen, desto mehr wird die Freisetzung als Befreiung erlebt.

(Hinweis: Wenn du über den Atem in deiner seelischen Unterwelt etwas entdeckst, was dich zu überwältigen droht, dann mache die Übung nicht alleine. Du kannst sie stattdessen mit einer eng vertrauten Person als Unterstützung machen oder mit professioneller Hilfe.)

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[1] Peter Orban: Seele. Geheimnis des Lebendigen. Hugendubel: 1991. S. 118

Über das Seelische (IV) – Die Vernunft

In dieser Artikelserie wird das Seelische umkreist, verschiedene Aspekte des Seelischen werden benannt, aber es bleiben Teile des ganzen Bildes. Die Seele ist letzten Endes nicht greifbar, nicht "dingfest" zu machen. Die Seele ist eben kein Ding. Jedes Mosaiksteinchen, welches hier ausgebreitet wird, verweist auf das Gesamtbild, zu dem es gehört. Diese Texte sollten so gelesen werden, dass auf das geschaut wird, worauf verwiesen wird, nicht auf den Verweis selber. Nach dem alten Motto: Wenn dir jemand den Mond am Nachthimmel zeigt, und er deutet mit dem Finger darauf, dann schau auf den Mond, starre nicht auf den Finger.

Die letzten beiden Texte und auch dieser sind geleitet von einer Vorstellung des seelischen Raums, wie sie in der alten Weisheitsleere der Astrologie entwickelt wurde. Hier bezeichnet der zweite Quadrant die seelische Landschaft, die noch einmal in drei große Territorien unterteilt werden kann, die Häuser 4 bis 6. In den letzten beiden Artikeln hatten wir hier die Territorien des archetypisch weiblichen (das 4. Haus mit dem Zeichen Krebs und dem Mond als Verkörperung dieses Prinzips) durchwandert ebenso wie das Territorium des archetypisch männlichen (5. Haus, Zeichen Löwe und Sonne als Verkörperung). Hier geht es nun um das 6. Haus, in der Astrologie mit den Signaturen von Jungfrau als Zeichen und Merkur als Planet versehen.

Wir haben also bislang in der Seele als Triebkraft das urweibliche und urmännliche Prinzip kennen gelernt. Und es ist offensichtlich, dass diese beiden Prinzipien nicht so leicht miteinander zu vereinbaren sind. Und doch müssen sie miteinander in Einklang gebracht werden. In jeder einzelnen Person sind sie vorhanden und wirksam und in jeder einzelnen Person müssen sie sich arrangieren mit dem jeweils anderen Prinzip. Es geht hier also mitnichten um die Gestaltung einer Paarbeziehung, wie man vordergründig meinen könnte. Nein, es geht um den Frieden und die gedeihliche Koexistenz der männlich-weiblich-Polarität in mir.

Und an dieser Stelle kommt die dritte Kraft und die dritte große Landschaft des Seelischen ins Spiel. Hier hat sie ihr Betätigungsfeld und ihren Ausdruck. Dieser Teil der Seele ist der geborene Vermittler, eine Agentin des Ausgleichs, unparteiisch und unermüdlich, ohne eigene Interessen.
In der Astrologie wird dies, zu Recht, mit der Organisation des Alltags, mit den alltäglichen Verrichtungen, mit den Routineaufgaben, mit den Pflichten des Broterwerbs oder der Kindererziehung und auch mit einer gesundheitsförderlichen Lebensführung in Verbindung gebracht. Es ist dies der Bereich der (selbstgewählten) Regeln, der Ordnung und des Fleißes sowie der Begrenzung von Exzessen in jeglicher Richtung. Und doch ist dies eine etwas oberflächliche Betrachtung, bei der man meinen könnte, wir haben es hier mit der personifizierten Spaßbremse zu tun.

Im Kern geht es bei diesem Seelenaspekt aber um etwas Anderes als Arbeit, Routine und Ordnung: Es geht um die Verbindung und Vermittlung von Kräften in uns, die sich oft genug unversöhnlich gegenüberstehen und einen inneren Krieg ausfechten. Diese Vermittlungsleistung ist etwas ganz anderes als ein laues weder heiß noch kalt, weder links noch rechts, weder oben noch unten. Diese seelische Instanz erkennt jede der widerstreitenden Bestrebungen an und versucht auf dieser Grundlage "den Laden am laufen zu halten", sie übernimmt Verantwortung für das Ganze. Das wird ihr oft nicht gedankt. Wenn wir sie nur als "Spaßbremse" sehen, werden wir ihr nicht gerecht.

Was dieser Teil in uns leistet, ist ein schwieriges Unterfangen, gleichzeitig ist es aber die Krönung aller seelischen Bewegungen. Die Aufgabe ist am besten beschrieben in dem, was man in der Philosophie "Dialektik" nennt. In der Dialektik geht es darum, aus einer These und der entsprechenden Gegenthese zu einer Synthese zu kommen, zu einer Vereinigung der beiden gegensätzlichen Pole zu gelangen. Wenn dies gelingt, werden die Erkenntnis und die Einsicht auf eine neue Ebene gehoben, in der beide vorherigen gegensätzlichen Pole aufgehoben sind und zu ihrem Recht kommen.[1]

Das ist, wenn es gelingt, kein fauler Kompromiss. Bei einem faulen Kompromiss nehme ich nur bestimmte Anteile der einen Seite als gültig an und nur bestimmte Anteile der anderen Seite. So kann man sich arrangieren, aber glücklich wird so niemand. Im Prozess der dialektischen Aufhebung von Gegensätzen werden die Pole jedoch vollständig vereint und zu einem neuen Ganzen mit einer neuen Qualität des Seins vereint. Das ist mehr eine Kunst denn eine Wissenschaft oder ein Handwerk.

Um hier einmal ein Beispiel zu geben: In der Kindererziehung gibt es verschiedene Regeln, Ratschläge oder Auffassungen, welche als Einzelaussage diametral entgegengesetzt sind. So gibt es zum Beispiel die Auffassung, dass Kinder fester Regeln bedürfen. Ihr Fehlen beschädigt die Kinderseele, lässt sie orientierungslos und mit wenig Vertrauen in die Erziehungspersonen zurück, es überfordert die Kinder in ihrer Entwicklung, wenn es keine Orientierungen und kein "sicheres Gelände" gibt. Auf der anderen Seite gibt es die Auffassung, dass Regeln, welche starr und autoritär von außen auferlegt werden und die Individualität des einzelnen Kindes nicht berücksichtigen, das Selbstwertgefühl des heranwachsenden Menschen nachhaltig beschädigen.

Beide Auffassungen sind unbedingt richtig. Also, nicht nur ein wenig richtig oder in diesem oder jenem Kontext richtig, sondern grundsätzlich richtig. Trotzdem erscheinen sie, wenn die jeweilige Position etwa als pädagogische Theorie ausformuliert, als unvereinbare Gegensätze. Gute Eltern wie auch gute Erzieher oder Lehre wissen jedoch in ihrer Praxis um beide Prinzipien gleichzeitig und wissen vor allem beide Prinzipien gleichzeitig im praktischen pädagogischem Handeln zu verbinden. Dem Kind wir gleichzeitig Orientierung geboten und es wird in seinen individuellen Besonderheiten geachtet und gefördert. Wir ahnen hier natürlich: Das ist kein leichter Job.

Es ist aber der Job, den dieser Teil der Seele täglich in uns erledigt. Dieser Teil erledigt diesen Job still und ohne viel Aufheben um seine Vermittlungsleistung zu machen, weshalb diese Leistung auch wenig gewürdigt wird.

Die beste Bezeichnung, die wir für diese seelische Instanz finden können, lautet: Die Vernunft. Die Vernunft arbeitet in uns sanft, aber beharrlich. Sie hat dabei wenig mit dem intellektuellen Finden von Gründen zu tun, warum das eine oder das andere vernünftig wäre. Sie ist überhaupt im Kern gar keine intellektuelle Gestalt. Sie weiß einfach, was in einer gegeben Situation richtig, angemessen und gemäß ist. Sie muss das nicht begründen. Sie könnte es auch gar nicht.

Aber, wir sagten es schon, die Stimme der Vernunft ist leise. Deswegen verhalten wir uns oft nicht entsprechend diesem seelischen Wissen, weil andere innere Stimmen lauter und auch verführerischer sind. Verführung ist nicht die Sache dieser inneren Instanz, eher manchmal die Warnung und die Mahnung, oft genug allerdings die fruchtlose Mahnung und Warnung.

Ein Bild dieser Instanz

Wie können wir uns eine solche innere Instanz aber wirklich vorstellen? Ich versuche ein Bild zu geben, aber nimm es nicht zu wörtlich, sondern wirklich nur als Bild.

Wir stellen uns eine belagerte Burg vor, außen vor der Burg sind die feindlichen Streitkräfte versammelt und grimmig entschlossen, die Burg zu erobern. In der Burg gibt es gerüstete Verteidiger, ebenso grimmig entschlossen, die Belagerer zu besiegen. Sie rüsten sich zu einem Ausfall, zur offenen Entscheidungsschlacht.

Hier kommt nun die seelische Instanz ins Spiel, um die es hier geht. Wir stellen uns eine Person vor, die bei den Führern beider Seiten vorstellig wird. Sie wird auf die Verluste hinweisen, die kommenden Toten und Verletzten. Sie wird Vorschläge zur gütlichen Beilegung des Konflikts machen. Sie wird appellieren, sie wird warnen, sie wird darauf verweisen, dass es für das Leben in der Burg keinen sooooo großen Unterschied macht, wer sie beherrscht. (Dass sie beherrscht wird, wird als gegeben betrachtet.) Sie wird die alles – vermutlich – vergeblich tun.

Aber nach der Schlacht wird sie aufopferungsvoll die Verwundeten auf beiden Seiten pflegen, Schmerzen mildern und Verzweifelte aufmuntern. Dies tut sie, ohne sich über die in den Wind geschlagenen Ratschläge zu beklagen und ohne jeglichen Verweis in der Art "seht ihr, ich habe es ja gleich gesagt". Sie erwartet auch keine Dankbarkeit für die Pflege oder die Heilung, so sie denn eintritt.

So müssen wir uns diese innere, seelische, Instanz vorstellen.

Können wir sie würdigen?

[1] Wie erwähnt wird in der Astrologie dieses synthetisierende Prinzip mit dem Planeten Merkur in Verbindung gebracht. Merkur ist der lateinische Name für den griechischen Gott Hermes, der war der Götterbote. In der griechischen Mythologie vermittelt der Götterbote Hermes zwischen den Göttern und den Menschen, zwischen oben und unten, oft genug aber auch zwischen den Göttern untereinander. (Ja, auch diese haben die Vermittlungsleistung bitter nötig im Olymp!)
So haben die Griechen in ihrer Weisheit diesen Gott z.B. sowohl als Gott der Kaufmänner und Handelsreisenden wie auch als Gott der Diebe und Wegelagerer erkannt. Man stelle sich das einmal vor: Diese beiden Gruppen sind natürliche Feinde in ihrem natürlichen Habitat. Könnte ein Mensch gleichzeitig sozusagen Gewerkschaftsvorsitzender für die Kaufleute und die Diebe sein, für die Stehlenden und die zu Bestehlenden? Ein Gott kann das!
Und dafür, so finde ich, müssen wir ihn lieben, diesen Gott. Und die Griechen, die das so klar und scheinbar sinnwidrig erkannt haben, müssen wir auch dafür lieben.

Über das Seelische (III): Das Männliche in der seelischen Landschaft

Im letzten Beitrag ging es darum, dass die Seele in ihrem Ursprung und in ihrem Wesen weiblich ist. Es ist eine zutiefst weiblich geprägte Landschaft. Wir hatten auch gesagt, dass die Seele ebenso zutiefst dem Element Wasser verbunden ist. Aber, so mag man fragen, was ist das für eine Landschaft, die nur aus Wasser bestünde? Wo ist da das „Land“ der Landschaft? Und genau darum geht es nun. Wir könnten gar nicht von Wasser reden, wir hätten keinen Begriff dafür, ohne das Gegenteil, das Land und die Erde zu kennen. Einem Fisch kann man das Konzept Wasser nicht vermitteln.

Entwicklungsgeschichtlich hat sich der Mensch – genauer: seine Vorformen im Stamm der Entwicklung – irgendwann einmal, in grauer Vorzeit, aus dem Wasser heraus begeben und das feste Land für sich gewonnen. Und zumindest beim Menschen ist damit ein bemerkenswerter Vorgang verbunden: Der aufrechte Gang.
Betrachten wir es einmal von der Seite her, wo die beiden Elemente Wasser und Land (Erde) sich begegnen. Wir stellen uns einen Strand vor. Von hier aus können wir ins Wasser, zurück zu unserem Ursprung, und zum Beispiel schwimmen. Wie machen wir das? Horizontal. Wir liegen, mehr oder weniger in der Waagerechten im oder auf dem Wasser. Und was passiert, wenn wir das Element Wasser verlassen? Wir richten uns auf, die Bewegung geht in die Senkrechte.

Und das ist der Kern: Wir wollen uns aufrichten, wir wollen in die Größe, wir streben in die Höhe. Dieses Streben in die Höhe bleibt meist nicht bei der körperlichen Aufrichtung stehen. Wir stellen fest: Das Land hat Berge, hat Höhenzüge. Und da wollen wir hinauf, wir wollen in die Höhe, wir wollen uns erhöhen.

Nun magst du, liebe Leserin oder Leser, denken: Aber nicht jeder Mensch ist doch ein Bergsteiger oder auch nur ein Bergwanderer. Das stimmt natürlich, aber nimm es nicht zu wörtlich, es ist ja nur ein Bild, um etwas zu verdeutlichen. Den Bildinhalt gibt es in jeder menschlichen Seele, auch in den Menschen, die nie in ihrem Leben im wörtlichen Sinn eine Berg erklimmen. Es ist die Orientierung an der Höhe, die Orientierung nach oben, auf welche das Bild hinweisen will. Und die finden wir überall, nicht nur in der Zunft der Bergsteiger.

Am augenfälligsten ist diese Orientierung natürlich in den großen Organisationen. Hier gibt es bei etlichen Menschen das Bestreben, aufzusteigen in der Hierarchie, möglichst ganz nach oben. Das wird als beruflicher Erfolg betrachtet. Was treibt uns in die Höhe? Wir wollen herausragen aus der Masse der Mitmenschen. Wir wollen etwas Besonderes sein.

Aber auch das Streben nach einer Spitzenposition in einer Organisation ist hier nur ein Beispiel, wenn auch ein sehr typisches, für die Bewegung, um die es hier geht. Stellen wir uns einen Menschen vor, sagen wir einen Angestellten in Sachbearbeiterposition ohne weitere berufliche Ambitionen. Hier, auf dieser Position, bleibt er bis zur Rente. Und er ist damit zufrieden. Wo finden wir bei ihm den Drang in die Höhe? Nun vielleicht hat er ein Hobby. Er baut berühmte Gebäude nach mit Streichhölzern. Und sein Ziel, sein Ehrgeiz, besteht darin, den detailgetreuesten Nachbau des Kölner Doms mit Streichhölzern zu bauen, der je erstellt wurde. Damit verbringt er einen großen Teil seiner Freizeit und es sind schon einige tausend Stunden in das Projekt geflossen. Oder sein Bestreben geht dahin, die vollständigste Sammlung osteuropäischer Briefmarken aus den 50er-Jahren zusammen zu tragen, die nur überhaupt möglich ist.

Erkennst du, liebe Leserin und lieber Leser, das Muster? Es ist für den Aspekt des Seelischen, um den es hier geht, einerlei worin genau das Streben und die damit verbundene seelische Energie sich ergießt. Wichtig ist nur, dass es diese Energie gibt. In jedem Menschen.

Das Ego

Es wird Zeit, die Dinge beim Namen zu nennen. Wir reden hier über das Ego eines Menschen. In spirituellen Kreisen hat das Ego einen schlechten Leumund. Hier geht es oft darum, das Ego zu überwinden oder fallen zu lassen. Aber das Ego ist ein trickreicher Geselle. Es schleicht sich immer wieder zur Hintertür hinein. Wenn spirituelle Menschen stolz darauf sind, wie weit sie schon auf dem Weg des Ego-Verlustes gekommen sind, insbesondere natürlich im Vergleich zu den nicht so erleuchteten normalen Menschen, dann grinst das Ego heimlich. Es hat schon gewonnen, es hat dich fest im Griff, meist viel fester als die vermeintlich unerleuchteten, auf die du heimlich hinabsiehst. Du ahnst es schon: In genau diesem hinab sehen lebt das Ego, und zwar höchst komfortabel und vergnüglich. Wie könnte ich hinab sehen auf Andere, wenn ich nicht vorher Höhe gewonnen hätte. Wir sind also wieder beim Thema. Die Behauptung, sich selbst oder anderen gegenüber getätigt, man habe sein Ego überwunden, ist der höchste Triumpf des Egos überhaupt. Was für eine Illusion …

Nun hat dieser Teil der Seelenlandschaft, über welche das Ego im Wortsinne regiert, einige Eigentümlichkeiten. Wir sagten ja schon: Hier wirkt der Sog nach oben. Warum ist das so? Vielleicht einfach, weil es zu dieser Landschaft nun einmal gehört, dass es Erhebungen gibt, größere wie kleinere. Das Wasser kennt dies nicht. Hier gibt es allenfalls einmal Wellenberge größerer oder kleiner Art, aber die sind vergänglich, sie sind flüchtig. Sie können nicht erobert werden, man kann sie allenfalls reiten wie eine Surfer.

Ein berühmter Bergsteiger wurde anlässlich einer prominenten Erstbesteigung eines Gipfels einmal gefragt, warum er all die Strapazen und Gefahren auf sich nähme, warum er unbedingt auf diesen Gipfel wolle. Seine Antwort: „Weil er nun einmal da ist.“ Mehr braucht es nicht als Begründung, zumindest nicht für das Ego. Und – es geht nicht anders – natürlich entfernt man sich mit dem Gang in die Höhe. Man entfernt sich von den Menschen im Tal und man entfernt sich auch vom Wasser, also dem eigentlichen seelischen Element.

Das Ego hat also viel mit Konkurrenz zu tun, mit Wettstreit. Der Größte, der Erste, der Schnellste, der Beste usw. zu sein. Egal in was. Aber worum geht dabei wirklich?
Es geht um die Königswürde. Es geht darum, im Thronsaal und in vollem Ornat den Thron zu besetzen, die Königswürde zu übernehmen. Die herausgehobene Würde ist hier das Schlüsselwort, das eigentliche Motiv. In welchem der zahlreichen Thronsäle sich das Drama abspielt ist dafür genau so wenig wichtig wie die Frage, ob der Königsmantel aus Hermelin ist oder einem anderen Stoff oder wie viel Gewicht in reinem Gold der Reichsapfel oder andere Insignien auf die Waage bringt.

Das Ego ist männlich

Wir hatten gesagt, die Seele selber ist weiblich, ist eine weibliche Landschaft. Aber mitten in ihrem Zentrum finden wir etwas zutiefst männliches. Dieser Teil der Landschaft ist männlich und kann nicht anders als männlich ausgedrückt werden. Ich hatte oben immer die männliche Form verwendet und in der Tat: Es geht hier um den König. Nicht um die Königin. Auch als Frau geht es für dich in diesem Sektor der seelischen Gefilde um den Königsthron. In seiner männlichen Form.

Hier geht es um den Drang zum Höheren, der Entwicklung in die eigene Größe, möglichst die größere Größe. Hier herrscht das Prinzip des Wettbewerbs, des Sich-Messens, des Sich-Vergleichens, der Konkurrenz und damit eben auch der Bewertungen, des Besser- oder Schlechter-Seins. Und dieses Prinzip ist ein genuin männliches. Solltest du eine Frau sein, fällt es dir vielleicht schwerer, dich damit anzufreunden. Nicht nur, damit anzufreunden, dass es das Prinzip gibt, sondern dass es dieses Prinzip in dir gibt. Falls du glauben solltest, du habest das Prinzip des Konkurrierens und des Wettbewerbs nicht in dir (das überlässt du gerne den zurückgebliebenen Neandertal-Männern) dann sei dir versichert: Du täuschst dich!

Allein die Abgrenzung, die du vornimmst, spricht ja schon Bände. Diese Abgrenzung selber ist genau das Motiv, um das es geht. Weil: natürlich denkst du es dir genau so, dass du damit überlegen bist, irgendwie weiter in deiner Entwicklung, reifer, aufgeklärter, friedlicher usw. Wie gesagt: Da kichert dein (männliches) Ego im Innern und feixt sich eins. Je mehr du ihm versuchst zu entkommen, desto fester hat er dich im Griff.

Das ist auch nicht weiter schlimm, vorausgesetzt du weißt darum, dass es so ist und machst dir da keine Illusionen. Dann ist es harmlos und kann sogar recht gemütlich gelebt werden.

Der Mittelteil der seelischen Landschaft in der Astrologie

Wir finden die Entsprechung dieser Gliederung der seelischen Landschaft natürlich auch in der Astrologie. Nehmen wir sie einfach einmal als ein gut 3000 Jahre altes Weisheitssystem, dass sich nur halten konnte, weil es zu Grundstrukturen in unserer Seele spricht, und zwar nicht so sehr in seinen Worten sondern in seinen Bildern, vergleichbar mit den uralten Sagen und Mythen, die ebenso zu uns durch Bilder sprechen, die in Resonanz gehen mit den inneren Bildern der Seele, den Archetypten in der Seele.

Wir hatten im letzten Beitrag gesagt, der Bereich der Seele ist im Wesen zutiefst weiblich. In der Astrologie wird die seelische Landschaft durch den zweiten Sektor, die Häuser 4-6, verkörpert. Und hier finden wir eben an der Spitze dieses seelischen Sektors das 4. Haus und dies entspricht im Wesen dem Zeichen Krebs sowie dem Mond als stoffliche Verkörperung des Prinzips. Und beides ist weiblich bis in die letzte Faser. Aber in der Mitte dieses Quadranten, im 5. Haus, finden wir das Zeichen Löwe und die Sonne. Und das ist genau dein Ego oder eben deine Königswürde. Hier findest du die Kraft und Energie zum Handeln, zum Gestalten und eben auch zum Sich-Durchsetzen. Und ja, wir kommen dem nicht aus: Dies alles steht im Zeichen des männlichen Prinzips.

Es ist bemerkenswert und will gut verstanden werden: In der Mitte, sozusagen im Herzen oder im Kern des Weiblichen steht das Männliche. Und beides sozusagen in Reinform. Es ist kaum möglich, hier nicht an das bekannte Yin-Yang-Symbol zu denken als im Wortsinne Ver-SinnBild-lichung: Ein Bild für einen tieferen Sinn. Es ist eben so: Im Auge des Hurrikans ist es still.

Nun wirst du dich vielleicht fragen: Moment mal, die Landschaft des Seelischen besteht doch laut Astrologie aus drei Teilen (Häusern). Worin besteht denn jetzt der dritte Sektor dieser Landschaft?

Davon soll im nächsten Beitrag die Rede sein.

Über das Seelische (II) – Die Seele ist weiblich

Wir können die Seele nicht wirklich mit Worten beschreiben im Sinne einer letztgültigen Definition, was die Seele ist. Ist wir können sie auch nicht vermessen. Wir können nur einzelne Aspekte von seelischen Bewegungen, wie sie sich in der Anschauung zeigen, umkreisen. Hier nun ein weiterer Aspekt des Seelischen: Die Seele ist – man möchte sagen: zutiefst – weiblich.

Wie kommt man zu dieser Aussage? Nun, man kann es prüfen. Wenn du dir die Frage stellst „ist die Seele männlich oder weiblich oder keins von beiden?“ und dann darauf achtest, welcher gefühlsmäßiger Eindruck sich als Antwort auf diese Frage einstellt, als allererster Impuls noch bevor der Verstand mit seinen Begründungsversuchen einsetzt – dann wir diese intuitive Antwort höchstwahrscheinlich „weiblich“ lauten.

Was bedeutet dieses implizite Wissen über die Weiblichkeit der Seele? Bedeutet es, dass Männer keine Seele haben oder keine seelischen Wesen sind? Natürlich nicht. Es ist eher so, dass die Seele und ihre Äußerungen die Signatur des Weiblichen tragen.

Die Mutter und das Kind als Ikone des Seelischen und der Weiblichkeit

Die christliche Bilderwelt ist voller Abbildungen von Maria mit dem Jesus-Kind. Diese Ikonen bewegten und bewegen über die Jahrhunderte hinweg etwas in der Seele, sie haben einen starken seelischen Gehalt, sie sprechen zu der Seele. Generell hat das Thema einer Mutter und ihres Säuglings oder Kleinkindes etwas Heiliges.

Die Bewegung des Säuglings hin zur Mutterbrust ist die erste Bewegung eines Neugeborenen und gleichzeitig die erste seelische Bewegung. Wird sie gehindert oder unterbrochen, hat dies weitreichende seelische Folgen. Sie ist die erste in einer ganzen Reihe von seelischen Hin-Bewegungen in der Entwicklung.
In der Aufstellungsarbeit gibt es das Grundthema der unterbrochenen Hinbewegung und der Heilung dieser unterbrochenen Bewegung zum Beispiel über Aufstellungen.

Die Mutter und ihr (Klein)Kind sind mit den dort eingewebten Themen der Bedürftigkeit, der Versorgung, des Schutzes und der Nähe sowie des Körperkontakts etwas Ur-Seelisches und gleichzeitig etwas Ur-Weibliches. Die Möglichkeit der Schwangerschaft, der Geburt und des Stillens, es lässt sich gar nicht anders als weiblich denken.

In der Astrologie steht für dieses Ur-Bild der Mutter und des Kindes, für diesen Archetyp, das Zeichen Krebs. Das Zeichen Krebs ist das vierte Zeichen im Tierkreis und mit ihm beginnt der zweite Quadrant, die zweite von vier Dreiergruppen in den zwölf Zeichen. Der zweite Quadrant wiederum steht für das Feld der Seele. Auch hier haben wir wieder die Verbindung von Seele und Mutter/Kind und Weiblich, dies ist in der astrologischen Symbolik der Ursprung der Seele.

Das Element Wasser ist seelisch und weiblich

Wir können die Symbolik und die Assoziationen noch etwas weiter treiben. Das Tierkreiszeichen Krebs steht symbolisch auch für das Element Wasser. Und eine der symbolischen Assoziationen zum Wasserelement ist die Seelentiefe.

Einer Leserin verdanke ich den Hinweis, dass das deutsche Wort Seele etymologisch (möglicherweise) aus dem germanischen Wortstamm für See herrührt. Sie schreibt dazu: „Vielleicht ist es die kleine See in uns, die bewegt auf die Dinge von außen reagiert, sie quasi spiegelt.“

Das Wasser – und Wasser steht hier für das archetypisch weibliche und für die Seele – spiegelt uns in unserem so-Sein. In ihm können wir uns erkennen. Und gleichzeitig wird das Wasser bewegt, wenn ein Gegenstand wie etwa ein Stein in es hineinfällt. Es entstehen dann Wellen, die von dem Eintrittspunkt ausstrahlen, während das, was das Wasser (die Seele) angeregt hat, von ihr vollständig umschlossen und aufgenommen wird. Auch dies, das Umschließen und vollständige Aufnehmen von etwas, genau so wie es ist, ist zutiefst weiblich.

Aber nicht nur materielle Gegenstände werden vom Wasser vollständig aufgenommen, wenn sie in es hineinfallen. Auch Informationen, Gedanken und Gefühle, die selber wieder Schwingungen sind, werden vom Medium Wasser angenommen und in ihm aufbewahrt.
Besonders anschaulich wird dieser Zusammenhang in den Arbeiten des Japaners Masaru Emoto. Er konnte zeigen, dass Wasser, welches mit unterschiedlichen Gedanken oder Gefühlen oder auch Musik „bestrahlt“ wurde, unterschiedliche Kristallstrukturen auf der mikroskopischen Ebene ausbildet[1]. Je nach Qualität des „Inputs“ entstehen hochgeordnete und harmonische oder eben ungeordnete, chaotische, „hässliche“ Strukturen. Auch hier erkennen wir wieder das aufnehmende Prinzip.
Ganz ähnliches finden wir im Wirkprinzip homöopathischer Mittel. Hier wirkt im Wesentlichen kein Stoff, sondern einen Information als Medikament. Die Information spricht den geistig-seelischen Hintergrund einer Erkrankung an und heilt so den Körper. Im Gegensatz zur Allopathie als männliches Prinzip wäre dies das weibliche Prinzip in der Medizin. Und wie wird ein homöopathisches Mittel hergestellt? Durch Verschüttelung in Wasser. Auch hier finden wir wieder den Dreiklang Seele-Weiblich-Wasser.

Wenn wir uns die Begegnung von Wasser und Land, die Küstenlinie, anschauen, so scheint es zunächst einmal so, als ob das Wasser der Topologie des Landes folgt, sich passiv an sie anpasst. Gleichzeitig ist es aber so, dass tatsächlich das Wasser die Küstenlandschaft formt und gestaltet, wenn auch über längere Zeiträume. Das weiche Wasser formt den Stein.

Im ersten Teil dieser kleinen Serie über das Seelische ging es um das Lebendige, wie der Körper mit seiner Materie durch die Seele lebendig wird. Von hier lässt sich der Faden bruchlos weiterspinnen sowohl zum Wasser wie zum Weiblichen. Wasser ist Leben, lebensspendend, wir bestehen größtenteils aus Wasser, als Landlebewesen sind wir evolutionär einmal aus dem Wasser gekommen. Und wir sind alle durch eine Frau in diese Welt und in dieses Leben hineingeboren.

Man könnte diese Symbolik noch endlos weiter ausführen, aber für unsere Zwecke des Umkreisens der Welt des Seelischen mag es genügend deutlich geworden sein: Ein Aspekt des Seelischen ist, es ist im Kern und im Ursprung weiblich und trägt die Insignien des Wasserelements.

Allerdings wäre es ein Missverständnis, zu sagen, die Seele sei nur weiblich, auch wenn sie es rein sprachlich im grammatikalischen Geschlecht nicht nur in der deutschen Sprache natürlich ist. Die Seele hat aber auch einen männlichen Aspekt, davon soll im nächsten Beitrag die Rede sein.

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Wenn du, liebe Leserin oder lieber Leser, Vorschläge oder Fragen bzw. Anregungen für weitere Aspekte in dieser Serie über das Seelische hast, lasse es mich wissen unter kontakt@seelen-bewegung.de oder hier im Kommentarbereich.
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[1] Eine Bildersuche in einer Internet-Suchmaschine liefert sofort vielfältiges Anschauungsmaterial.

Über das Seelische (I): Die Beseelung als Lebendigkeit

Gibt es eine Seele? Hat schon einmal jemand eine Seele gesehen oder gar vermessen. Kann man überhaupt über die Seele oder das Seelische, wenn es so etwas gibt, etwas sagen? Drei Fragen.

Die erste Frage werden die meisten Menschen bejahen wollen. Wenn man jemanden fragen würde, ob er oder sie eine Seele habe oder ein beseeltes Wesen sei, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass diese Annahme bestätigt würde. Manche Menschen allerdings würden die Existenz einer Seele bestreiten. Es gibt auch manchmal die Ansicht, dass Alles als seelisch erlebte nur der subjektive Widerschein von Mustern neuronaler Aktivität ist, die sich naturgesetzmäßig entwickeln. Und diese Naturgesetze und naturgesetzlichen Prozesse in den Nervenzellen sei das einzig Reale, das empfundene subjektive Erleben dagegen eine Illusion.

Zur zweiten Frage gibt es einen recht bekannten Witz von einem Chirurgen, der gesagt haben soll, er habe schon Tausende von menschlichen Körpern aufgeschnitten, dabei alles mögliche zu sehen bekommen, aber noch nie so etwas wie eine Seele.

Dies bringt uns gleich zur dritten Frage: Wenn die Seele also nicht sichtbar und nicht naturwissenschaftlich beziffert werden kann, wie kann man dann über darüber sprechen? Wie fassen wir etwas mit sprachlichen Mitteln, dass nicht zu sehen und zu greifen ist, von dem wir aber ahnen oder spüren, dass es vorhanden ist?

Nun, tatsächlich könnte man zur letzten Frage sagen: Eigentlich kann man über die Seele nichts sagen. Zumindest nichts was definitiv wäre, was unstrittig wäre und was gleichzeitig die Seele und ihr Wirken umfassend beschreibt. Die Seele in ihrer Gänze entzieht sich einer solchen Beschreibung. Allerdings zeigt sich die Seele und die Wirksamkeit von seelischen Bewegungen immer wieder, allerdings immer nur teilweise, als kleinen Zipfel, den wir erhaschen, als Fragment dessen, was wir als das Seelische zu fassen bekommen möchten. Die Seele in Gänze zu fassen zu bekommen, dieses Vorhaben ist wohl zum Scheitern verurteilt. Mir scheint: Dazu sind wir als Menschen zu klein und sie ist dafür zu groß.

Allerdings können wir uns ihr annähern. Wir können sie sprachlich umkreisen. Wir können auf einige Zipfel in der Wirkung der Seele mit Sprache hinweisen. Unser Verständnis der Seele wird dabei unvollständig bleiben (müssen) und vielleicht scheitern, aber die Hoffnung bleibt, es könnte ein Scheitern nach vorne oder nach oben sein.

In diesem Blogbeitrag und in weiteren in den folgenden Monaten will ich den Versuch unternehmen, zumindest einige dieser Zipfel, die wir manchmal erhaschen können, zu beschreiben.

Die Seele als das Prinzip des Lebendigen im Körper

Wenn wir unseren Körper betrachten, so ist er lebendig bis wir sterben. Was heißt das? Im Körper finden eine unermessliche Vielzahl von Prozessen statt, die Organe sind in ihrer Funktion aufeinander abgestimmt und greifen ineinander, um das Leben aufrecht zu erhalten. Innerhalb der Organe leisten eine Vielzahl von Zellen dasselbe, innerhalb der Zellen eine Vielzahl von Organellen und Zellfunktionen ebenso. Die einzelnen Zellen erneuern sich ständig, Zellen sterben ab und werden durch neue ersetzt, manche Zellen erneuern sich ständig in wenigen Tagen, andere innerhalb von Monaten oder Jahren. Und trotz des beständigen Austausches von Zellen, bei dem in uns nach spätestens sieben Jahren keine Zelle mehr identisch ist, bleiben wir derselbe Mensch. Bis wir sterben. Dann erlischt die Organisation des lebendigen Prozesses. Das Fleisch zersetzt sich, löst sich auf, bis irgendwann vom Körper buchstäblich nichts, aber auch gar nichts mehr übrig ist.

Wir könnten also sagen, dass die Seele das Organisationsprinzip des Lebendigen ist. Was lebendig ist, ist beseelt. Und am Umschlagspunkt, wenn das Leben den Körper verlässt und die Organisation des lebendigen Körpers zum Erliegen kommt, dann sagen wir, dass die Seele den Körper verlassen hat. Ab diesem Punkt gibt es im Körper nur noch Zerfall. Mit der Seele ist das Leben gewichen.

Aber nicht nur im Körper des einzelnen Menschen dient die Seele offenbar dem Lebendigen. Sie dient auch dem Fortbestand des Lebendigen über die einzelnen Körper hinaus. Das Leben setzt sich fort in unseren Kindern. Und die Liebe in der Paarbeziehung, die Sexualität, die Liebe und Fürsorge der Eltern für die Kinder sind offensichtlich Prozesse mit seelischer Beteiligung, die für den Fortbestand des Lebens verantwortlich sind.

Die Seele im Gegensatz zum maschinellen Automatismus

Im Film „Modern Times“ mit Charlie Chaplin von 1936 gibt es eine recht bekannte Szene, die „Factory Szene“, die Fabrik-Szene (4:09 Minuten):

Was wird hier gezeigt? Wir sehen, wie ein lebendiger Mensch zur Maschine wird, zu einem Anhängsel einer großen Maschinerie, bis er selber buchstäblich in die Maschine hineingesogen wird. Wie passiert dies? Es passiert dadurch, dass er sich in seiner lebendigen Körperlichkeit vorher selber zur Maschine gemacht hat, sich zur Maschine hat machen müssen. Die Arbeitsbewegungen des Körpers selber sind maschinell geworden.
Man kann beim Ansehen der Szene direkt sehen, wie der Körper im mechanischen Vollzug „seelenlos“ geworden ist. Das trifft es nicht ganz, „seelenarm“ trifft es wohl besser. Man kann förmlich sehen, wie die Seele in diesen monotonen körperlichen Verrichtungen sich – gelangweilt – schlafen legt. In diesem Sinn ist der Film in seiner Zeit verstanden worden: Als bildhafte Anklage gegen eine seelenlose, besser seelenverarmte Arbeitswelt. Und in dieser Botschaft wirkt er auch heute noch.

Aber wir sehen auch, wie sich die Seele wehrt (ab 1:20 Minuten), wiederständig wird, wie sie sozusagen „hinterrücks“ wieder in den Körper einzieht und am Bewusstsein vorbei die Kontrolle über den Körper übernimmt. Dies erscheint von außen betrachtet als Verrücktheit, was es im Wortsinne auch ist. Irgendetwas in unserem Protagonisten ist an eine andere Stelle gerückt. Im Film wird daraus Komik generiert.

Die lebendige Seele in uns wirkt also im Gegensatz zum Maschinenhaften in uns, im Gegensatz zu unseren Automatismen. Auch dies ist ein Aspekt des Lebendigen, im Vergleich erscheint die monotone Routine tot, unlebendig.

Die Seele im Gegensatz zu „toten“ Gedanken und Ideen

Und noch in etwas anderem erscheint uns das Seelische als Prinzip des Lebendigen und damit im Gegensatz zu etwas Erstarrtem, Geronnenem, Unlebendigem und Toten: In der Welt der Ideen, gedanklichen Konzepte und Ideologien. Ein gedankliches Konzept oder eine Ideologie selber ist in sich erst einmal etwas Totes. Sie finden ihren Ausdruck (im Wortsinne!) im gedruckten oder auch im gesprochenen Wort, aber sie leben nicht.

Um zu leben, müssen sich Ideen lebendiger Körper bemächtigen. Und das geht nur über die Seele. Eine Idee, die einen Menschen oder auch sehr viele Menschen erfasst und sie beseelt, kann diese Menschen dann in Bewegung bringen, in Aktivität, in körperlichen Vollzug und oft genug in den Kampf. So können Ideen sehr wirkmächtig werden, aber nur wenn sie über die Seele lebendige Körper ergreifen und steuern. Für sich alleine ist eine Idee impotent. Dieser Prozess der „Begeisterung“ (eine „Geist“, eine Idee senkt, sich in den Körper und beseelt ihn) geht nicht ohne Seele. Die Resultate dieser Begeisterung mögen „gut“ oder fortschrittlich oder auch fatal und zerstörerisch in ihrem politischen oder religiösen Fanatismus sein, sie sind in jedem Fall ein seelischer Prozess.

Was passiert aber, wenn Ideen oder Ideologien ihre Macht verlieren, nicht mehr auf lebendige Resonanz in lebendigen Menschen stoßen? Sie sterben. Sie werden wieder zu dem, was sie waren, bevor sie die Be-Geist-erung lebendiger Menschen erfasste: Tot. Tote Worte.

Auch die Ausflüsse von Ideologien in Form von Regeln erscheinen dann als seelenlos, sinnlos, wenn diese Ideologien sich überlebt haben und „aus der Zeit“ gefallen sind. Die Seele reibt sich dann an diesen Regeln, sie werden nur noch als sinnfreie Einschränkung des Lebendigen und der seelischen Impulse erlebt.

Dies wäre also eine erste Antwort auf die Natur des Seelischen: Es ist das Prinzip des Lebendigen, das organisierende Prinzip der Materie im Körper, der Gegensatz sowohl zu starren Abläufen und Automatismen wie auch zu überlebten Ideen und Regeln.

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Wie bereits erwähnt ist dies der erste Teil einer kleinen Folge von Beiträgen, die sich in den nächsten Monaten mit dem Seelischen und seinen Eigenheiten beschäftigen werden.
Wenn du, liebe Leserin oder lieber Leser, Vorschläge oder Fragen bzw. Anregungen für weitere Beiträge in diesem Themenbereich hast, lasse es mich wissen unter kontakt@seelen-bewegung.de oder hier im Kommentarbereich. (Leider ist dazu eine Registrierung bei WordPress notwendig aufgrund der Flut von Spam-Kommentaren bei komplett offener Kommentarfunktion.)

Die Bindung und die Zugehörigkeit

Dieser Text ist geschrieben in den Tagen nach Weihnachten 2020 Die Weihnachtstage standen in diesem Jahr unter besonderen Einschränkungen. In Manchem konnte nicht so Weihnachten gefeiert werden, wie wir das gewohnt waren. Gleichzeitig haben Viele, wenn nicht die Meisten, versucht, so viel wie möglich ihrer Weihnachtsgewohnheiten und Rituale sozusagen zu „retten“, so weit es eben möglich war.

Was wir an Weihnachten erleben, ist eine Bindung an bestimmte Formen und Gewohnheiten, dieses Fest zu feiern. Was bindet uns hier? Zu einem großen Teil bindet uns hier unsere Herkunft und die Traditionen, in denen wir aufgewachsen sind. Ihnen fühlen wir uns – oft unbewusst – verpflichtet und gleichzeitig zugehörig. Durch diese Zugehörigkeit dürfen wir sein, so ist das unterschwellige Gefühl.

Wenn zwei Menschen sich als Paar zusammen tun und vielleicht eine Familie gründen, dann kommt es gerade zu Anlässen wie Weihnachten dazu, dass hier die besondere Art, die Tage zu begehen, ausgehandelt werden muss. Jede der beiden Parteien bringt mit, was in ihrer Herkunftsfamilie wichtig war. Und da sich die beiden Herkunftsfamilien unterscheiden, passiert es meist so, dass manche Elemente aus der einen Herkunftsfamilie und manche aus der anderen übernommen werden und mitunter auch noch eigenen Elemente eingeführt werden, die es genau so nur bei diesem Paar oder dieser Familie gibt.

Es wird also in den Weihnachtsbräuchen einer jeden Familie etwas vollzogen, was die jeweiligen Wurzeln und die Herkunft sowohl der einen wie der anderen Seite achtet und ehrt, sie verbindet und darüber hinaus auch noch etwas Eigenes schafft. In der Anfangszeit einer Partnerschaft muss dies erst noch ausgehandelt werden, was oft nicht ganz konfliktfrei vonstatten geht.

Wie Bindung und Zugehörigkeit dem Leben und seiner Entfaltung dient

Es gibt solche Bindungen an Gewohnheiten und Herkunft in mannigfacher Gestalt im Leben. Und manchmal wirken solche Bindungen auch einschränkend, dem Leben und seiner Entfaltung, seiner Fülle entgegen gesetzt.

Es kann zum Beispiel vorkommen, dass jemand wenig Erfolg im Leben hat, obwohl alle Fähigkeiten, Kenntnisse und Anlagen dafür vorhanden wären. Im Rahmen von Familienaufstellung zeigt sich dann häufig, dass dieser Mensch sich vielleicht seelisch gebunden fühlt an seine Herkunftsfamilie. Wenn in der Herkunftsfamilie wenig Erfolg war, dann würde ich mich – so der seelische Impuls – über meine Herkunftsfamilie erheben und sie verraten, wenn ich selber erfolgreich bin. Und dann kann ich den Weg des Erfolges immer nur bis zu einem bestimmten Punkt gehen und dann zwingt mich irgendetwas in meinem Inneren, in meinem Unbewussten, diesen Erfolg zu sabotieren. Warum? Weil ich sonst, so sieht es vielleicht die Seele, die Zugehörigkeit zu meiner Herkunft und meinen Wurzeln verlieren würde.

Eine gute Verwurzelung zu haben dient natürlich dem Lebendigen. Aber die reine Wiederholung, das „ich mache es genau wie du“, kann auch lebensfeindlich sein. Wenn ich bei dem, was einmal war, verharre, verpasse ich die Entwicklung. Die Entwicklung des Lebendigen, die mich einerseits in mein Eigenes hinein bringen möchte und die andererseits möchte, dass ich mich im Strom des Lebens an veränderte Bedingungen anpasse, dass ich auch das Neue gewinne.

Solche Bindungen an Dinge und Geschehnisse in der Herkunftsfamilie, die uns von der Entfaltung des eigenen Lebens abhalten, nennen wir in der Aufstellungsarbeit Verstrickungen. Und die Lösung dieser Verstrickungen sieht ganz allgemein gesprochen meist so aus, dass hier zwei Schritte zu tun sind:

1. Die tiefe und bewusste Annerkennung und Würdigung dessen was war und vor Allem meiner Eltern, von denen ich mein Leben habe. Und über diese hinaus nehme ich auch deren Herkunft und alles, was dazu gehörte, in den Blick. Mit Würdigung in ihrem jeweiligen So-Sein und im Bewusstsein: Ohne all dies – wie immer es auch im Einzelnen gewesen sein mag – wäre ich nicht.

2. Nach dieser Vergewisserung meiner Wurzeln, nach dem Blick in die Tiefe der Zeit, in die Vergangenheit, drehe ich mich um. Ich nehme das, was ich erhalten habe vollständig an, um etwas Neues, etwas Eigenes daraus zu machen: Mit dem Blick auf die Zukunft und die jetzt unmittelbar vor mir liegenden Schritte und Aufgaben.

Mir scheint, dass die Art, wie sich in Familien die jeweils besonderen Weihnachtsgebräuche entwickeln, in dem Sie von beiden Herkunftsfamilien etwas aufnehmen und damit ehren und noch etwas vollständig Eigenes hinzu tun, ein schönes Beispiel für diesen Prozess zu sein, der dem Leben und der Entwicklung dient, in dem er aus der Verbindungen von verschiedenem Althergebrachtem etwas Neues und Eigenes gebiert.

 

Die soziale Distanz

Ein Virus beschert uns die soziale Distanzierung. Das ist nicht schön. Denn trotz allem – trotz zunehmender Individualisierung in der Moderne und noch stärker in der Postmoderne – ist der Mensch eben auch ein soziales Wesen. Die Verordnungen und Empfehlungen heißen uns Abstand voneinander zu halten. Die Maske signalisiert – und sei es nur unbewusst: Vorsicht! Dein Mitmensch ist gefährlich! Komm ihm lieber nicht zu nahe.

Aber noch eine andere Art von sozialer Distanzierung erleben wir derzeit. Und diese Distanzierung, ja mitunter Feindschaft, geht als Riss manchmal mitten durch Familien, Freundschaften, Partnerschaften. Es geht um die Bewertung dieser sog. Pandemie und ihrer politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Folgen. (Für manche geht es auch um die Bewertung der dahinter vermuteten Absichten).

Für die einen ist es eine Art Naturkatastrophe, die nur durch gemeinschaftliche und solidarische Anstrengungen in ihren Folgen beherrscht werden kann. Hier ist die Zustimmung zu und die Befolgung der Maßnahmen und Einschränkungen ein Gebot der Solidarität. Es ist ein Opfer, das an die Gemeinschaft gebracht werden muss, wenn diese, die Gemeinschaft, nicht schwer geschädigt werden soll. Wer nicht mittut, ist ein Gefährder, gefährdet Alle aus egoistischer Eigenbrötlerei.
Für Andere erscheint eine totalitäre Diktatur zu entstehen, welche Grundrechte sowie Freiheit und Selbstverantwortung gewollt opfert. Die „Loyalisten“, diejenigen, welche loyal die Einschränkungen tragen so gut sie können, sind die dummen Schafe, welche unwissend zur Schlachtbank geführt werden. Es droht der große Umbau, „the great reset“ nicht nur einzelner Gesellschaften sondern für die gesamte Weltbevölkerung. Die Richtung geht in eine neue überstaatliche Weltordnung („the new world order“) mit dystopischen Zügen.

Wie gesagt: Dieser Riss geht durch soziale Beziehungen und führt noch einmal zu einer anderen Art von sozialer Distanz, die sich mitunter als soziale Feindschaft anfühlt. Die beiden Lager verhalten sich wie feindliche Stämme, Mitglieder des jeweils anderen Stammes werden sozial ausgegrenzt, sozial geächtet und sozial bekämpft. Dies geschieht in einer Situation, wo gerade wegen der verringerten Sozialkontakte die Pflege der bestehenden sozialen Kontakte umso wichtiger wäre – für die seelische wie auch körperliche Gesundheit.

Das Virus der Angst

Wenn wir den Feindseligkeiten im persönlichen Umfeld entgegenwirken wollen, sollten wir zunächst einmal anerkennen, dass auf beiden Seiten der Debatte eine profunde Angst besteht.

Auf der einen Seite die Angst vor einem unsichtbaren, aber heimtückischen Gegner, dem „Killervirus“. Überall und jederzeit kann er zuschlagen, es gibt keine wirklich sicheren Mittel der Gegenwehr für eine Gefahr, die im unsichtbaren bleibt. Das hat Anklänge an Horrorfilme und hinterlässt ein Gefühl ständiger latenter Bedrohung und gleichzeitiger Hilflosigkeit.

Auf der anderen Seite die Angst vor eine totalitären Diktatur, dem Absterben von Demokratie sowie Freiheits- und Menschenrechten. Dies vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung, dass Diktaturen, wenn überhaupt, nur in der Entstehungsphase verhindert werden können. „Wehret den Anfängen“ war ja nicht umsonst ein Motto unmittelbar nach dem Ende des Nationalsozialismus. Auch Anklänge an Erfahrungen in der DDR mögen bei manchem eine Rolle spielen. Das Zusammenspiel von Regierungen und Medien, bei dem Letztere die Ersteren eben nicht mehr eben nicht mehr kritisch sondern ausschließlich als befürwortendes Sprachrohr begleiten, währen kritische Stimmen gerade auch von Fachleuten ins Abseits des öffentlichen Diskurses gedrängt werden, tut ein Übriges, diese Ängste zu befeuern.

Beide Ängste sind tiefsitzend und zutiefst archaisch. Sie setzen an den ältesten Teilen unseres Nervensystems an, dem es nur und ausschließlich ums Überleben geht.

Mir scheint: Der erste und wichtigste Schritt im zwischenmenschlichen Bereich ist, anzuerkennen dass mein Gegenüber Angst hat und ich selber auch Angst habe. Angst macht eng, sprachlich haben Angst und Enge dieselbe Wortwurzel. Wir bekommen einen Scheuklappenblick, werden eng und rigide im Denken und im Sprechen.

Hier wäre eine Brücke zu schlagen. Der Feindschaft entgegen zu wirken, bedeutet ja: Wir müssen etwas finden, was wir gemein haben, was wir teilen. Das Geteilte wäre eben die Angst, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Ein Vorschlag

Es wäre vielleicht eine erste Übung, immer dann, wenn wir in einer argumentativen Auseinandersetzung mit jemandem aus unserem Nahfeld befinden und wenn wir merken, dass der Austausch „hitziger“ wird: Bevor ich antworte, bevor ich meine Sicht der Dinge und meine Argumente darlege, stelle ich mir die Frage: Kann ich nachfühlen, aus welcher Angst heraus mein Gegenüber motiviert ist, zu glauben, was er oder sie glaubt?
Das bedeutet, nicht nur mit dem Verstand ein Argument zu erfassen, sondern emotional erst einmal auf mich wirken zu lassen, welche Angst ist möglicherweise zwischen den Zeilen herauszuhören? Und dann in einem zweiten Schritt in mich selber hinein zu spüren: Welche Angst lässt dies in mir aufscheinen? Und dann erst zu antworten.

Dieser Vorschlag ist gedacht für den Kontext der direkten persönlichen Beziehungen, für das persönliche Nahfeld. Öffentliche politische Debatten sind ein anderes Feld mit anderen Regeln.
Der Vorschlag bedeutet auch nicht, eine Meinung nicht zu vertreten oder Argumente und Fakten, die man für überzeugend hält, nicht zu äußern. Es geht darum, die Qualität von Stammesdenken und Lagerfeindschaften aus den persönlichen Beziehungen heraus zu nehmen oder zumindest zu mildern.

Wenn wir uns in Auseinandersetzung und Debatten auf diesem Boden bewegen, der Anerkenntnis, dass du Angst hast und ich auch Angst habe, dann können solche Debatten sogar uns menschlich näher bringen, statt uns zu spalten.

In der praktischen Anwendung ist dies natürlich eine Kunst, die wie jede Kunst, geübt sein will.

Über das Helfen

Das Helfen hat einen guten Ruf. Viele Menschen sagen, es sei ihr Ziel, anderen Menschen zu helfen. Tatsächlich erfahren wir häufig, allerdings nicht immer, das Helfen als etwas Erhebendes oder Aufbauendes. Oft ist es ein größeres Glücksgefühl, jemanden helfen zu können, als selber etwas zu erlangen.

Das Helfen hat aber auch eine Schattenseite. Wenn wir zum Beispiel kleinen Kindern in dem Alter, wo sie es noch nicht gut können, zu sehr und zu oft helfen etwa beim Anziehen oder beim Schuhe zubinden, verhindern wir hier Lernen und Kompetenzerwerb, besonders wenn wir ungeduldig sind, weil es uns zu lange dauert, wenn die Kinder es selbst machen. Etwas Ähnliches passiert am anderen Ende des Lebens, bei alten Leuten, etwa in Pflegeeinrichtungen. Wenn hier zu stark und zu früh den alten Menschen etwas abgenommen wird, was sie – wenn vielleicht auch mit Mühe – selber tun könnten, verlieren sie diesen Aspekt der Selbstständigkeit schneller, als es eigentlich nötig wäre.

Helfer braucht Hilfsbedürftige

Ein anderer Aspekt der Schattenseite des Helfens ist: Der Helfer benötigt dringend, um helfen zu können, einen Hilfsbedürftigen. Das mag in manchen Fällen die Tendenz in sich tragen, andere Menschen in einem überzogenen Ausmaß als hilfebedürftig und damit als nicht kompetent und autonom anzusehen. Es kann sein, dass ein bestimmter Teil der Hilfsbedürftigkeit erst in der Interaktion zwischen Helfer und Hilfsbedürftigem entsteht. Und der (heimliche) Nutzen für den Helfer besteht dann darin, sich überlegen fühlen zu können. Der durchaus fragliche Nutzen auf Seiten der hilfeempfangenden Person wäre, etwas nicht selber tun zu müssen, was ich eigentlich durchaus selber tun könnte. Das ist kurzfristig entlastend, untergräbt aber auf längere Sicht meine Kompetenz und mein Selbstwirksamkeitsgefühl. Nicht umsonst ist in der Psychologie der Begriff der „erlernten Hilflosigkeit“ ein prominentes Konzept.

Wenn du, liebe Leserin und lieber Leser, zu denjenigen Menschen gehörst, die sich sehr oft zum helfenden Eingreifen aufgerufen fühlen, manchmal bis an den Rand der Erschöpfung, wäre eine ernsthafte Selbstprüfung angezeigt. Zu überprüfen wäre: In wie weit benötige ich die Hilflosigkeit anderer Personen? Brauche ich sie vielleicht auch deshalb, weil ohne meine Hilfsleistungen ich mit meiner eigenen Hilflosigkeit in bestimmten Lebensbereichen konfrontiert wäre, mich damit befassen müsste?
Man stelle sich das einfach einmal sehr lebendig vor: Wie wäre es, wenn es in meinem Umfeld keine schwachen, inkompetenten und hilfsbedürftigen Personen gäbe? Würde mir etwas fehlen? Was wäre die Leerstelle in mir, die sich dann auftäte?
Besonders intensiv ist diese – möglichst regelmäßige – Selbstprüfung natürlich für Personen angeraten, deren Profession das Helfen ist. Die Frage wäre hier: Sind wir nicht im Kern auch „hilflose Helfer“, wie ein Buchtitel des Psychoanalytikers Wolfgang Schmidbauer lautet[1].

Nun ist natürlich das Helfen nichts per se Schlechtes, nichts an sich Selbstsüchtiges, wie es vielleicht nach den obigen Ausführungen erscheinen mag. Menschen sind grundlegend auf andere Menschen bezogen und damit auch auf andere Menschen, auf ihre Hilfe, angewiesen. Und andererseits: Wer nicht helfen kann, wer nicht gebraucht wird, verkümmert.

Darf man helfen?

Das ist eine irritierende Frage. Vordergründig ist es ja so, dass man nicht nur helfen darf, sondern in vielen Situationen auch helfen muss. In manchen Situationen ist ein Nicht-Helfen als unterlassen Hilfeleistung ein Straftatbestand.

Also stellen wir die Frage lieber so: Wann darf ich helfen und wie weit darf ich helfen, wann sollte ich mich aus der Hilfeleistung zurückziehen?

Einfach ist es, wenn die Hilfeleistung unmittelbar und zwingend aus der Situation entspringt. Als Bild: Wenn jemand aus einem Boot über Bord fällt, dann werfe ich einen Rettungsring und eine Leine aus und manövriere das Boot so, dass der Person wieder an Bord geholfen werden kann. Dies verläuft im günstigsten Fall routiniert und automatisch, dafür werden diese Fälle auch geübt.
In solchen Situationen unmittelbarer, fast reflexhafter Hilfe ist die Hilfe unproblematisch. Vielleicht gerade deshalb, weil sie punktuell ist, eng beschränkt auf die konkrete und aktuelle Notsituation. Eigentlich ist es dann auch so: Nicht ich helfe, sondern die Hilfe fließt durch mich, weil ich nun mal zu dieser Zeit an diesem Ort bin.

Etwas schwieriger ist das Helfen, wenn es über einen längeren Zeitraum andauert. Hier ist es wichtig, damit der wirklich hilfreiche Rahmen gewahrt wird, dass es sich wirklich um eine Begegnung zwischen Erwachsenen handelt. Das bedeutet: Ich stelle mich als Helfender nicht über dich, auch nicht über deine Herkunft oder über dein Schicksal, welches dich hilfsbedürftig macht. Ich helfe auch nicht, um dein Schicksal und die damit für dich verbundenen Erfahrungen grundsätzlich zu wenden. Das wäre anmaßend.

Die Hilfe im Rahmen und in den Grenzen der „Ordnungen des Helfens[2]“ ist dagegen demütig. Ich gebe, nur so weit wie ich es habe und vermag und so weit, wie es vom Anderen genommen werden kann, ohne dass die persönliche Würde des Nehmenden leidet. Nicht mehr. Das kann auch bedeuten: Ich mute dem Hilfsbedürftigen etwas zu, in dem ich auf Hilfe, die über diese Grenzen hinausgeht, verzichte.
Ich helfe nur so weit es auch die äußeren Umstände erlauben und bleibe den durch diese Umstände gesetzten Grenzen gegenüber demütig, ich erkenne die Grenzen an, ich füge mich ihnen.
Ich helfe nur so weit, wie unbedingt nötig und erforderlich, dann ziehe ich mich zurück. Auch von den weitergehenden Erwartungen des Hilfeempfängers.
Ich enthalte mich der Entrüstung und Empörung denjenigen Personen und Umständen gegenüber, welche den Hilfsbedürftigen faktisch oder scheinbar in seine Lage gebracht haben. Wenn ich helfen will, müssen auch diese scheinbar feindlichen Personen oder Umstände einen Platz in meiner Seele, einen Platz in meinem Herzen haben. Diese Hilfe ist ohne Urteil, ist jenseits von Gut und Böse. Diese Hilfe ist auch ohne Bedauern, ohne den Wünsch, es möge anders sein, als es gerade ist, das heißt, ohne Mitleid dem Hilfesuchenden gegenüber[3].

Ein solches Helfen dient dem (Über)Leben, dem Wachstum und der Entwicklung. Ein solches Helfen ist einerseits zielgerichtet, aber auch gleichzeitig zurückgenommen.

Ein Helfen in diesem Sinne bedarf einer besonderen Wahrnehmung. In der Wahrnehmung setze ich mich der Situation so weit und so vollständig wie möglich aus und erkenne, was hier zu tun ist (und was nicht getan werden darf). Das kann nicht alleine durch Überlegung und auch nicht alleine aus vergangenen Erfahrungen hergeleitet werden. Die Wahrnehmung gelingt nur, wenn ich mich ganz auf die Person und Situation ausrichte, ohne – und hier wird es etwas paradox – etwas Bestimmtes zu wollen. Ich versuche, in umfassender Weise zu erfassen, was hier der unmittelbare und nächste Schritt ist, der ansteht.

Diese Hilfe ist von kurzer, vorübergehender Dauer, bleibt beim Wesentlichen und dem unmittelbar aufscheinendem nächsten Schritt – und zieht sich dann zurück. Sie stimmt allem zu, was die Hilfe überhaupt erst notwendig gemacht hat. Als Helfender bleibe ich dabei Im Einklang mit mir, ich liefere mich nicht aus, es bleibt ein Abstand. Ich bleibe frei vom Hilfsbedürftigen und der Hilfsbedürftige bleibt frei von mir.

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[1] Wolfgang Schmidbauer: Hilflose Helfer. Über die Problematik der helfenden Berufe. Rowohlt Verlag. 1992.
Der Autor prägt hier den Begriff des „Helfersyndroms“ für die negativen Auswirkungen übermäßiger Hilfe, die mitunter in sozialen Berufen anzutreffen ist.

[2] Auch dies ein Buchtitel. Bert Hellinger: Ordnungen des Helfens. Ein Schulungsbuch. Carl Auer Verlag. 2006.

[3] Das klingt zunächst hart. Gemeint ist aber der Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl. Dies wäre ein eigenes Thema. Hier nur so viel: Wenn wir uns einschwingen auf diese beiden Worte, „Mitleid“ auf der einen Seite und „Mitgefühl“ auf der anderen Seite, dann können wir den Unterschied spüren.

Über das Hinsehen

Das genau Hinsehen zu etwas, auf einen Zustand, einen Gegenstand, eine Beziehung oder auch auf mich selbst, ist ein Merkmal der Aufmerksamkeit und der Wachheit. So erkennen wir Situationen und können – oft intuitiv – angemessen handeln. Den Hinsehen entgegen steht meist eine Form von geistiger Abwesenheit, ein „in Gedanken sein“, manchmal auch ein in Vorurteilen verhaftet sein.

Eine besondere Bedeutung hat das Hinsehen im zwischenmenschlichen Kontakt. Und hier hat noch einmal eine besondere Stellung der Augenkontakt, wenn er etwas länger als nur flüchtig und für den Bruchteil einer Sekunde gehalten wird.
Man sagt, die Augen seien der Spiegel der Seele. Und tatsächlich spielt der Blickkontakt bei seelischen Bewegungen eine besonders bedeutsame Rolle.

In Familienaufstellungen ist ein Muster recht häufig zu beobachten, wenn die Beziehungen stark belastet sind, wenn es Vorwürfe, Verurteilungen und Abwertungen gibt: Es fällt den Protagonisten – egal ob in der eigenen Rolle oder als Stellvertreter – schwer, zu der Person wirklich hin zu schauen, geschweige denn Blickkontakt zu halten, mit der es eine erhebliche Belastung in der Beziehung gibt. Die einzige Ausnahme, die ich hier bislang festgestellt habe, ist: Wenn das Gefühl zur wichtigen anderen Person Wut ist und diese Wut wirklich ein Primärgefühl[1] ist. Dann geht es meist auch mit Blickkontakt.

Aber wenn die Belastung in der Beziehung dergestalt ist, dass es noch Vorwürfe gibt („das hättest du damals nicht tun dürfen!“) oder das es noch Forderungen gibt („du bist mir noch etwas schuldig!“) oder das ich versuche, im Nachhinein noch etwas zu erhalten, was früher gefehlt hat an Liebe, Zuwendung und Aufmerksamkeit, wenn ich jammere oder quengele, dann stellt sich fast immer ein, dass ich meinem Gegenüber nicht in die Augen sehen kann.

Und im Gegenzug, wenn ich z.B. einer Aufstellung, aufgefordert werde „schau da mal hin“ oder „sieh ihm/ihr in die Augen dabei“, zeigt sich: Die alte Emotion fällt in sich zusammen. Meist geschieht auch eine unmittelbare Veränderung in der Körperhaltung. Und oft bricht dann, in diesen Momenten, die ursprüngliche Liebe sich Bahn, insbesondere im Verhältnis von Eltern und Kindern.
Und dann kann man oft beobachten: Wenn jetzt der Protagonist in der Aufstellung wieder wegschaut, auf den Boden schaut, an die Decke schaut oder gar die Augen schließt, dann geht sofort das Gedankenkarussell der Urteile, der Verurteilung und der Verbitterung wieder los.
Manchmal schwanken Menschen in Aufstellung zwischen diesen beiden seelischen Bewegungen, dem Hinschauen und dem sich wieder Abwenden (und damit den alten Gefühlen und Verurteilungen wieder sich wieder Zuwenden) mehrmals hin und her. Und immer ist es das Hinschauen und der Blickkontakt, der – wenn überhaupt – die alten emotionalen Blockaden aufbrechen kann.

Ein kleines Experiment – der virtuelle Blickkontakt

Man kann dieses Phänomen auch ganz leicht selber nachfühlen. Wenn du dir einmal für einen kurzen Moment eine Person vorstellst, mit der du (noch) nicht im Frieden bist. Das kann eine Familienmitglied sein, besonders ein Elternteil, aber vielleicht auch ein ehemaliger Freund, der dich betrogen hat, ein Arbeitskollege, der dich hintergangen hat … oder … oder … oder …

Jedenfalls: Du stellst dir diese Person innerlich vor, du stellst sie bildlich vor dich hin. Und auch du stehst, in einem Abstand von vielleicht 3 Metern direkt vor dieser Person.
Und dann schaust du dieser Person in die Augen. Und du hältst den Blick, lange und ruhig. Ohne dabei etwas zu sagen. Und ohne mit dem Blick etwas mitteilen oder etwas erfahren zu wollen. Du schaust einfach. Du schaust dieser Person in die Augen.

Was passiert in diesem Moment mit deinen Urteilen über diese Person? Denkst du noch an diese Urteile? Denkst du überhaupt noch? Was ist mit deinem „übel nehmen“? Ist es in diesem Moment, in diesem Blickkontakt, noch präsent?

 


[1] Ein Primärgefühl ist meist heftig, aber kurz, es erfasst uns für einen Moment komplett. Es ist rein und unverfälscht. Es ist der Situation angemessen und wird sofort von jedem außenstehenden Beobachter verstanden. Primärgefühle ebben meist schnell ab und haben eine reinigende Wirkung.
Sekundärgefühle sind dagegen oft „theatralisch“, lassen dritte Personen verwirrt zurück und wirken insgesamt nicht echt. Sie sind häufig manipulativ, sie werden ausgedrückt, um etwas bei jemand anderem zu erreichen. Und sie sind häufig „Deckgefühle“. Hinter oder unter dem präsentierten Gefühl steht eigentlich ein anderes Gefühl, dass aber nicht gezeigt wird. Wenn Wut z.B. ein Sekundärgefühl ist, steht dahinter oft Trauer, die vermieden werden soll. Nach dem Motto: Bevor ich traurig werde, werde ich lieber wütend. Mehr dazu hier.

Das Vergeben

Jemandem zu vergeben, der uns etwas angetan hat oder der uns in irgendeiner Weise gekränkt hat, ist ein befreiender Akt. Der Vergebende befreit sich selbst dabei vom Schmerz, Groll, Zorn oder dem Wunsch nach Vergeltung. Ich befreie mich selbst von emotionalem Stress aus der Vergangenheit, wenn es mit gelingt, zu vergeben. Der Akt des Vergebens ist auch immer – zumindest als Chance – die Gelegenheit für einen Neuanfang in der Beziehung zwischen zwei Menschen. Wie kann ich offen und liebevoll mit einem Menschen umgehen, wenn ich ihm nicht vergeben habe, was immer er mir vermeintlich oder tatsächlich angetan hat? Das scheint schwer möglich.

Vergeben ist also in erster Linie etwas, was ich für mich tue, nicht für den Anderen. Ich selber möchte mich von einem Gift in meinem Innenleben befreien, das mein Leben vergiftet, nicht das Leben des Anderen.
Doch Vergebung kostet auch. Zunächst kostet es eine Überwindung. Es ist etwas loszulassen, etwas aufzugeben: Mein Groll, mein Vergeltungsbedürfnis, mein Recht-haben-wollen und vielleicht auch eine bestimmte Form von Gerechtigkeitsempfinden. Was auch aufzugeben ist: Das wohlige Gefühl, dass ich ja der Unschuldige und Gute bin und der Andere der Böse.

Vergeben und vergessen?

Vergeben ist nicht einfach. Und oft geschieht es nur an der Oberfläche. Dann sagen wir, uns und anderen, dies oder jenes habe ich Person x vergeben. Und doch merken wir: Wenn ein bestimmtes Stichwort fällt, werden unsere emotionalen Knöpfe wieder gedrückt. Dann haben wir tatsächlich nicht vergeben, sondern "untern den Teppich gekehrt".

Es gibt einen ultimativen Test, ob wir wirklich vergeben haben. Und der ist: Wenn wir uns nicht einmal erinnern, wenn wir mit dieser Person zu tun haben, sei es real oder gedanklich, dass es einmal etwas zu vergeben gab. Wenn es in der Begegnung mit der fraglichen Person so ist, als hätte es den zu vergebenden Vorfall nie gegeben, wenn der Vorfall keine Rolle mehr spielt, weder gedanklich noch emotional, wenn wir dieser Person begegnen oder an sie denken. Du bist dann in der Begegnung mit diesem Menschen im Wortsinne frei von dem Vorfall oder den Vorfällen in der Vergangenheit. Es regen sich innerlich keine unangenehmen Gefühle mehr.

Bei diesem Test fallen die meisten Vergebungsprozesse durch.

Die Überhebung – die dunkle Seite der Vergebung

Es gibt noch eine andere Art der scheinbaren Vergebung, bei welcher die Befreiung nicht wirklich erreicht wird: Wenn wir uns über die Person stellen, der wir vergeben wollen. Manchmal reden wir genau so, wenn wir denken: "Da stehe ich doch drüber". Wir sagen damit: Das berührt mich nicht (mehr), weil ich eine ganz andere Größe habe, als die Person, die mir etwas angetan hat. Etwa nach dem Motto: "Was kümmert es die Eiche, wenn ein Schwein sich an ihr kratzt." Die vermeintliche Vergebung hat hier vordergründig etwas Gönnerhaftes. Tatsächlich trennen wir uns aber von der Person und der Erfahrung des Vorfalls genau so, wie das Nachtragen und das Aufrechterhalten von Groll und Ressentiment uns trennen.

In Familienaufstellungen ist dies besonders oft im Verhältnis der Kinder zu den Eltern zu beobachten. In jeder Kindheit gibt es seelische Wunden, die aus der Verletzung elementarer Bedürfnisse des Kindes nach Liebe, Sicherheit, Geborgenheit und vollständiger Annahme resultieren. Das Ausmaß dieser Verletzungen variiert natürlich beträchtlich. In jedem Fall aber bleibt ein verletztes inneres Kind zurück, das im Erwachsenen weiter lebt.

Und dann sind wir versucht, diesen inneren Konflikt so zu lösen, dass wir uns innerlich sagen: Ja, mein Vater (zum Beispiel) war eben ein schlechter Mensch, ich aber bin ein guter Mensch – also habe ich jetzt die Größe, ihm das zu verzeihen.
Das funktioniert als Gedanke. Aber es funktioniert nicht als wirkliche Vergebung und damit Befreiung von der Vergangenheit.

Besonders im Verhältnis zu den Eltern funktioniert diese Überhebung nicht, weil wir in der Seele wissen, dass wir von unseren Eltern das Leben bekommen haben. Und das ist kostbarer als alle einschränkenden Umstände.
Man kann das überprüfen mit einer einfachen Überlegung: Was ist besser? Dieses Leben, mit all der Erfahrung von Lieblosigkeit oder gar Misshandlung als Kind oder gar nicht zu existieren?

Die Lösung ist in diesen Fällen immer eine innere Haltung, welche die Verletzungen und das verletzte innere Kind anerkennt und sagt: "Ja, so war es." Und gleichzeitig sagt: "Für dieses Leben sind meine Eltern genau die Richtigen! Genau so, wie sie sind oder waren." Einfach, weil es keine anderen gibt in meinem Leben. Und. "Ich nehme jetzt das Leben, genau so, wie ich es bekommen habe, ohne Abstriche vollständig an. Um alles andere – einschließlich der Heilung des inneren Kindes – kümmere ich mich als Erwachsene selber." Das ist nicht einfach, diese Haltung zu gewinnen, aber wenn sie gewonnen wird, entsteht hier eine besondere Kraft.
Wenn diese Haltung gewonnen wird, stellt sich die Frage der Vergebung schlicht nicht mehr.

Die Selbstvergebung

Noch etwas Anderes ist zu sagen zur Vergebung: Der Akt des Vergebens ist immer und in erster Linie Selbstvergebung. Das ist letztlich der Kern der befreienden Wirkung.

Nun könnte man einwenden: Wieso soll ich mir selbst vergeben, wenn ich doch das Opfer bin? Wenn wir aber genau und ehrlich hinspüren, werden wir entdecken, dass die Vorwürfe, die wir anderen machen, meist Selbstvorwürfe sind. Manchmal drängt diese Erkenntnis an die Oberfläche, wenn wir uns beispielsweise fragen: "Wie konnte ich nur so blöd sein, xy zu vertrauen?"
Hier sind wir dann beim Kern der Angelegenheit. Es ist kaum vorstellbar, dass andere Menschen uns etwas antun, ohne das wir in irgendeiner Weise daran mitwirken. In dem wir klare und deutlich Hinweise ignorieren. Indem wir unsere Grenzen nicht wahren. In dem wir unsere Wünsche und Bedürfnisse auf Andere projizieren, obwohl jeder Außenstehen sofort sieht, dass diese Person die falsche Adresse für diese Wünsche und Bedürfnisse ist.

Und dann können wir uns selbst vergeben dafür, dass wir verführbar waren oder einer Illusion aufgesessen sind. Ich würde immer empfehlen, das Vergeben um eine Selbstvergebung zu ergänzen.

Wie kann man das tun? Eine Möglichkeit ist: Wir stellen uns vor einen Spiegel. Dann denken wir an die Situation, wo uns jemand verletzt oder gekränkt hat. Wir stellen uns diese Person vor und sagen laut: "Ich liebe dich, ich vergebe dir. Ich lasse dich frei. Ich segne dich." Und dann schauen wir in unser Spiegelbild und sagen: "Ich liebe dich, ich vergebe dir. Ich lasse dich frei. Ich segne dich." Dabei spüren wir uns hinein, ob diese Sätze, zumindest teilweise, stimmen. Dies wiederholen wir dreimal.
Wenn wir nicht spüren können, dass die Sätze stimmen, machen wir es am nächsten Tag noch einmal genau so. So lange, bis sich eine innere Resonanz zu den Sätzen einstellt.

Klein sein

Manchmal fühlen wir uns klein. Mitunter auf eine unangenehme Weise klein, machtlos, gar hilflos. Und manchmal wird das klein sein auch als Segen erlebt. Wir erleben uns als eingeordnet und aufgehoben in Etwas, was unsere Kraft als Einzelner übersteigt.

Dieser Beitrag handelt von dem Klein-Sein als Segen.

Begebenheit in einer Aufstellung

Es kommt mir dazu eine Aufstellung in den Sinn. Ein Mann ging zu einer Aufstellung mit dem Anliegen: Er fühle zunehmend eine innere Leere. Beruflich und auch privat war er erfolgreich – gemessen an den gängigen Maßstäben.

Er stellte seine Herkunftsfamilie auf. Er stellte dabei seine Mutter und seinen Vater und seine Schwester nebeneinander auf der einen Seite des Raumes auf und sich selber auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes mit maximaler Distanz in eine Ecke. Der erste Impuls seines Stellvertreters war: Er wollte sich noch weiter entfernen. Er stellt sich dann auf die Schwelle einer Tür, die sich in dieser Ecke des Raumes befand, halb innerhalb des Raumes, halb außerhalb. Auf dei Frage, ob er irgendetwas empfinde den anderen Personen gegenüber, sagte er: „Nein, nichts.“

Es wurde unmittelbar deutlich in der Anfangsphase dieser Aufstellung, dass es um den Vater ging. Dieser stand mit hängenden Schultern an seiner Position und schaute mit traurigen Augen auf den Sohn. Der Vater hatte in mancherlei Hinsicht ein schwieriges Leben gehabt, die Details spielen hier aber keine Rolle.

Der Stellvertreter wurde aufgefordert, einmal – und sei es nur versuchsweise – aus dem Türrahmen heraus zu treten und einen kleinen Schritt auf den Vater hin zu gehen. Als er der Einladung – zunächst widerwillig – nachkam, veränderte sich etwas. Der Stellvertreter empfand eine deutliche Verachtung für den Vater. Er sagte: „Der ist ein Feigling. Der ist ein Schwächling.“ Er wurde aufgefordert, ihm diese Sätze direkt zu sagen: „Du bist ein Feigling! Du bist ein Schwächling!“. Aber dabei den Vater anzuschauen und langsam, in kleinen Schritten dabei auf ihn zuzugehen. Auf halber Strecke des Weges intensivierte sich die Verachtung, wurde sehr kraftvoll. Als er noch näher kam, nahm die Intensität der Verachtung wieder ab. Der Stellvertreter sagt noch die Sätze, aber mit abnehmender Emotionalität. Als er unmittelbar vor dem Vater stand, fühlte er sich verwirrt. Die Verachtung war noch da, als Gedanke – aber ohne Ladung, ohne gefühlte Kraft.

Der Stellvertreter wurde aufgefordert, die Sätze „Du bist mein Vater. Ich komme von dir. Ohne dich wäre ich nicht“ zu prüfen und zu sagen, wenn er stimme. Der Stellvertreter sagte den Satz – ohne eine wesentliche Veränderung. Nur die Verwirrung nahm zu.
Dann wurde der Stellvertreter aufgefordert, auf die Knie zu gehen und seinen Vater von unten anzusehen, zu ihm aufzuschauen. Und das war die entscheidende Bewegung. Sofort und für alle im Raum spürbar, kam die unmittelbare Liebe zwischen Vater und Sohn ins Fließen. Es musste nichts mehr gesagt werden.

Vom Segen des klein Seins

Warum erzähle ich die Begebenheit? Nun, der Schlüssel war in diesem Fall, klein zu werden. Klein zu werden gegenüber dem Vater. Aber warum? War es nicht so, dass der Sohn erfolgreicher war, mehr erreicht hatte im Leben, als der Vater? Doch, so war es. Und doch ist der Vater hier der Große und der Sohn der Kleine. Warum? Einfach, weil es ohne den Vater den Sohn nicht gäbe. Das ist die Tatsache, die in der Seele über allen anderen Tatsachen – etwa Tatsachen des Erfolges – steht. Und die Anerkennung dieser Tatsache löst etwas in der Seele.

Manchmal erreicht uns die Einsicht mit Worten. Aber manchmal bewirken die Worte alleine wenig. Dann erreicht uns die Einsicht vielleicht über eine Haltung, über den Körper.

Wo noch sind wir klein, außer im Verhältnis zu unseren Eltern? Nun offenbar gegenüber Naturgewalten. Auch sind wir oft klein gegenüber politischen oder gesellschaftlichen Bewegungen. Vor allem aber sind wir klein gegenüber dem Schicksal. Das ist besonders deutlich zu spüren, wenn wir im Leben Schicksalsschläge erleiden.

Mitunter bleibt dann nicht mehr zu tun, als sich vor der Größe dieses Schicksals zu verneigen.

Der große Konflikt – und die Bindung an das Gewissen


Es gibt kleine Konflikte, etwa ein Streit zwischen Nachbarn oder ein Beziehungskonflikt, und es gibt große Konflikte zwischen größeren Gruppen von Menschen. Aktuell erleben wir aus einem aktuellen Anlass heraus – wieder einmal – einen Konflikt, bei dem es um vordergründig um Menschen verschiedener Hautfarben geht. Oder auch um einen politisch-ideologischen Konflikt zwischen Anti-Rassisten und Rassisten oder zumindest Menschen, die als solche bezeichnet werden.

Und die Sachlage scheint hier klar und einfach. Man ist einfach – zumindest als anständiger Mensch – kein Rassist! Wenn man also auf der Seite der Anti-Rassisten ist, gehört man zu den Guten. Wir haben ein gutes Gewissen, wenn wir gegen Rassismus protestieren und demonstrieren. Und ein solches gutes Gewissen – so weiß der Volksmund – ist "ein sanftes Ruhekissen".

Was ist dieses "gute Gewissen"? Eine Entdeckung, die ganz am Anfang der Familienaufstellungen stand, war: Das "gute" Gewissen hat oft nicht nur gute Wirkungen. Das gute Gewissen bewirkt vor allem Eines: Es versichert mich der Zugehörigkeit zu meiner primären Gruppe. Wenn ich so denke und fühle, wie es in meiner Gruppe üblich ist und geteilt wird, dann darf ich dazu gehören. Wenn ich anders denke und fühle, habe ich ein schlechtes Gewissen, ich spüre den drohenden Verlust des Rechts auf Zugehörigkeit. Das gute Gewissen sichert also den Zusammenhalt einer Gruppe und das ist seine positive Funktion.
Gleichzeitig grenzt das gute Gewissen aber auch alle Menschen aus, die anders denken und fühlen, weil sie (in aller Regel) eben ihrem guten Gewissen folgen und den Regeln ihrer Gruppen folgen. Im schlimmsten Fall geht diese Ausgrenzung mit einem Vernichtungswillen einher. Dieses Ausgegrenzte sollte es am besten gar nicht geben und am besten wäre es, wir könnten es "mit Stumpf und Stiel ausrotten".

So werden oft die schlimmsten Taten mit gutem Gewissen begangen. Das gute Gewissen erweist sich mitunter als lebensfeindlich. In den großen Konflikten, in dem wir unter dem Einfluss gute Gewissen uns für besser halten als andere Menschen und uns daher im Recht fühlen, ihnen Schlimmes anzutun.
Aber auch in kleinerem Maßstab erweist sich das gute Gewissen mitunter als hinderlich dem vollen Lebensvollzug gegenüber. Wenn etwa ein Mensch beruflich erfolglos bleibt, sich den Erfolg im Leben versagt, um loyal gegenüber seinem erfolglosen Vater zu bleiben. Dieser Mensch fühlt sich dann auf einer seelischen Ebene gut, wenn er sein Leben nicht voll nimmt. Und er fühlt sich schlecht, mit schlechtem Gewissen, wenn er es täte.

Das sogenannte gute Gewissen ist als treibende Kraft in unserer Seele mitunter blind und dient nicht immer dem Leben und dem Lebendigen.

Die Verschiebung

Wenn wir ganz ehrlich in uns hinein spüren und uns prüfen, dann könnten wir oft etwas Merkwürdiges feststellen. Wenn wir jemanden aus irgendwelchen Gründen ablehnen und ausgrenzen, dann können wir das Abgelehnte mitunter in uns selbst erleben. Wenn ich andere wegen ihrer Aggressionen ablehne, kann ich mit einem Mal eine Aggression auf "solche Leute" in mir selber entdecken. Oder andersherum: Wenn ich dieses Abgelehnte in mir selber verleugne, werde ich es umso stärker bei anderen bemerken. In der Psychologie spricht man dann von Projektion.

Was geschieht hier? Nun, offenbar gibt es eine seelische Bewegung, welche dem Abgelehnten in mir einen Raum und einen Platz geben möchte. Eine seelische Bewegung, welche den Ausschluss des Abgelehnten nicht dulden will.
In Familiensystemen machen wir oft die Beobachtung, dass im System ausgeschlossene Menschen später durch Nachkommen vertreten werden – wie, als wollte das System durch die Nachgeborenen an das Ausgeschlossene erinnern. Und auch im einzelnen Menschen gibt es offenbar solche Bewegungen. Jeder Mensch ist ja auch ein Bündel von unterschiedlichen Intentionen, Trieben und Bestrebungen. Und wenn ich in mir etwas bekämpfe, triumphiert dies Abgelehnte oft hinterrücks in mir. Und ich weiß dann gar nicht recht, wie mir geschieht.

Bertold Brecht hat in seinem Gedicht "An die Nachgeborenen" geschrieben:
"Dabei wissen wir doch: Auch der Hass gegen die Niedrigkeit
verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser. Auch wir
die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber freundlich nicht sein.

Die Lösung: Die Überschreitung der Grenzen des guten Gewissens

Die Überschreitung der oft schädlichen Grenzen des "guten" Gewissens ist möglich durch eine Einsicht. Sie kostet aber einen Preis.

Um welche Einsicht handelt es sich hier? Nun zunächst die Einsicht darüber, dass ich als sogenannter Guter in der Gefahr bin, unter dem Druck des guten Gewissens Böses zu tun. Oder zumindest so zu handeln, wie es der Entfaltung des Lebens nicht dient.
Dann kann ich – langsam und schrittweise – dem Abgelehnten, insbesondere den abgelehnten anderen Menschen, einen Platz einräumen. Einen Platz in meinem Herzen.

Ein aktueller Test wäre: Können wir dem Polizisten, der George Floyd in Minneapolis gewaltsam zu Tode brachte, und der – so wird berichtet – eine lange List von exzessiven Gewaltanwendungen in seiner Diensausübung schon vor diesem Vorfall hatte, ein Existenzrecht einräumen? Als Mensch? Als Mensch mit einem fürchterlichen Fehlverhalten? Gehört auch der Täter mit seiner Täterenergie in meinem Inneren zum Mensch-Sein? Oder möchte ich ihn ausschließen?

Wenn dieses Raum und Platz geben gelingt, kehrt ein innerer Friede ein. Wir fühlen uns mit etwas Größerem im Einklang. Und ja: Dieses Größere umfasst, auf eine Weise, die wir nicht recht verstehen, sondern allenfalls empfinden können, auch das sogenannte Böse. Wenn ich mit diesem Größerem im Einklang bin, bin ich letztlich mit allem im Einklang, so wie es ist. Und dann bin ich niemandes Feind. Ich lasse also meine Feindbilder hinter mir.
Das bedeutet nicht, empfindungslos und gleichgültig zu werden. Es wandelt sich aber die Emotion, die Empfindung gegenüber den Bösen Taten und ihren schlimmen Folgen. Es geht von Wut und Empörung hin zu Trauer und der Empfindung einer Tragik. Wir können auch sagen: Es geht mehr in Richtung Primäremotion[1].

Welchen Preis kostet mich diese Haltung? Neben der Aufgabe meiner Feindbilder ist ein Preis, den ich zahle: Ich verzichte darauf, mit besser zu fühlen als des abgelehnte andere Mensch. Ich erkenne, da ist jemand auf seine eigene Weise verstrickt – so wie ich auf meine eigene Weise verstrickt bin.

Ein weiterer Preis ist zu zahlen: Der Verzicht auf das gute Gewissen, auf das wohlige Gefühl, zu den Guten, zu den Besseren gehören zu dürfen. Es kann sich sogar, zumindest vorübergehend, ein schlechtes Gewissen melden. Wenn ich darauf verzichte, den offenbar schlechten Menschen zu hassen – darf ich dann noch dazu gehören, bei den guten Menschen?

Die innere Haltung ist die der Parteilosigkeit. Das kann sich vorübergehend einsam anfühlen. Auch dies wäre ein Preis, der zu Zahlen ist. Aber wir werden dadurch freier. Die Bindung an das Gewissen macht uns unfrei. Wenn wir sie hinter uns lassen, können wir anders aufeinander zugehen. Und wir können in etwas Größerem zusammen finden – auch mit dem sogenannten Bösen.

[1] Zur Unterscheidung zwischen Primärgefühlen, Sekundärgefühlen und übernommenen Gefühlen gibt es hier einen Artikel.

Der Erfolg

Was ist Erfolg im Leben? Meistens denken wir bei Erfolg in die Richtung, dass ein besonderes Resultat erreicht wurde. Etwas, das sich in irgendeiner Form heraus hebt aus dem normalen Alltag. Ein Künstler ist erfolgreich, wenn er berühmt ist und seine Werke anerkannt werden. (Manchmal erfolgt (!) dies tragischerweise erst nach dem Tod.) Ein Sportler ist erfolgreich, wenn er einen wichtigen Wettbewerb gewinnt. Wir sehen einen Menschen als erfolgreich an, wenn er oder sie beruflich eine Position mit hohem Status erreicht.

Aber genau betrachtet ist Erfolg viel alltäglicher. Die Sprache verrät es uns: Erfolg ist eben das, was erfolgt. Etwas erfolgt, es findet statt, es ereignet sich. Und es folgt auf andere Ereignisse. Und wenn es unseren Plänen, Vornahmen, Absichten und Wünschen entspricht, dann nennen wir es Erfolg. Wenn es diesen nicht entspricht, nennen wir es Miss-Erfolg. Aber auch dort ist im Wort der Erfolg enthalten. Es ist nur ein Erfolg, den wir – zumindest vordergründig – nicht wollten. Manche Menschen schaffen es erfolgreich, ihre Zielerreichung immer wieder selber zu sabotieren.

Der Ursprung des Erfolges

Wo fängt der Erfolg im Leben an? Offensichtlich in dem Moment, wo eine Samenzelle auf eine Eizelle trifft und diese erfolgreich befruchtet. Hier entsteht neues Leben[1]. Später teilt sich die Zelle (erfolgreich!), diese teilen sich wieder und es entstehen ein Embryo und dann der Fötus. Die Zellen differenzieren sich erfolgreich in die verschiedenen Organe. Dann wird es irgendwann eng im Mutterleib. Wir bewältigen erfolgreich den schwierigen Kampf, durch den Geburtskanal auf die andere Seite zu gelangen. Wir kommen erfolgreich im Leben an, besonders dann, wenn wir auf der anderen Seite die Mutterbrust finden, die uns nährt und ein Gefühl von Wärme, Geborgenheit und Sicherheit vermittelt in dieser neuen, noch fremden Welt.

Als Kleinkind eignen wir uns erfolgreich diese fremde Welt an, wir lernen die Muttersprache und den aufrechten Gang. Beides höchst komplizierte Angelegenheiten, die wir aber spielend(!) erfolgreich bewältigen. Später schließen wir erfolgreich eine schulische Bildung ab, ergreifen erfolgreich einen Beruf der uns ernährt oder finden sonst wie erfolgreich eine Nische in der Gesellschaft, in der wir leben. Vielleicht haben wir später eigene Kinder, einer der wichtigsten Erfolge, die man im Leben haben kann. Dann haben wir erfolgreich das Leben selber weiter gegeben. Noch später altern wir erfolgreich, wir nehmen die Rollen und spezifischen Aufgaben eines älteren Menschen an, möglichst ohne Bedauern über die vergangene Jugend. Wir bereiten uns auf den Abschluss dieses Lebens vor, der sicher erfolgreich kommen wird. Irgendwann.

Aber auch wenn wir nicht nur auf die groben Stadien eines Menschenlebens schauen – die wie erwähnt alle eine Kette von Erfolgen sind, auch wenn sie nicht immer so empfunden werden – sehen wir hier bei genauer Betrachtung eine Kette von Erfolgen. Wir stehen des Morgens auf und putzen uns die Zähne. Ein Erfolg. Wir bereiten uns einen Kaffee zu: ein Erfolg! Wir erreichen erfolgreich wie geplant die S-Bahn, die uns erfolgreich zu unserer Arbeitsstelle gelangen lässt. Aus dieser Perspektive ist auch unser Alltag im Wesentlichen eine Kette von Erfolgen. Lauter Ereignisse und Handlungen, wo ich etwas bewirke, was ich mir vorher vorgestellt habe, wozu ich mich mit Absicht entschlossen habe.
Feiern wir diese Erfolge?

Die Eltern des Erfolges

Aber zurück zu der Frage, wo beginnt eigentlich der Erfolg im Leben? Er beginnt in besonders herausgehobener Form mit der Mutter. In ihrem Leib entwickeln wir uns vorgeburtlich. Und der erste und wichtigste nachgeburtliche Erfolg, das Erreichen der Mutterbrust, ist auch eng mit der Mutter verknüpft. Bert Hellinger hat es an einer Stelle in fast poetischen Worten so ausgedrückt: "Jeder Erfolg hat das Gesicht der Mutter![2]".

Spielt der Vater hier nun gar keine Rolle? Ist er nicht wichtig? Oder zumindest nicht so wichtig? Hier haben wir es mit einem Paradox zu tun: Mutter und Vater sind für den Erfolg im Leben in gleichem Maße wichtig – und trotzdem hat die Mutter beim Erfolg eine herausgehobene, eine besondere Rolle. Das will gut verstanden sein.

Gehen wir noch einmal zurück an den Ursprung des Lebens. Das Leben entsteht, wenn eine Samenzelle und eine Eizelle sich treffen und vereinigen. Hier ist der Urknall, der Big Bang in jedem einzelnen Leben. Es entsteht etwas, sozusagen aus dem nichts, was vorher noch nicht da war. Und was vorher war, wiesen wir nicht. Beide Elternteile sind hierzu gleichermaßen nötig, kein Teil ist wichtiger oder weniger wichtig für diesen Ur-Knall.

Erfolg im Leben bedeutet, das Leben ganz zu nehmen. Im Ur-Sprung, im Ur-Knall der Vereinigung von Eizelle und Samenzelle bedeutet dies: Hier entsteht es, aus beiden Teilen. Und ein erfolgreiches Leben meint, beides zu gleichen Teilen zu nehmen, vorbehaltlos anzunehmen, so wie es war und ist. Dies ist mein Vater und dies ist meine Mutter. Mein Leben kommt in diesem Ursprung über beide gleichermaßen zu mir. Und zwar unter genau den Bedingungen, wie sie nun einmal waren. Ein anderes Leben gibt es für mich nicht. Und das Leben kann nur voll angenommen werden, wenn ich diese beiden Teile voll annehme – wie auch immer die Umstände im Einzelnen gewesen sein mögen. (An diesem Nachsatz knabbern wir oft ein Leben lang, ihn vollständig zu verstehen und in den Lebensvollzug einfließen zu lassen …).

In der weiteren Entwicklung von der ersten Zellteilung bis zumindest in das Kleinkindalter hinein stehen wir dann der Mutter näher. In ihr reifen wir heran, an ihrer Haut machen wir – in der Regel – die ersten Erfahrungen in der neuen Welt. Die Rolle des Vaters ist hier eher eine indirekte, vermittelt über die Mutter. Ein werdender Vater, der die werdende Mutter stützt und unterstützt auf jeder Ebene (materiell, emotional, seelisch und geistig), der sich mit der werdenden Mutter zusammen auf das Kind freut, stärkt die Mutter und über diese das Kind.

Der Erfolg im erwachsenen Leben

Später, in der Eigenständigkeit des Erwachsenenlebens, scheint der Erfolg unterschiedlich – auch hier aber wieder gleichwertig – mit der mütterlichen und der väterlichen Seite verbunden zu sein. Aus den Aufstellungen heraus ergibt sich für mich ein Bild, welches in vielen Fällen zutrifft:
Das ungeminderte Nehmen des Lebens vom Vater hat etwas damit zu tun, mich überhaupt auf den Weg zu machen und auch in der Ausrichtung der Ziele, wohin ich also will. Jede Handlung, jede Tat und jeder Entschluss haben ja auch damit zu tun, sich von etwas zu lösen. Ich kann keinen Ort erreiche, wenn ich nicht den Ort, wo ich jetzt bin, verlasse, meine derzeitigen Grenzen ausweite, meine Fühler in das Feld des Unbekannten ausstrecke.
Das Erreichen des Erfolges, das Ankommen am Ziel, trägt dagegen eher die mütterlichen Züge. Kann ich den Erfolg genießen? Macht der Erfolg mich satt, oder schmeckt er, einmal erreicht, sofort schal und leer? Kann ich einen Erfolg überhaupt als Erfolg erkennen und anerkennen? Kann ich mich freuen über den Erfolg? Hier spielt das Nehmen der Mutter die größere Rolle. In diesem Sinne scheint mir der Satz von Hellinger, "Erfolg hat immer das Gesicht der Mutter" vollumfänglich gültig.

In Kurzform: Ohne das Nehmen des Vaters "kommen wir nicht in die Puschen" oder können uns nicht gut auf den Erfolg ausrichten. Ohne das Nehmen der Mutter können wir den Erfolg nicht als Erfolg erleben.

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[1] So gesehen ist jeder Mensch, der existiert, ein Erfolg. Sogar ein sehr unwahrscheinlicher Erfolg, wenn man einmal überlegt, wie groß die Chance eines einzelnen Spermiums ist, sein eingebautes Ziel, eine Eizelle zu befruchten, zu erreichen.

[2] Bert Hellinger: Erfolge im Leben/Beruf. Hellinger Publicatons 2011, S. 15

Familienaufstellungen in der Einzelarbeit

 

Familienaufstellungen werden normalerweise als Gruppenveranstaltungen durchgeführt. Die Teilnehmer in der Gruppe stehen als Stellvertreter für Familienmitglieder oder andere wichtige Personen für die Aufstellung zur Verfügung. Ihre stellvertretende Wahrnehmung ist das Material, anhand dessen sich die Aufstellung entwickelt und die Einsichten in die seelischen Bewegungen gewonnen werden.

Neben dieser „klassischen“ Form der Aufstellungsarbeit hat sich dann etwas später auch die Familienaufstellung in der Einzelarbeit entwickelt, also ein Berater oder Therapeut arbeitet mit einer einzelnen Person an deren Anliegen.

Man könnte sich jetzt fragen: Eine Familienaufstellung ohne Stellvertreter – wie soll das überhaupt gehen? Zumindest ich hatte mir diese Frage gestellt, als ich zum ersten Mal davon hörte.

Das Vorgehen

Es gibt unterschiedliche Formen, eine Familienaufstellung in der Einzelarbeit durchzuführen. Manche arbeiten mit Figuren auf einem Tisch oder einem Brett, ich selber arbeite mit sog. Bodenankern. Das bedeutet: Es gibt Zettel mit den Namen der Protagonisten und einer Markierung für die Blickrichtung, die entsprechend dem inneren Bild der Person mit dem Anliegen auf dem Boden im Raum ausgelegt werden. Das ist dann das Anfangsbild.

Dann stellt sich die Person, um die es geht, zunächst auf die Position mit dem eigenen Namen, geht also in die eigene Rolle und lässt von hier aus die Konstellation mit allen Eindrücken, Gefühlen usw. auf sich wirken. Anschließend geht die Person nacheinander auf die anderen Positionen und spürt dem nach, was hier empfunden werden kann. Wie in einer Familienaufstellung in der Gruppe werden bestimmt Sätze gesagt zu den anderen Protagonisten, die in dem Fall nur in der Vorstellung auf ihren Zetteln stehen. Ebenso werden genau wie in der Gruppe die Positionen schrittweise verändert bis hin zum Lösungsbild.

Aufstellung ohne Stellvertreter?

Genau genommen gibt es zwar keine fremden Personen als Stellvertreter, aber es gibt Stellvertretung. Die Person mit dem Anliegen geht selber Zug um Zug in die Stellvertretung und erlebt aus diesen Perspektiven. Genau wie in einer Gruppenveranstaltung entfaltet sich so das wissende Feld und die Einsichten treten zu Tage. Auch hier kann über das „im Feld stehen“ eine verborgene seelische Dynamik erfahrbar werden, wenn man sich dem Feld anvertraut[*]. Auch wenn die jeweils anderen Personen nicht durch einen realen Menschen, sondern durch ein Blatt Papier auf dem Boden repräsentiert sind.

Wie erwähnt, war ich erst einmal skeptisch, als ich zum ersten Mal davon hörte – bis ich es ausprobierte. Die Erfahrung lehrte mich, dass Aufstellungen im Einzelsetting dieselbe seelische Intensität entfalten und ähnlich Wirkungen zeitigen wie bei einer Aufstellung in der Gruppe.

Zwei Voraussetzungen

Der Erfolg einer Einzelaufstellung hat eigentlich nur zwei Voraussetzungen:

1. Die Person mit dem Anliegen muss über ein gewisses Vorstellungsvermögen verfügen, muss also vor ihrem geistigen Auge wirklich Personen auf den Zetteln stehend sehen können.

2. In der Stellvertretung der anderen Personen muss sich die Person dem Feld und seiner Führung anvertrauen können, also eine Zeit lang sich von den eigenen Absichten lösen

Zur ersten Bedingung ist zu sagen, dass dies in der Praxis leichter geht, als man vielleicht gemeinhin glauben mag. Dies deshalb, weil die Vorstellung von Etwas vor dem geistigen Auge sowieso ständig von unserer Psyche verwendet wird. Jedes Ziel können wir nur deshalb im Handeln verfolgen, weil wir den angestrebten Zielzustand vor dem geistigen Auge sehen, obwohl der angestrebt Zustand real (noch) nicht besteht. Als kleiner Test: Könntest du, während du diesen Text liest, dir deine Wohnungstür von außen vorstellen? Könntest du jemandem beschreiben, welche Farbe sie hat, welche Struktur, welches Material? Wenn du das kannst, dann kannst du dir auch vorstellen, dass eine Person auf einem Zettel steht.

Die zweite Bedingung, die Stellvertretung fremder Personen und das Loslassen eigener Absichten, gilt natürlich für reale Stellvertreter in einer Aufstellungsgruppe ganz genau so. Auch sie müssen von ihren eigenen Gedanken und Gefühlen absehen und sich ganz auf die Position, auf der sie gerade stehen, einlassen. In den allermeisten Fällen stellt sich dieser Zustand ziemlich spontan ein. Nur in seltenen Fällen hat man in Gruppenaufstellungen einmal Stellvertreter, wo man den Eindruck hat, sie bringen jetzt in erster Linie Eigenes in die Aufstellung. In einer Gruppenaufstellung muss man als Leiter solche Stellvertreter dann auswechseln. Solche Personen wären dann auch in einer Einzelaufstellung nicht als Protagonisten geeignet.

 


[*] Zum Thema des "wissenden Feldes" siehe auch die folgenden Beiträge:

* Stellvertretende Wahrnehmung im wissenden Feld – Das wissende Feld Teil 1

* Das FELD im wissenden Feld – Das wissende Feld Teil 2

* Das WISSEN im wissenden Feld – Das wissende Feld Teil 3

Aufstellungen und die Heilung des inneren Kindes


 Bild von Christine Engelhardt auf Pixabay

In jedem von uns lebt ein inneres Kind – das Kind, das wir einmal waren. Manchmal ist dieses innere Kind vorsichtig und angepasst, manchmal rebellisch oder trotzig. Manchmal ist das innere Kind verängstigt, manchmal verunsichert, manchmal schreit es nach Liebe und Aufmerksamkeit, manchmal ist es resignativ verstummt. Im günstigsten Fall ist es verspielt, voller Lebenslust und lebt ganz im Hier und Jetzt. Und manchmal hat sich das innere Kind – genauer: Ein innerer Kindanteil – auch völlig abgespalten. Letzteres ist das Definitionskriterium für ein psychisches Trauma: Ein Teil der Persönlichkeit trennt sich ab, weil ein Ereignis oder eine Situation zu überwältigend ist. Im schamanischen Weltbild findet hier ein Verlust von Seelenanteilen statt.

Nicht jeder Mensch hat ein wirklich traumatisches Ereignis selber erlebt. Leider werden aber auch in einer Familie traumatische Erlebnisse der vorigen Generationen weitergegeben. Dazu muss das Kind nichts über die Ereignisse wissen, aber das Kind erspürt Stimmungen und ein Lebensgefühl und nimmt es in sich auf. Traumata können also auch über die Generationen hinweg sozusagen „vererbt“ werden. Interessanterweise hat man eine solche transgenerationale Weitergabe von Traumata auch in anderen Säugetieren in entsprechenden Versuchen nachweisen können[1].

Aber selbst wenn wir nicht über ein Trauma im engeren Sinne reden: In praktisch jedem Menschen wohnt ein inneres Kind, dass zumindest eine schwerwiegende Enttäuschung oder eine bedeutsame Kränkung erlitten hat – manchmal als punktuelles Ereignis, manchmal andauernd über einen längeren Zeitraum.

Das ist nicht vermeidbar. Einerseits, weil das Kind, wenn es auf die Welt kommt, existenziell bedürftig ist. Dies ändert sich mit dem Heranwachsen, das Kind wird zunehmend selbständiger und damit weniger bedürftig. Aber das sind graduelle Abstufungen und am Beginn ist das Baby eigentlich nichts anderes als bedürftig. Bedürftig nach Schutz, Geborgenheit, Versorgung, Liebe, Zuwendung und sicherer Bindung.

Das Kind trifft dann auf Eltern, die nicht perfekt sind. Niemand ist perfekt. Natürlich sind die „Defizite“ der Eltern höchst unterschiedlich, aber die Illusion der „perfekten“ Eltern ist genau das: Eine Illusion. Zumindest Enttäuschungen, Versagungen und Kränkungen der Kinder in der einen oder anderen Form sind daher unvermeidbar. Im günstigsten Fall können Kinder dies verarbeiten, dann handelt es sich um Wachstumsimpulse.

Aber die Annahme, dass jede enttäuschte Bedürftigkeit eines Kindes produktiv als Wachstumsimpuls verarbeitet werden könnte, erscheint nicht realistisch. (Dann müsste es eben auch „perfekte“ Kinder geben, die es ebenso wenig gibt, wie „perfekte“ Eltern).
Das ist der eigentlich Kern der Redeweise vom verletzten inneren Kind, das in jedem von uns im Inneren beheimatet ist.

Sehr deutlich zeigt sich das innere Kind in fast allen Konflikten zwischen Erwachsenen. Vor allem in Partnerschaftskonflikten, aber auch bei vielen Konflikten im Arbeitsleben kann man beobachten, dass sich hier zwei verletzte innere Kinder streiten. Und weil in den beteiligten Personen die inneren Kinder am Werke sind, können diese Konflikte selten von den Konfliktbeteiligten ohne neutrale Unterstützung von Dritten produktiv gelöst werden.

In praktisch jeder Familienaufstellung wird das innere Kind angesprochen, wenn auch nicht immer ausdrücklich. Es gibt hier zwei wesentliche innere Bewegungen, die gegensätzlich verlaufen.

Die erste Bewegung: Die Hinbewegung zu den Eltern

Das Kind nimmt von den Eltern. Dazu muss es sich auf die Eltern zu bewegen. Das Kind nimmt aber nicht nur von den Eltern, es muss auch die Eltern nehmen. Die Eltern annehmen so wie sie sind, mit allem was zu Ihnen gehört. Warum ist das so? Die ebenso schlichte wie tiefgreifende Antwort lautet: Ohne die Eltern gäbe es das Kind nicht. Jedes Kind verdankt seinen Eltern sein Leben. Und diese Tatsache ist wichtiger als alle anderen Begleitumstände.

Was bedeutet es, wenn jemand mit seinen Eltern in ihrem So-Sein hadert? Wenn jemand – mehr oder weniger bewusst – denkt: Ich hätte eigentlich andere Eltern verdient gehabt? Wenn diese Person aber andere Eltern gehabt hätte, wäre es ja eben offensichtlich eine andere Person. Die Ablehnung der Eltern bedeutet also nichts anderes als: Ich lehne mein Leben ab. Oder auch: Ich lehne mich ab. Da kann das Leben schwerlich gelingen.

Deshalb spielt in fast jeder Familienaufstellung es eine Rolle, dass das Kind (als Kind!) auf die Eltern oder auf einen Elternteil – da, wo die Annahme schwierig ist – zugeht. Und dann wird oft aufgefordert, ganz einfache Sätze zu sagen. Wie zum Beispiel „Ich bin deine Tochter / dein Sohn.“ Oder: „Du bist meine Mutter / mein Vater.“ Oder auch: „Ich bin hier nur das Kind. Ich bin hier die/der Kleine.“ Diese einfachen Aussagesätze entfalten eine Kraft, wenn sie wirklich in der ganzen Tiefe gespürt werden[2]. Hier ist das Kind wirklich Kind – und bleibt es, den Eltern gegenüber. Ein anderer bekräftigender Satz könnte lauten: „Ich nehme jetzt das Leben vollständig an, genau so, wie ich es von Euch erhalten habe. Ohne Abstriche.“

Diese Bewegung des Kindes auf die Eltern zu und das ungeminderte Annehmen des Lebens, das von den Eltern zu mir geflossen ist, ist eine heilende Bewegung des inneren Kindes. Wenn sie wirklich als Kind vollzogen wird.

Die Gegenbewegung: Die Hinwendung zum eigenen Leben

Ergänzt wird diese erste fundamentale Bewegung durch eine zweite, dazu gegensätzliche Bewegung. In Familienaufstellungen geschieht das oft in der Form, dass das Kind bei den Eltern wächst, größer wird. Und dann nach einer Weile sich umdreht, sich vielleicht noch eine Zeit mit dem Rücken bei den Eltern anlehnt, und dann einen Schritt von den Eltern weg in das eigene Leben macht. Aber mit den Eltern im Rücken.

Bert Hellinger hat in den frühen Familienaufstellungen die Protagonisten oft einen Satz sagen lassen, der in etwa so lautet: „Ich nehme jetzt mein Leben, so wie ich es von Euch bekommen habe. Und ich mache etwas Eigenes daraus.“ Eine der Wirkungen ist: Ich entlasse damit die Eltern aus der Verantwortung für meinen Lebensvollzug, ich nehme mein Leben in die eigenen Hände. Aber mit Achtung für die Quelle dieses Lebens.

Diese zweite Bewegung hat eine bedeutsame Konsequenz für das innere Kind mit seinen Verletzungen, Enttäuschungen und Kränkungen. Wenn dieser Schritt, die Ablösung von den Eltern und der Schritt in das eigene Leben, innerlich vollzogen wird, dann bin ich für dieses innere Kind in mir zuständig. Dann kann ich nicht mehr sagen „Ja, das ist so, weil meine Mutter damals …“ oder „… weil mein Vater damals …“. Dann bin ich in der Verantwortung. Dann ist meine Aufgabe, mich um dieses innere Kind in mir zu kümmern, es in seiner Bedürftigkeit zu sehen und es „nachzunähren“, wo es Defizite gab.

Die Aufstellung von inneren Kindern

Mitunter muss man in einer Familienaufstellung auch das innere Kind direkt über Stellvertreter mit aufstellen. Das ist insbesondere dann angezeigt, wenn es zu einer Abspaltung (im Psychologenjargon: einer Dissoziation) gekommen ist. Dazu fragt man nur, wie alt das innere Kind ist. Und stellt dann dieses innere Kind mit auf, wenn es noch klein ist, setzt man es auf den Boden.

Die erwachsene Person begegnet nun in der Aufstellung ihrem verletzen inneren Kind. Manchmal kann hier die Annäherung nur sehr vorsichtig gelingen, weil hier seitens des inneren Kindes noch ein großes Misstrauen vorhanden ist. Es geht im ersten Schritt also erst einmal um Kontaktaufnahme und Vertrauensbildung. Im den nächsten Schritten geht es darum, dem inneren Kind, das ja vor etlichen Jahren irgendwo stehen geblieben ist, zu sagen, dass man das erwachsene Ich aus der Zukunft ist und es jetzt abholen wird. Oft warten die inneren Kinder schon sehr lange darauf, endlich abgeholt zu werden. Aber das ist natürlich im Einzelfall über die Reaktion der Stellvertreter zu prüfen. Im letzten Schritte wird dann das innere Kind in die erwachsene Person aufgenommen, in sie integriert. Manchmal ist es auch hilfreich, dem inneren Kind zu sagen: „Ich zeige dir jetzt meine Welt. Wo ich wohne, wo ich arbeite, mit wem ich zusammen lebe usw.“

Aber wie gesagt: Das explizite Aufstellen des inneren Kindes über Stellvertreter ist nicht immer notwendig. In vielen Fällen werden durch die beiden oben beschriebenen Bewegungen der Hinbewegung zu den Eltern einerseits und des Erwachsenwerdens bei den Eltern und der Zuwendung zum eigenen Leben andererseits die verletzten inneren Kinder hinreichend angesprochen.

Eine kleine Übung zur Kontaktaufnahme mit dem inneren Kind

Es gibt eine kleine Übung, die man machen kann, um auch außerhalb des Rahmens von Familienaufstellungen Kontakt zum inneren Kind aufzunehmen und zur Heilung des inneren Kindes beizutragen. Die Übung geht in drei Schritten:

  1. Man nimmt ein Blatt Papier und einen Stift und schreibt auf das Blatt Papier die Frage: „Mein liebes inneres Kind: Was möchtest du heute?“
  2. Dann stellt man sich das so angesprochene innere Kind vor, macht sich wirklich ein inneres Bild von ihm in einem bestimmten Alter und schreibt dann die Antwort des inneren Kindes mit der nicht dominanten Hand. Als Rechtshänder schreibt man also mit der linken Hand, als Linkshänder mit der rechten Hand die Antwort des inneren Kindes auf das Blatt Papier.
  3. Als letzten Schritt redet man mit dem inneren Kind über dessen Wunsch und Bedürfnis, wann und unter welchen Umständen ich, die erwachsene Person, dem inneren Kind sein Bedürfnis erfüllen kann.

In vielen Fällen wird es einfach sein und man kann es direkt tun. Wenn das innere Kind als schreibt: „Ich möchte, dass du mich siehst und mich lieb hast“ dann nimmt man sich einfach wenige Minuten, in denen man auf diese Kind im Inneren schaut – mit Liebe. Manchmal wird man vielleicht auch mit dem inneren Kind etwas vereinbaren. Wenn das innere Kind schreibt „Ich möchte, dass wir schwimmen gehen“, dann wird man ihm vielleicht sagen: „Heute geht es leider nicht, aber ich verspreche dir, dass wir am Wochenende schwimmen gehen“. Und dann geht man am Wochenende eben schwimmen. Natürlich sollte man hier nur Zusagen machen, die man bereit und in der Lage ist, auch einzuhalten.

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[1] Ein Dokumentarfilm, der ursprünglich auf ARTE ausgestrahlt wurde und noch über YouTube verfügbar ist, behandelt unter Anderem entsprechende Untersuchungen bei Mäusen.

[2] Sie dazu auch den Blogbeitrag vom Januar 2020 mit dem Titel „Die kraft der einfachen Sätze“.

Aufgestellt … und dann?

Manchmal kommt nach einer Aufstellung eine Frage auf, wie denn mit dem Geschehen in der Aufstellung und der vielleicht dort sichtbaren Lösung umgegangen werden soll. Die Frage lautet also zum Beispiel „Was mache ich jetzt damit?“ oder „Wie soll ich mich jetzt verhalten?“ oder „Was kann ich damit jetzt praktisch tun?“

Um dies einmal an einem häufig vorkommenden Thema zu verdeutlichen: Es gibt etwas, was wir in der Aufstellungsarbeit die „ursprüngliche Liebe“ bezeichnen, eine tiefe, geradezu existenzielle Verbundenheit des Kindes zu seinen Eltern. Häufig ist diese ursprüngliche Verbindung aber im Vollzug gestört und kann nicht wirklich fließen oder empfunden werden. Sei es, weil die Eltern oder Elternteile nicht wirklich anwesend sind im Leben des Kindes oder sie mit eigenen traumatischen Belastungen nicht wirklich seelisch verfügbar sind für das Kind oder sei es, weil das Kind etwa auf Grund einer frühen Trennung oder Enttäuschung sozusagen „zugemacht“ hat und das Leben von den Eltern nur eingeschränkt nehmen kann[1].

Nehmen wir an, im Rahmen einer Familienaufstellung wäre diese Blockade – die auch eine energetische Blockade ist – einerseits sichtbar geworden und andererseits auch einer guten Lösung zugeführt worden, bei der diese ursprüngliche Liebe wieder in Fluss gekommen ist.
Meist geschieht dies in Aufstellungen der Form nach so, dass ein Kind gegen viele innere Widerstände hinweg sich zum Beispiel auf die Mutter zu bewegt und dort wieder klein und Kind wird. Häufig kommt es dann zu sehr innigen Umarmungen und die ursprüngliche Liebe wird in ihrem Fluss erlebbar, was sehr bewegend ist sowohl für die unmittelbaren Protagonisten wie auch alle anderen Beteiligten und Zuschauer einer Aufstellung.

Und wenn dann im Nachgang die Frage entsteht, „was mache ich denn nun mit damit?“ dann verweist diese Frage aus meiner Sicht einerseits auf eine reale Schwierigkeit und gleichzeitig auf ein Missverständnis.

Die reale Schwierigkeit

Die reale Schwierigkeit im inneren Vollzug dessen, was sich in einer Aufstellung zeigt, besteht darin, dass eine Aufstellung teilweise einen symbolisch-stellvertretenden Charakter hat. Bleiben wir beim Beispiel der Heilung einer unterbrochenen Hinbewegung zur Mutter: Da geht eine erwachsenen Person sozusagen stellvertretend für das kleine Kind, das immer noch in ihr lebt, zu einer anderen Person, die in der Aufstellung stellvertretend für die Mutter steht.

Und jetzt kann es sein, dass es der Hauptperson dann im Nachgang der Aufstellung so vorkommt, als sei dies nur eine – wenn auch schöne – „Simulation“ gewesen. Eine Art „so tun als ob“. Und die Frage entsteht: Was hat das jetzt mit meiner gewohnten „Realität“, meinen bisher eingelebten Wahrnehmungs- und Empfindungsmustern zu tun? Kann ich es von der einen Realitätsebene, die ich vielleicht im Nachgang, wenn der analytische Verstand wieder eingreift, als bloße „Simulation“ oder gar „Illusion“ erlebe, in die andere Realitätsebene, die aus meinem gewohnten Alltag besteht, hinüber retten? Und wenn ja: Wie?

Hier wäre zunächst zu sagen, warum die Geschehnisse in einer Aufstellung nur teilweise symbolisch und stellvertretend sind. Ja, einerseits ist etwa die Mutter in der Aufstellung eine fremde Person, nicht die wirkliche Mutter. Und die Person, die auf die Mutter zugeht, ist eben nicht vielleicht ein halbes Jahr alt oder drei Jahre alt, sondern möglicherweise 53 Jahre alt. Aber: Wenn eine Aufstellung wirklich innerlich gesammelt vollzogen wird, dann geht in diesem Moment nicht die 53-Jährige auf ihre Mutter zu, sondern wirklich die 3-Jährige! Das innere Kind, das in der 53-Jährigen lebt, bewegt hier den Körper. Und ebenso: Wenn die Stellvertreterin der Mutter sich wirklich dem „wissenden Feld“ überlässt und ihre eigene Persönlichkeit sozusagen hintanstellt für den Verlauf der Aufstellung, dann wird sie zu genau dieser Mutter – auf der seelischen Ebene und nur für die Zeit der Aufstellung.

Es handelt sich bei einer Aufstellung also nicht in dem Sinne um ein rein symbolisches Handeln, wie es bei manchen anderen Interventionsformen in der Psychoszene vorkommt. Wenn also beispielsweise eine Person angehalten würde, alle Einwände und alle Verletzungen und alle Vorwürfe gegenüber der Mutter auf einen Zettel zu schreiben und dann diesen Zettel als Ritual zu verbrennen und die Asche in den Wind zu zerstreuen. Dies wäre eine rein symbolische Handlung. (Die auch tiefgreifende Wirkungen haben kann, das sei nicht bestritten.)

Nein, eine Aufstellung ist in diesem Sinne nicht nur rein symbolisch. Wie gesagt: Das innere Kind, dass sich jetzt zeigen kann und sich für eine Zeit im Körper der erwachsenen Person ausdrücken darf, ist höchst real.
Woran merkt man das? Nun, in erster Linie an der Echtheit der Gefühle. Wenn hier kraftvolle Primärgefühle[2] unverfälscht zum Ausdruck kommen, dann weiß man: Das was hier passiert ist sehr wirklich. Noch wirklicher kann eine Wirklichkeit (also das, was wirkt) gar nicht sein.

Aber es bleibt natürlich tatsächlich die Schwierigkeit, dass die Fokusperson in einer Aufstellung jetzt zwei unterschiedliche Arten von Erlebnissen hat. Sie hat einerseits die Erlebnisse aus der Kindheit, in welcher der Fluss der ursprünglichen Liebe vielleicht verdeckt oder gar verschüttet war. Und sie das Erlebnis, wie es ist, wenn diese ursprüngliche Liebe, da wo sie ins Stocken geraten war, wieder ins Fließen kommt. Und das sind zwei sehr unterschiedliche Lebensgefühle, zwei ganz unterschiedliche Arten, in der Welt zu sein. Hier ist tatsächlich eine Integration zu leisten.

Das Missverständnis

Wenn sich aber das Erleben von „zwei Welten“ einstellt und damit die Frage aufkommt, was kann oder muss ich tun, um das Erleben der einen Welt in die andere Welt zu übertragen, so liegt allein in der Frage schon in gewisser Weise ein Missverständnis, weshalb die so gestellt Frage eigentlich keine Antwort haben kann.

Das Missverständnis ist: Es sind eigentlich keine getrennten Welten. Es ist eher so, dass durch das Erleben in einer Aufstellung etwas sichtbar wird, was immer da war und immer da ist. Es ist nur bislang verdeckt und damit nicht sichtbar gewesen. Und nun ist es am Licht.

Das, was wir als ursprüngliche Liebe zwischen Kindern und Eltern bezeichnet haben, ist letztendlich nur ein Ausdruck einer allgemeinen Lebenskraft. Jedes Kind, das auf die Welt kommt, ist ebenso wie jeder Grashalm, der sprießt, ein Ausdruck der Liebe des Lebens zu sich selbst. Und das Leben selbst, was hier zum Ausdruck kommt, muss über die Eltern zum Kind gekommen sein. Es kann nicht anders sein. Deswegen können wir mit Sicherheit sagen: Wenn du lebst, muss dieses Leben über deine Eltern zu dir gekommen sein, nur über sie bist du in der Welt. Und dieser Fakt alleine „beweist“ den Fluss der ursprünglichen Liebe, wie verschüttet der reale Vollzug dieser Liebe auch immer gewesen sein mag. Nur weil etwas verdeckt ist, heißt es nicht, dass es nicht da ist und die ganze Zeit da war.

Ein anderer Aspekt des Missverständnisses ist damit verbunden: Die Frage, „was mache ich jetzt damit“ zielt ja oft auf Ratschläge, wie zu handeln sei. Es geht aber bei der Integrationsleistung, die hier angesprochen ist, weniger um ein konkretes Handeln sondern um das Sein. Wir könnten auch sagen: Es geht um eine bestimmte innere Haltung. Und wenn wir hier im inneren Vollzug der Erkenntnis bleiben, das wir alle Kinder der Liebe sind, auch wenn es oberflächlich manchmal nicht so aussehen mag, dann ergibt sich das Meiste an Veränderung im konkreten Handeln von ganz alleine.

Bert Hellinger hat in der Anfangsphase der Aufstellungsarbeit mitunter auf solche Fragen, was man denn nun konkret tun solle, etwas in der Art gesagt: „Ich vertraue es deiner großen Seele an!“
Das finde ich eine schöne Haltung, weil sie die Würde, die Autonomie und die Einzigartigkeit der Person, um die es geht, wahrt. Im Vertrauen darauf, dass es etwas in der Person gibt, das Hellinger mit „die große Seele in dir“ anspricht, eine Instanz, die weiß was die Ergebnisse der Aufstellung bedeuten und wie sie zu nutzen sind. Das ist mit dem Verstand alleine kaum auszudeuten.

 

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[1] In der Aufstellungsarbeit nennen wir das eine „unterbrochene Hinbewegung“. Siehe dazu auch den Blogbeitrag vom Oktober 2018: Die Hinbewegung der Kinder zu den Eltern

[2] Siehe dazu der Blogbeitrag vom Januar 2018: Über Gefühle, ihre Qualitäten und ihre Rolle in der Aufstellungsarbeit

Die Kraft der einfachen Sätze

In Familienaufstellungen lässt die Leitung der Aufstellung die Stellvertreter in der Aufstellung oft bestimmte Sätze sagen. Genauer gesagt: Es werden Vorschläge für Sätze gemacht. Die so angesprochenen Stellvertreter müssen dann prüfen, ob der Satz stimmig ist. Falls ja, sagen sie den Satz, sonst nicht.

Diese Sätze sind fast immer einfache Sätze. Es sind einfache Aussagesätze. Oft beschreiben diese Sätze offensichtliche Tatsachen. Ein Beispiel wäre eine Tochter, die in einer Aufstellung ihrer Mutter gegenüber steht und zu ihr sagt: „Ich bin deine Tochter“.

Solche einfachen Sätze haben, wenn sie treffend sind, eine besondere Wirkung. Es kann sein, dass es ein solcher Satz ist, der in einer Aufstellung die entscheidende Bewegung oder Wende bewirkt. Oder durch das aussprechen eines Satzes kommt etwas in der Seele der Protagonisten in Fluss, was vorher blockiert war. Dann fließen mitunter Tränen, aber es sind dann heilende Tränen.

Wie gesagt: Oft sind es offensichtliche Tatsachen, die in diesen einfachen Sätzen benannt werden. (Manchmal sind es aber auch sehr überraschende Sätze, bei denen man sich im Nachhinein fragt: „Wie kam ich jetzt eigentlich darauf?“). Man könnte sich also fragen: Warum hat das Aussprechen von etwas Einfachem und Offensichtlichem eine Wirkung? Mir scheint, die Wirkung entsteht, wenn etwas Wesentliches erfasst und ausgesprochen wird. Und ob es wirklich wesentlich ist, merkt man an der Wirkung. Das Wesentliche kann schlicht sein, weil sich hier Vieles verdichtet wie im Brennpunkt einer Linse.
Bei Bert Hellinger ist in den späten Aufstellungen diese Verdichtung oft noch einmal gesteigert, in dem gar keine Sätze mehr gesagt wurden, sondern vielleicht nur noch ein Wort. Oder im Extrem mitunter gar kein Wort mehr, sondern nur noch eine einfache Geste, die alles ausdrückt.

Das Finden der einfachen Sätze

Wie kommen wir zu diesen einfachen Sätzen, welche das Wesentliche ausdrücken? Wie kommen wir überhaupt zum Wesentlichen? Ein erster Punkt dabei scheint zu sein, sich möglichst vorbehaltlos dem anzuvertrauen, was gerade ist und was sich zeigt. Ihm sich sozusagen mit der größtmöglichen Fläche auszusetzen. Das nächste ist, bei diesem „Schauen“ so weit wie irgend möglich alle vorgefassten Meinungen und Ansichten fallen zu lassen. Das betrifft besonders Ansichten über richtig und falsch sowie gut und böse. Man wird in gewisser Weise innerlich leer, man schafft innerlich einen Raum, in dem etwas Neues entstehen kann. Damit einher geht: Man wird innerlich ruhig. Und dann kann es passieren, dass aus der inneren Stille ein Wort, ein Satz oder ein Bild einen erreicht. Etwas taucht auf aus dem Urgrund des Seins. Und wenn es zum gegenwärtigen Moment und zur Situation passt, dann hat es Kraft. Und ob etwas Kraft hat oder nicht, spüren wir sofort.

Solche einfachen Sätze mit Wirkung sind Momentaufnahmen. Sie stimmen – wenn sie denn stimmen – JETZT. Sie lassen sich nicht festhalten, aufbewahren oder konservieren. Sie passen in 2 Tagen, in 2 Monaten oder in 2 Jahren vielleicht nicht mehr.

Eine Zen-Geschichte

Der Geist und die Haltung, um die es bei dieser Einfachheit geht, werden auch in einer Zen-Geschichte deutlich, die mir im Gedächtnis geblieben ist, auch wenn ich die Quelle vergessen habe. Sie geht so:

Ein Mann kam zu einem buddhistischen Mönch, der wegen seiner Weisheit bekannt war, um einen Rat einzuholen. Ihn bedrückten Fragen nach dem Sinn des Lebens, des menschlichen Leidens und der Ungleichheit in der Welt. Er trug dem Mönch seine Fragen vor und bat um eine Antwort. Der Mönch saß eine Weile still, das Anliegen bedenkend. Dann schaute er den Mann an und wies mit einer Geste nur auf zwei Bambussträucher in der Nähe.
“Verehrter Meister, ich verstehe deine Antwort nicht“ sagte der Mann. Worauf der Mönch erwiderte: „Wie groß der eine ist – und wie klein der andere!“.
Da verließ der Mann den Mönch und war – dem Vernehmen nach – leichten Herzens und mit der Antwort zufrieden.

Wen die Geschichte stimmt, passte die Antwort. In diesem Fall. Aber wir können daraus keine Routine und kein System machen. Wir können nicht jedes mal, wenn ein Mensch mit einer Frage kommt, auf zwei Bambussträucher verweisen und „wie groß dieser ist und wie klein jener ist!“ sagen.

Weihnachten und die Familie

Weihnachten ist – so heißt es – einerseits ein Familienfest und andererseits das Fest der Liebe. Es wäre also das Fest der Liebe in den Familien. Und im Zentrum dieses Festes stehen die Kinder, insbesondere die kleinen Kinder. In der biblischen Weihnachtsgeschichte steht im Zentrum ebenfalls ein Kind, ein neugeborenes Kind. Mit diesem Kind entseht erst die heilige Familie.

Tatsächlich wird der besondere Zauber der Weihnachtszeit und des Weihnachtsfestes oft von den Kindern noch am intensivsten empfunden. Die sinnlichen Eindrücke des geschmückten Weihnachtsbaumes mit brennenden Kerzen, die Vielfalt der in buntes Papier gehüllten Geschenke, die besonderen Süßigkeiten, die es nur in dieser Zeit gibt, der Geschmack und der Geruch des besonderen Festtagsbratens und vielleicht auch der Klang bestimmter Weihnachtslieder gehören oft zu den prägenden Erinnerungen aus der Kindheit.

Wenn wir bei diesem Familienfest die Kinder in den Mittelpunkt stellen, so ist dies angemessen, weil sich im Kind oder den Kindern der Sinn der Familie verdichtet. Der Zweck der Familie ist es, für Kinder einen Raum und einen Rahmen zu schaffen, in dem sie gut und behütet wachsen können.

Weihnachten als ungewollte Familienaufstellung

Manchmal wirkt das Weihnachtsfest aber auch wie eine ungewollte Familienaufstellung. Etwa dadurch, dass deutlich wird, wie die engeren und weitere Familienmitglieder tatsächlich zueinander stehen, in welcher Nähe oder in welcher Ferne. Wer besucht wen und wie gerne oder mit wie viel innerem Widerwillen? Wer wird ausgeschlossen, nicht eingeladen? Wer schließt sich selber aus und erscheint nicht? Und wer wird an den Festtagen besonders schmerzlich vermisst durch Tod oder schwere Krankheit? Wie wird das Fest begangen, wenn Eltern sich getrennt haben? Zu welchen Familienmitgliedern gelingt die liebevolle Zuwendung nicht, auch nicht an den Festtagen?

Diese oft unterschwelligen Kräfte in Familiensystemen werden zum Weihnachtsfest eben auch greifbar und sichtbar. Sie können zu Konflikten und Streit führen, die gerade durch den Kontrast zum Ideal eines friedvollen und freudigen Weihnachtsfestes besonders intensiv erlebt werden.
Oder bei Menschen, denen die Bindung an eine Familie oder eine andere Form einer liebevollen Gemeinschaft fehlt, wird diese Einsamkeit oft zu Weihnachten besonders bewusst und wird dann als sehr schmerzlich empfunden.

Das ist die andere Seite des Weihnachtsfestes.

Die Besinnung: Das besinnliche Weihnachtsfest

Als Weihnachtsgruß wird meistens „frohe Weihnachten“ oder „fröhliche Weihnachten“ gewünscht, manchmal aber auch ein „besinnliches Weihnachtsfest“. In der Besinnung zu Weihnachten scheint mir eine große Chance zu liegen. Wir kommen zur Ruhe, kommen innerlich in Frieden und besinnen uns. Worauf besinnen wir uns? Zum Bespiel darauf, dass wir mit den Menschen in unserer Familie und in unserem persönlichen Umfeld verbunden sind. Und das wir ihnen etwas verdanken, manchmal im Kleinen und manchmal im Großen. Das macht das Herz weiter.

Und noch etwas anderes ist mit der Besinnung gemeint: Wir kommen zu unseren Sinnen, zur sinnlichen Wahrnehmung, etwa des Weihnachtsschmucks oder der weihnachtlichen Genüsse. Und vielleicht werden wir dann wieder ein bisschen wie die Kinder und der Weihnachtsglanz färbt auf uns ab – im Inneren.

Wir und die Toten – Ein Nachtrag

Der November ist der Monat im Jahr, in dem viele traditionelle Feier- oder Gedenktage dem Gedenken der Toten gewidmet sind. Im letzten Jahr hatte ich im November-Beitrag ausführlicher dazu geschrieben.
Eine Beobachtung, die in der Aufstellungsarbeit immer wieder eine Rolle spielt, ist: Die Toten wirken oft in das Leben der Lebenden hinein. Diese Wirkungen können belastend und einschränkend sein, es kann aber auch eine besondere Kraft von dieser Wirkung ausgehen.
Besonders bewegend sind solche Wirkungen in Aufstellungen, wenn es um die Toten – die Opfer, aber auch die toten Täter!- in der Folge von Kriegen, Genoziden, Völkermorden, ethnischer Verfolgung oder politisch motivierten Massenmorden handelt. Hier haben die seelischen Bewegungen auch bei den Nachfahren eine ganz besondere Wucht.

Die Bewegungsform der Begegnung mit den Toten

In dem Beitrag zum November im letzten Jahr hatte ich beschrieben, warum die Begegnung mit den Toten in vielen Fällen heilsam ist und zu innerem und äußerem Frieden beitragen kann. In diesem Beitrag soll es, in gewisser Weise daran anknüpfend, um die Form der heilenden Bewegung gehen, wie sie häufig in Familienaufstellungen zu beobachten ist.

Die Hinwendung * Der Kontakt * Die Abwendung

In der Aufstellungsarbeit zeigt sich meist eine Art von Dreischritt in der Bewegung: Zunächst erfolgt eine Hinwendung zu den Toten. Die Hinwendung erfolgt oft vorsichtig, sozusagen „mit Zittern und Zagen“. Sie erfordert Mut und Überwindung. Wenn die Hinwendung zu den Toten gelingt, ergibt sich meist eine Phase, in welcher die Protagonisten (entweder als Stellvertreter oder in der eigenen Rolle) sich dem Leid und dem Sterben aussetzen. Manchmal sitzen sie bei den Toten, manchmal legen sie sich dazu, manchmal schauen sie einfach schweigend und ergriffen. Und nach einer gewissen Zeit erheben sich die Lebenden wieder, kehren den Toten den Rücken, und nehmen ihr eigenes Leben wieder in den Blick, aber gestärkt durch die Toten, die sich in ihrem Rücken befinden. Die erneute Zuwendung zum Leben hat dann eine andere Größe und ein anderes Gewicht.

Wie gesagt: Diese Bewegungsform findet sich häufig und sie stellt sich oft spontan ein, wenn die Protagonisten sich der Bewegung wirklich überlassen. (Und man möchte hinzufügen: Wenn sie nicht durch die Aufstellungsleitung in dieser Bewegung gestört werden.)

Die Bedeutung der Abwendung

Eine Zeit lang erschien mir bei Aufstellungen mit solchen Themen der erste Schritt, die Hinwendung zu den Toten, als der entscheidende Schritt zur Lösung. Inzwischen scheint mir der dritte Schritt fast wichtiger: In der Begegnung mit den Toten lösen wir uns, nach einer angemessen Zeit, wieder von Ihnen. Wir lassen sie ihn ihrer Sphäre, in die wir (noch) nicht gehören. Wir wenden uns unserer Sphäre, unserem Lebensvollzug zu. Wir lassen die Toten hinter uns, sowohl im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Meist entsteht dann sowohl Frieden bei den Toten wie auch Kraft bei den Lebenden.

Seelisch abwesende Elternteile

In vielen Familienaufstellungen geht es im Kern darum, die ursprüngliche Liebe zwischen Kindern und ihren Eltern wieder spürbar zu machen, den Fluss dieser ursprünglichen Liebe wieder in Gang zu bringen, wo er blockiert war oder ist. Wenn dies gelingt, ist dies emotional sehr bewegend für alle Beteiligten und auch für alle Beobachter, die nicht als Stellvertreter in der Aufstellung involviert sind.

Aber mitunter gelingt es nicht. Es gibt Aufstellungen, bei denen sich über die Stellvertreter zeigt, dass z.B. eine Mutter schlicht nicht verfügbar ist. Seelisch nicht verfügbar ist. Oft ist in solchen Fällen diese Mutter – um in dem Beispiel zu bleiben – innerlich sozusagen „gefangen“ in der Beziehung zu jemand anderem aus der Herkunftsfamilie mit einem tragischen Schicksal. Und weil sie auf der seelischen Ebene eben zu weiten Teilen „dort“ ist, ist sie nicht „hier“. Und somit für das Kind seelisch nicht erreichbar.

Dies hinterlässt beim Kind eine schmerzhafte und oft dauerhafte seelische Wunde. Und in manchen Aufstellungen kann diese Wunde nicht geheilt werden. Tatsächlich macht die Aufstellung es nur deutlich: Hier ist eben z.B. die Mutter seelisch nicht erreichbar und es gibt nichts, was man tun könnte, um dies zu ändern. Sie „funktioniert“ vielleicht in den wesentlichen Dingen des Alltags und der Versorgung des Kindes, aber eben auf eine seelisch abwesende Art.

Nun ist es ganz sicherlich so, dass es in jeder Kindheit Momente gibt, wo sich das Kind nicht genug gesehen und beachtet fühlt. Das ist unvermeidlich. Die Idee, Eltern müssten perfekt und unfehlbar in ihrer Eigenschaft als Eltern sein, ist irreal. Gemeint ist hier also nicht, dass es in der Kindheit irgendwann und irgendwo Kränkungen der kindlichen Seele gab. Es geht hier um eine Konstellation, in der z.B. eben die Mutter dauerhaft und grundsätzlich seelisch abwesend, also nicht verfügbar war.

Was wäre die Lösung in so einem Fall?

Es gibt hier keine Lösung im Sinne einer Auflösung der Blockade von seelischen Energien.

In Aufstellung gelingt eine solche Lösung im Sinne einer Auflösung oft, wenn es um etwas geht, was wir „unterbrochene Hinbewegung“ nennen. Wenn die ursprüngliche Hinbewegung des Kindes zur Mutter – und die allererste Bewegung ist hier beim Neugeborenen die Bewegung zur Mutterbrust – unterbrochen wird. In der Seele des Kindes entsteht hier eine fundamentale Enttäuschung und ein großer Schmerz. Und zur Vermeidung des Schmerzes „beschließt“ die Seele des Kindes sozusagen: „Ich will es nicht mehr versuchen“. In Kindern zeigt sich das oft in der Form des Trotzes.
In solchen Fällen kann die ursprüngliche Wunde oft in einer Familienaufstellung geheilt werden. In dem in der Familienaufstellung diese ursprüngliche Hinbewegung, meist zur Mutter, nachgeholt wird. Wenn dies gelingt und auch innerlich vollzogen wird, ergibt sich ein grundlegend geändertes Lebensgefühl.

Hier aber geht es nicht um punktuelle Enttäuschungen oder unterbrochene Hinbewegungen. Hier geht es darum, dass ein Elternteil, im Beispiel eine Mutter, grundsätzlich seelisch abwesend, seelisch nicht verfügbar ist.

Was also ist hier gemäß? Nun, zunächst einmal: (An)Erkennen, was ist. Was in dem Fall bedeutet: Die Aufstellung zeigt, dass ich keine Chance hatte als Kind, wirklich gesehen zu werden. Und mehr noch: Es gibt nichts, was man daran ändern könnte, auch nicht im Nachhinein. Dieser Elternteil war nicht erreichbar.

Das klingt hart. Und das ist es auch. Das ist ein schweres Schicksal für das Kind. Aber es gibt noch etwas anderes dabei. Nämlich die Tatsache, dass das Kind geboren wurde, ins Leben kam, groß wurde, also offenbar zumindest mit Nahrung, Kleidung, Wohnung usw. hinreichend versorgt wurde. Wenn auch vielleicht auch mit wenig Anteilnahme und menschlicher Wärme. Und auch diese Tatsache muss gewürdigt werden. In einer Aufstellung wird dies vollzogen, wenn das Kind sich vor die Mutter stellt und sagt: „Ich verdanke dir mein Leben! Ohne dich wäre ich nicht.“ Und vielleicht ergänzend: „Als Kind hätte ich deine Aufmerksamkeit so sehr gebraucht!“

Wie oft in Aufstellungen ist es diese einfache Feststellung von Tatsachen, die eine Erleichterung bringen. Ohne Vorwürfe, ohne Diskussion. Einfach: Sagen, was ist bzw. was war. Aber im Angesicht der seelischen Wunde gehört es mit zum Schwersten, was man tun kann. Es ist eine Zumutung. Zumutung bedeutet: Wir trauen der Seele des nun erwachsenen Kindes den Mut zu, diesen Schritt zu gehen. Im vollen Bewusstsein, wie schwer er ist.

Oft zeigt sich in Aufstellungen in solchen Fällen aber noch etwas anderes. In vielen solchen Fällen gibt es im Familiensystem noch eine andere Quelle, von der das Kind das erhalten kann, was bei der Mutter nicht zu erhalten war. Nämlich das, was wir die ursprüngliche Liebe nennen. Das könnte der Vater sein, aber oft ist er es nicht. Meist ist es eine Großmutter, eine Großvater, ein Onkel. Und wenn man dann diese Person aus dem Familiensystem hinter die (innerlich abwesende) Mutter stellt, dann strahlen sie über die Schulter der Mutter hinweg das Kind an.

Es gibt also in manchen Fällen die Möglichkeit für das Kind, dasjenige, was bei der Mutter schmerzlich vermisst wird, sozusagen stellvertretend durch ein anderes Familienmitglied zu erhalten. Es wird auf der seelischen Ebene sozusagen ein Bypass gelegt. Und damit wird die Blockierung der ursprünglichen Liebe zwar nicht beseitigt, aber umgangen – mit einer tiefen heilenden Wirkung.

Die Heilung des inneren Kindes oder: Die Selbstbemutterung

Was aber, wenn auch einen solcher „Bypass“ nicht möglich ist? Im Rahmen von Aufstellungen gibt es hier noch eine Möglichkeit für einen Heilungspfad, der zunächst paradox erscheint. Es ist ein wenig wie in der Münchhausen-Sage, in welcher der Held sich und sein Pferd an den eigenen Stiefelschnallen aus einem Sumpf herausgezogen haben will.

Wenn ein Kind dauerhaft wenig liebevolle Aufmerksamkeit erfährt, dann spaltet es sich seelisch an einem bestimmten Punkt ab. In der Psychologie nennt man das eine Dissoziation, in schamanistischen Traditionen ist es als Verlust von Seelenanteilen bekannt. Ein seelischer Teil, das innere Kind in einem bestimmten Alter, spaltet sich also vom Rest der Seele und der kindlichen Persönlichkeit ab und bleibt sozusagen stehen. Es weigert sich, mit dem Rest mitzuwachsen. Und jetzt lebt in dem Erwachsenen dieses innere Kind – aber anteilslos. Eben abgespalten.

Im Rahmen einer Aufstellung kann man dieses innere Kind aufstellen. Und das erwachsene Ich als separate Person kommt, um dieses innere Kind aus dem inneren Exil abzuholen. Und letztlich geht es darum, die erwachsene Person wieder so mit dem verlorenen inneren Kind zu verbinden, dass dieses Kind ein Zuhause hat und „nachreifen“, nachträglich wachsen kann. Man könnte den Prozess auch als eine Form der Selbstbemutterung bezeichnen, die ein Erwachsener einem eigenen inneren Anteil gegenüber vornimmt.

Der Prozess selber ist hier sehr einfach und etwas verkürzt dargestellt, der tatsächliche Vollzug ist alles andere als einfach. Der Erfolg beruht wesentlich darauf, das Vertrauen des abgespaltenen inneren Kindes zu gewinnen – was nicht leicht ist und auch nicht immer vollständig gelingt.

Aber diese Möglichkeit besteht. Sie erfordert aber nach der Aufstellung einen längeren Prozess, um das heimgeholte innere Kind wirklich heimisch werden zu lassen. Die eigentliche „Arbeit“ beginnt also in diesem Fall nach der Aufstellung.

 

Zum Tod von Bert Hellinger

In diesem Monat, am 19. September 2019, ist Bert Hellinger im Alter von 93 Jahren verstorben.

Wir Familienaufsteller verdanken ihm Vieles, ja eigentlich das Meiste. Und auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Aufstellung verdanken ihm viel. Ohne ihn gäbe es das Familienstellen nicht.

Dieser Beitrag ist kein Nachruf und auch keine „Würdigung“. Ein solches Unterfangen erschiene mir vermessen. Stattdessen bescheide ich mich mit drei kleinen Reflektionen, die mit der Arbeit, der Person und dem Lebenswerk von Bert Hellinger zu tun haben.

Das Große und das Kleine – das Einfache und das Archaische

Das Wesentliche im Familienstellen hat in den allermeisten Fällen damit zu tun, dass wir als Menschen von etwas Größerem getragen, geführt und oft auf verstrickt werden. So sind Menschen in die schweren Schicksale ihrer Herkunftsfamilie verstrickt, oft ohne es zu wissen. Hier wirkt etwas Größeres. Dem gegenüber bin ich klein – und bleibe es auch. Und ebenso bin ich als Kind meinen Eltern gegenüber immer der Kleine oder die Kleine. Und bleibe das auch. Einfach deshalb, weil ich meinen Eltern mein Leben verdanke. Und was kann es Größeres geben? (Wie auch immer die Umstände im Einzelnen gewesen sein mögen.)

Familienaufstellungen rühren oft an dieses Größere. Demgegenüber erleben wir uns als klein. Aber dieses klein sein hat oft eine heilende Wirkung. Auch als Aufstellungsleiter ist man klein. Wir rühren mit den Familienaufstellungen an seelischen Bewegungen, aber wir kontrollieren sie nicht. Wir gehen – im günstigsten Fall – mit dem, was sich zeigt in diesem Moment. Mehr nicht. Und danach ziehen wir uns zurück und überlassen die Menschen ihrer seelischen Bewegung, ihrer „großen Seele“, ohne uns einmischen zu wollen.

Bei diesen Begegnungen des „Großen“ und des „Kleinen“ im Rahmen von Aufstellungen sind es dann die einfachen Dinge, die lösen und lindern, wenn nicht gar heilen. Es sind einfache Sätze, die in den Aufstellungen die meiste Kraft erzeugen. Einfache Sätze wie „ich bin deine Tochter“, die eine Stellvertreterin in einer Aufstellung zur Stellvertreterin der Mutter sagt. Was ist hier gewonnen? Auf einer intellektuellen Ebene nichts. In der Seele aber kann mit einem solchem Satz buchstäblich alles gewonnen werden, wenn er gesammelt ausgesprochen und innerlich vollzogen wir.
Wir stoßen hier auf etwas, das archaisch ist, uns mit dem Urgrund verbindet. Und so wirken auch manche Sätze, die im ursprünglichen Familienstellen entstanden sind, seltsam „altertümlich“ in der Sprache. Wenn etwa Hellinger einen Klienten in einer Aufstellung sich vor seinem Vater verneigen lässt und zu dem Satz anhält: „Ich gebe dir die Ehre!“.

Allein die Sprache mag rückwärtsgewandt klingen. Und doch wirkt in solchen Sätzen eine besondere Kraft, die man durchaus urtümlich nennen kann. Diese Sätze und die symbolischen Handlungen wie das Verneigen wirken aber nur und haben nur dann Kraft, wenn sie sich wirklich aus dem entwickeln, was sich in der Aufstellung in diesem Moment zeigt. Wenn sie geplant eingesetzt werden, sind sie kraftlos.

Es ist in meinem Empfinden eines der vielen Verdienste von Bert Hellinger, sich vor dieser Urtümlichkeit nicht gescheut zu haben. Es hat ihm viel Kritik eingetragen, die er dann souverän ertragen hat. Mir scheint auch, hier liegt ein Missverständnis bei den Kritikern vor. Der Blick bei diesen archaisch anmutenden Sätzen richtet sich nicht nach hinten, er dient nicht der Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“. Er richtet sich nach unten. Er richtet sich auf den Urgrund, aus dem wir kommen und den wir auch wieder gehen. Es ist ein Blick auf das, was uns erdet.

Die Bewegungen der Seele – Oder: die Härte der Konfrontation mit dem Schicksal

Manche Sätze, die Bert Hellinger zu Klienten in einer Aufstellung gesagt hat, wirken streng und von einer unerbittlichen Härte. Hinzu kommt, dass zumindest in der Anfangszeit des Familienstellens der Fokus fast ausschließlich auf bestimmten Ordnungen in Familiensystemen lag, die einzuhalten oder wieder herzustellen waren.

Das hat Bert Hellinger und dem Familienstellen in machen Kreisen den Ruf eingebracht, autoritär zu sein. Mir erscheint auch dies als ein Missverständnis. Auch in den frühen Aufstellungen von Bert Hellinger, die in Büchern und Videos dokumentiert sind, wird rückblickend betrachtet deutlich: Es ging ihm nie um die „Heiligkeit“ oder gar Rechtfertigung einer gegebenen Ordnung, sondern um die Bewegungen, die erst auf der Grundlage gewisser Ordnungen möglich sind. Es ging ihm um den Fluss der ursprünglichen Liebe, insbesondere zwischen Eltern und Kindern. Es ging darum, diese Liebe wieder ins Fließen zu bringen, wo der Fluss gehemmt war und ins Stocken geraten ist. Des wegen hieß das Buch, mit dem er sehr bekannt geworden ist, auch nicht etwa „Ordnungen im Familienleben“ sondern „Ordnungen der Liebe“. Die Ordnung ist hier also kein Selbstzweck, sondern sie stehen im Dienste der Liebe. Sie sind nur insofern gültig, als sie notwendige Bedingung für die Liebe sind.

Ich möchte das Thema der Härte von mancher Intervention Hellingers einmal an einem Beispiel beleuchten. In dem Buch „Entlassen werden wir vollendet“[1] ist unter dem Titel „Die Krieger“ eine Aufstellung dokumentiert. Zur Aufstellung selber nur so viel:
Eine Frau hat das Anliegen, die Beziehung zu ihrem Vater zu klären. Dieser ist bei einem Unfall, der vermutlich ein Suizid war, verstorben als die Klientin neun Jahre als war. In der Aufstellung zeigt sich, dass dieser Vater als Offizier an der Ostfront im 2. Weltkrieg seelisch sehr tief in eingebunden war in das Sterben sehr vieler Soldaten und Offiziere auf beiden Seiten, auf deutscher wie auf russischer Seite. Die Aufstellung belegt auch beim Lesen sehr eindrücklich, welche gewaltigen seelischen Kräfte hier im Töten und Sterben und auch noch im Tode weiter wirken.

Nun aber zu der Härte Hellingers. Nach Beendigung der Aufstellung wendet er sich an die Klientin mit dem Satz: „Das ist natürlich über deine Situation weit hinaus gegangen.“ Worauf die Klientin antwortet: „Ich weiß immer noch nicht, was meine Eltern für eine Beziehung hatten und was mein Vater zu uns Kindern für eine Beziehung hatte.“ Und nun kommt etwas, was mir recht typisch für Hellinger zu sein scheint. Er antwortet: „Wie klein, angesichts dessen, was abgelaufen ist. Wie kleinlich. Gar kein Mitgefühl mit den Soldaten.“

Da haben wir sie also, die sprichwörtliche Härte Hellingers. Er stößt die Klientin mit ihrem Anliegen vor den Kopf. Die Klientin fragt gewissermaßen: Wo bleibe denn da ich mit meinem Bedürfnis, einen liebenden und sorgenden Vater der gehabt zu haben, der mein Aufwachsen begleitet? Und Hellinger antwortet ihr sinngemäß: Dieses Anliegen ist angesichts der Gewalt des Kriegsgeschehens und dem Schicksal der Soldaten sowie dem Schicksal deines Vaters von geringerem Gewicht.

Ist das hart? Ja, unbedingt. Kann man das Anliegen der Klientin verstehen? Nun, wer könnte es nicht verstehen. Und doch: Man kann sich als Leser dieser dokumentierten Aufstellung der Bewertung, dieser Einwand gegen diese Aufstellung sei „klein“ um nicht zu sagen „kleinlich“ kaum entziehen. Wäre es besser gewesen, der Klientin diese Härte zu ersparen? Man hätte vielleicht zum Abschluss der Aufstellung die Tochter vor den Vater stellen können und sie den Satz sagen lassen: „Ich achte dein schweres Schicksal.“ Und dann vielleicht noch: „Schade, dass du so früh gehen musstest. Ich hätte dich als Kind so sehr gebraucht.“

Für sich genommen ist diese Überlegung müßig. Hätte, wäre, wenn … all dies führt nicht weiter. Mir geht es nur darum: Man lasse es einmal auf sich wirken, die beiden Arten die Aufstellung zu beenden. Einerseits nur die Wucht der Verstrickung des Vaters in Töten und Sterben mit der lapidaren Bewerkung: „Das weist jetzt weit über dich hinaus“. Oder das andere Ende, bei dem der Verlust und der Schmerz des Kindes über sein eigenes Schicksal als Folgeerscheinung des Schicksals des Vaters zum Ausdruck kommen.
Welches von beiden hat mehr Kraft? (Bitte, dies ist ernsthaft als offene Frage gemeint, nicht als Suggestion.)

Die Bewegungen der Seele und die Größe

Im erwähnten Buch schreibt Hellinger im Anschluss an die Dokumentation der Aufstellung:

„Was Bewegungen der Seele sind, konnten wir jetzt beobachten. Dass sie weit über unsere Theorien hinausgehen und unsere Vorstellungen von Gut und Böse. Und dass sie uns zeigen, wie sehr wir eingebunden sind in große Bewegungen, die von ferne her gesteuert sind und denen wir uns einfügen müssen, wie sie sind. Dann ergibt sich aus ihnen die Ernüchterung, die hier deutlich wurde, von unseren Idealen und von Größe. Aus ihnen ergibt sich auch, wie sehr wir in etwas eingebunden sind, das uns führt und trägt und fordert und opfert, je nachdem. Das macht uns sehr bescheiden. Dieser Blick auf das, was das Wesentliche trägt und bewegt, gibt uns ein anders Bild von den Mächten, die uns regieren, wie immer wir sie nennen. Gott oder das Geheimnis oder wie immer wir es nennen, ist nicht, wie wir uns das wünschen, lieb. Es ist viel zu groß, um einfach lieb zu sein.“

Die Geschichten und das Verdichtete bei Hellinger

Neben den Aufstellungen gibt es im Werk von Hellinger noch etwas, was ich erwähnen möchte, weil es auch Nahrung für die Seele ist. Es sind die – oft kleinen – Geschichten und die noch einmal mehr verdichteten Sinnsprüche von Hellinger, die sich in seinen Büchern finden. Beide, sowohl die Geschichten wie die Sinnsprüche, haben eine schwer auslotbare Tiefe und verweigern sich einer einfachen Moral.

Eine Geschichte von Hellinger mit dem Titel „Zweierlei Glück“ war bereits im Mai diesen Jahres Thema eines Blogbeitrages. Hier nun eine andere Geschichte:

Die Mitte

Jemand will es endlich wissen. Er schwingt sich auf sein Fahrrad, fährt in die offene Landschaft und findet, abseits vom Gewohnten, einen anderen Pfad.

Hier gibt es keine Schilder, und so verlässt er sich auf das, was er mit seinen Augen vor sich sieht und was sein Schritt durchmessen kann. Ich treibt so etwas wie Entdeckerfreude, und was ihm vorher eher Ahnung war, wird jetzt Gewissheit.

Doch dann endet dieser Pfad an einem breiten Strom, und er steigt ab. Er weiß, wenn er jetzt noch weiter will, dann muss er alles, was er bei sich hat, am Ufer lassen. Dann wird er sein3en festen Grund verlieren und wird von einer Kraft getragen und getrieben werden, die mehr vermag als er, so dass er sich ihr anvertrauen muss. Und daher zögert er und weicht zurück.

Als er dann wieder heimwärts fährt, wird ihm klar, dass er nur wenig weiß, was hilft, und dass er es den anderen nur schwer vermitteln kann. Zu oft schon war es ihm wie jenem Mann ergangen, der einem anderen auf dem Fahrrad hinterherfährt, weil dessen Schutzblech klappert. Er ruft ihm zu: „He, du, dein Schutzblech klappert!“. „Was?“ „Dein Schutzblech klappert!“ „Ich kann dich nicht verstehen“, ruft der andere zurück, „mein Schutzblech klappert!“

„Irgendetwas ist hier schief gelaufen“ denkt er. Dann tritt er auf die Bremse und kehrt um.

Ein wenig später trifft er einen alten Lehrer. Er fragt: „Wie machst denn du das, wenn du anderen hilfst? Oft kommen die Leute zu dir und fragen dich um Rat in Dingen, von denen du nur wenig weißt. Doch nachher geht es ihnen besser.“

Der Lehrer gab zur Antwort: „Nicht am Wissen liegt es, wenn einer auf dem Wege stehen bleibt und nicht mehr weiter will. Denn er sucht Sicherheit, wo Mut verlangt wird, und Freiheit, wo das Richtige ihm keine Wahl mehr lässt. Und so dreht er sich im Kreis.

Der Lehrer aber widersteht dem Vorwand und dem Schein. Er sucht die Mitte und dort gesammelt wartet er – wie einer, der die Segel anspannt vor dem Wind – ob ihn vielleicht ein Wort erreicht, das wirkt. Wenn dann der andere zu ihm kommt, findet der in dort, wohin er selber muss, und die Antwort ist für beide. Beide sind Hörer.“

Und er fügte hinzu: „Die Mitte fühlt sich leicht an“.

Ein Sinnspruch

„Wer mit seiner Seele im Einklang ist, der ahmt niemals nach“

Anlässlich des Todes von Bert Hellinger sei dieser Sinnspruch mir und auch allen Aufstellerinnen und Aufstellern ins Stammbuch geschrieben.

 

[1] Bert Hellinger: Entlassen werden wir vollendet. Kösel Verlag. München 2001.

Die Paarbeziehung und die Eltern-Kind-Beziehung

In den beiden letzten Blogbeiträgen (hier und hier) ging es um die Paarbeziehung. Genauer gesagt: Um die Frage, wie langfristige Paarbeziehungen gelingen. Gemeint waren beide Beiträge nicht – obwohl sie vielleicht so verstanden werden könnten – als „Ratgeberbeiträge“. Es ging nicht um Empfehlungen, was man tun sollte, um eine langfristige und tragfähige Paarbeziehung aufzubauen, falls man dies wünscht[1]. Es handelte sich um Beschreibungen: Was lässt sich beobachten? Welche Wirkungen in Richtung Stabilität oder Instabilität sehen wir häufig? Und diese Beschreibungen leiten sich her aus den Erfahrungen, die in Familienaufstellungen aber auch in Paarberatungen und Paartherapien gesammelt wurden. Damit ist keine Wertung verbunden, etwa im Sinne einer Aussage so sollte es sein. (Und schon gar nicht im Sinne der Aussage: So solltest DU sein in einer Paarbeziehung).

Jedenfalls beschränkten sich die beiden Beiträge auf die Paarbeziehung „an sich“. Ausgeklammert wurde der Aspekt der Elternschaft bei einem Paar. Und dieser Frage widmet sich der vorliegende Beitrag. Was ändert sich in der Paarbeziehung, wenn gemeinsame Kinder hinzukommen?
Um es vorab zu sagen: Die Antwort auf diese Frage ist paradox. Sie lautet nämlich: Alles und Nichts!

Kinder ändern ALLES in einer Paarbeziehung

Wenn ein Paar Kinder hat oder bekommt, ändert sich Alles. Und damit meine ich nicht einmal so sehr den Alltag, die Rollenverteilung, die zusätzlichen Belastungen und Verantwortungen sowie die Veränderungen in den Wertesystemen, also der Frage, was einem wichtig ist im Leben. Das ist zwar die Ebene, die man am deutlichsten merkt. Aber ich meine jetzt speziell die Änderungen in der Paarbeziehung. Die sind oft (zunächst) nicht so deutlich zu merken, aber trotzdem fundamental.

Zunächst einmal eröffnet sich für das Paar eine ganz andere Perspektive. Als Paar schaut man nicht nur auf sich (also die Paarbeziehung), sondern auf etwas gemeinsames Drittes. Auf die Aufgabe, gemeinsam Eltern zu sein. Das kann – im günstigen Fall – die Paarbeziehung enorm vertiefen. Es gibt ihr in der Seele mehr Gewicht.
In Familienaufstellungen sieht man häufig, wenn man ein Paar sich gegenüber stehend aufstellt, so dass sie sich direkt anschauen, dass sie dies nicht lange aushalten. Eine Zeit lang ja, da kann das auch sehr intensiv sein. Aber auf die Dauer ist es eher schwierig. Ein Paar mit Kind oder Kindern, also eine Familie, hat eine andere Stellung. Da stehen die Eltern nebeneinander und schauen auf die Kinder. Und in diesem nebeneinander stehen und gemeinsam auf etwas Drittes schauen fühlen sie sich verbunden. Oft sehr inniglich verbunden. Es hat eine andere Qualität als das sich gegenüber Stehen.

Natürlich gibt es diese seelische Bewegung auch bei kinderlosen Paaren. Aber dann benötigen diese Paare eben ein anderes „gemeinsames Drittes“, auf das sie schauen können. Bei Wissenschaftler-Paaren, Künstler-Paaren oder auch bei einem gemeinsamen politischen oder kulturellen Engagement kommt so etwas auch vor.

Aber noch etwas ändert sich fundamental, wenn aus einem Paar eine Familie wird: Die Frau, die Mutter erhält in der Paarbeziehung ein stärkeres Gewicht. Ich habe an anderer Stelle ausführlicher dazu geschrieben. Hier dazu nur als Kurzfassung: Über die spezifische Erfahrung von Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit, bei der das Kind zunächst buchstäblich ein Teil des Körpers der Mutter ist und auch nach der Geburt stärker körperlich an die Mutter gebunden ist, ergibt sich die Beziehung der Kinder zur Mutter in einer anderen Qualität als die zum Vater. Die Mutter erlangt über die Kinder dann eben auch eine andere Art von Präsenz in der Paarbeziehung. Man könnte auch – etwas überspitzt – formulieren: Sie erlangt in der Paarbeziehung das Übergewicht. Das ist ein seelischer Prozess, kein psychologischer. Es muss nicht zwingend damit einhergehen, dass die Frau in der Partnerschaft sich für „besser“ hält als ihren Mann. Aber ihr seelisches Gewicht wird höher.

In Familienaufstellungen sehen wir es häufig, dass im Ausgangsbild der Aufstellung die Väter eine eher „randständige“ Position haben und sich auch oft weniger in ihrer Kraft fühlen. Mitunter ist es dann auch so, dass die Frau auf die männliche Schwäche mit Verachtung reagiert. Wenn das passiert, wird häufig eines der Kinder „rebellisch“ oder sonst wie schwierig – aber das nur nebenbei.

Wir sehen in den Familienaufstellungen: Im günstigen Fall gewinnen beide Partner eines Paares durch die Elternschaft an seelischem Gewicht und an seelischer Tiefe. Aber: Die Frau als Mutter gewinnt hier in der Regel mehr im Vergleich zum Mann als Vater. Zumindest im Innenverhältnis der Familie verschieben sich also die Gewichte. Und das stellt die Paarbeziehung vor eine Herausforderung. Im Grundsatz ist es ja so, dass in einer stabilen Partnerschaft die beiden Personen höchst unterschiedlich, aber gleichwertig sind. Nur so kann es überhaupt zu einem dauerhaften Austausch, einer gegenseitigen Befruchtung auf der seelischen Ebene kommen. Und hier liegt das Problem für die Paarbeziehung in der Familie: Gegenüber den Kindern, insbesondere den kleinen Kindern, ist das Gleichgewicht der Partner im „Innenraum“ der Familie systematisch gefährdet[2].

Kinder ändern NICHTS an den Grundlagen der Paarbeziehung

Nach dem bislang Gesagten erscheint diese Aussage paradox oder gar unsinnig. Sie erhält aber einen tieferen Sinn, wenn man sie in einem bestimmten Kontext betrachtet. Im frühen Familienstellen, das noch stärker den Aspekt der „Ordnungen der Liebe“ betonte[3], wurde über viele Einzelbeobachtung eine Regel für eine „gute“ Ordnung gefunden, die lautete: Die Paarbeziehung hat Vorrang vor der Elternschaft.

Gemeint ist damit: Die Paarbeziehung war vor der Eltern-Kind-Beziehung da. Und die Paarbeziehung ist die Grundlage der Elternschaft. Deswegen hat sie auch einen „Vorrang“.

Ein gut „funktionierendes“ Familiensystem – man verzeihe mir hier den technischen Ausdruck, der die Sache nicht wirklich trifft – hätte also in dieser Sichtweise die Voraussetzung, dass die Eltern ihre Paarbeziehung nicht „opfern“ zugunsten der Elternschaft, sondern im Gegenteil zuerst und zuvörderst ihre Paarbeziehung vital leben und dann aus dieser Beziehung heraus ihre Elternschaft gestalten.

Und in diesem Sinne ändert sich gar nichts an den Bedingungen für eine langfristige Paarbeziehung, wie sie in den beiden letzten Blog-Beiträgen beschrieben wurden: Jeder Teil der Partnerschaft ist nicht nur als Einzelperson (als Individuum) in der Partnerschaft präsent, sondern trägt im Rucksack die ganze Herkunftsfamilie insbesondere mit den bedeutsamen Schicksalen dort mit sich herum. Das muss erkannt und anerkannt werden – und dazu muss vorbehaltlos „JA“ gesagt werden. Und die drei Säulen, auf denen die Paar-Beziehung ruhen kann, sind die geteilte Sexualität, die tiefe Wertschätzung für die andere Person und der gemeinsam gemeisterte Alltag. Das bleibt alles weiterhin und ohne Abstriche gültig, auch wenn die Paar-Beziehung um den Aspekt der Elternschaft erweitert wird.

Im letzten Abschnitt hatte ich ja beschrieben, dass man in Familienaufstellungen im Ausgangsbild die Väter oft in einer eher „randständigen“ Position findet. Mitunter ist der Vater für einzelne Kinder oder gar alle Kinder nicht recht sichtbar. Und wenn im Verlauf der Aufstellung so umgestellt wird, dass die Eltern nebeneinander und den Kindern gegenüber stehen (die Eltern also beide gleichermaßen für die Kinder sichtbar sind), dann geht oft ein spürbares und sichtbares Aufatmen durch die Stellvertreter der Kinder. Sie fühlen sich entlastet. Und sie dürfen Kind sein, wenn sie die Eltern nebeneinander sehen. Und noch etwas anderes zeigt sich häufig in diese Aufstellungen: Nach der Umstellung sehen sich die Eltern stärker oder manchmal sogar zum ersten Mal wirklich in dieser Aufstellung. Da passiert dann etwas bei den Stellvertretern der Eltern, also ob sie sich innerlich sagen würden: „Hoppla, da ist ja noch ein Partner / eine Partnerin! Das hatte ich fast vergessen.“

Es zeigt sich in diesen Familienaufstellungen: Wenn die Paarebene der Eltern nicht vergessen, sondern gelebt wird, dann geht es sowohl dem Paar besser als auch den Kindern.
Und in diesem Sinn ändern gemeinsame Kinder nichts an den grundlegenden Dingen im Gelingen einer Paarbeziehung. Eher im Gegenteil: Es bleibt alles weiterhin genau so gültig, es wird eher noch wichtiger, weil über die gute Paarbeziehung auch eine gute Elternschaft leichter gelebt werden kann.

Abschließend möchte ich noch anfügen, dass dies auch dann gilt, wenn die Eltern als Paar sich trennen. Wenn die Mutter hier trotz Trennung innerlich den Kindern gegenüber neben dem Vater steht und wenn der Vater trotz Trennung innerlich den Kindern gegenüber und neben der Mutter steht, dann wird die Trennung für die Kinder als weniger belastend erlebt.


[1] Tatsächlich ging es um Dinge, die man nicht wirklich tun kann. Die sich aber entwickeln können, aus einer gewissen inneren Haltung und auch aus einer Einsicht heraus.

[2] Väter, die dies mehr oder weniger instinktiv spüren, suchen dann oft ihr „spezifisches Gewicht“ über das Außenverhältnis der Familie zu stärken, zum Beispiel über eine stärkere Funktion in der materiellen Existenzsicherung der Familie. Auch dies wäre eine seelische Ausgleichsbewegung mit dem Ziel, wieder eine Gleichwertigkeit zunächst in der Partnerschaft im engeren Sinne und darüber in der Familie im weiteren Sinne herzustellen.

[3] Mehr zum Unterschied zwischen der Frühphase im Familienstellen und der späteren Entwicklung hin zu den „Bewegungen der Seele“ hier.

Die drei Säulen der Paarbeziehung

Dieser Blog-Beitrag schließt an den Beitrag vom letzten Monat an, bei dem es um das Gelingen von langfristigen Paar-Beziehungen ging. In diesem Beitrag soll die Paarbeziehung unter einem anderen Aspekt beleuchtet werden. Nämlich mit der Frage, was macht eigentlich eine Paarbeziehung aus? Was muss vorhanden sein bzw. ab wann kann man nicht mehr von einer Paarbeziehung sprechen, weil offensichtlich die wesentlichen Grundlagen fehlen?

Eine Sichtweise, die ich hier vorstellen möchte, ist: Die Paarbeziehung ruht –idealerweise möchte man einschränkend sagen – auf drei Säulen. Die drei Säulen sind:

  1. Eine gemeinsame Sexualität
  2. Ein tiefes wechselseitiges Wohlwollen – im ursprünglichsten Sinn des Wortes
  3. Das zusammen Leben, die gemeinsame Meisterung des Alltags

Nicht alle drei Säulen müssen gleich stark die Statik der Paarbeziehung tragen. Es müssen für eine Paarbeziehung nicht einmal alle drei Säulen wirklich gelebt werden. Auch lediglich zwei davon oder evtl. sogar nur eine kann eine Paarbeziehung begründen. Eindeutig ist jedoch: Wenn es keine dieser drei Säulen gibt, gibt es auch keine Paarbeziehung.

Säule 1: Die gemeinsame Sexualität

Es mag für manche Leserinnen oder Leser überraschend sein, dass hier die Sexualität zuerst genannt wird. Der Grund ist dafür ist einfach: Hier haben wir es mit der größten Herausforderung zu tun. Die Sexualität ist eine starke Kraft. Und sie ist groß, viel größer als die beteiligten Individuen, die sich auf eine sexuelle Begegnung einlassen. Und weil sie größer ist als wir, ist sie nicht vollständig kontrollierbar oder einhegbar. In der sexuellen Dynamik gibt es immer zumindest Aspekt, wo wir ausgeliefert sind und die immer wieder neu ein Wagnis sind und bleibt. Und um gleich noch eine kleine Irritation setzen: Die Sexualität ist größer als die Liebe! Warum? Die Sexualität kann neues Leben erzeugen. Die Liebe alleine kann das nicht. (Sexualität alleine, ohne Liebe, dagegen schon.)

Eine wirklich dauerhaft gelebte gemeinsame Sexualität hat daher das Potential, der Paarbeziehung eine besondere Tiefe zu geben. Eine Tiefe, die mit den beiden anderen Säulen alleine nicht zu erreichen ist.
Gleichzeitig liegt in dieser Ur-Kraft mit ihrem Eigenwillen ebenso das größte Potential für Missverständnisse, Kränkungen und Zerwürfnisse.

Säule 2: Tiefes, wechselseitiges Wohlwollen

Das Wort Wohlwollen beschreibt, worum es hier geht. Wenn vorhanden, wollen wir dass es dem anderen Menschen, mit dem wir ein Paar bilden, wohl ergeht. Und wir wollen unseren Teil dazu beitragen. Dieses Beitragen zum Wohlergehen der anderen Person wird als befriedigend, ja als Glück erlebt.

Wenn dieses Wohlwollen besteht, gibt es keinen Platz für Missgunst, Neid oder Eifersucht. Ebenso wenig ist dann Platz für Bestrebungen, die Partnerin oder den Partner nach meinen eigenen Wünschen verändern zu wollen. An der Abwesenheit dieser Impulse kann erkannt werden, ob und in wie weit dieses Wohlwollen besteht.

Diese zweite Säule hat viel zu tun mit dem bedingungslosen, dem „großen“ JA zum Anderen, so wie die andere Person ist und mit allem was zu ihr gehört und ohne Abstriche oder Einschränkungen, das im Blog-Beitrag vom letzten Monat angesprochen wurde.

Säule 3: Zusammen Leben

Diese letzte Säule ist die vielleicht am meisten unterschätzte in der Paarbeziehung. Die Meisterung des gemeinsamen Alltags von zwei Menschen mit unterschiedlichen Gewohnheiten und Präferenzen gerade in den Kleinigkeiten des Alltags ist eine eigenständige Leistung des Paares, die häufig nicht also solche gesehen und gewürdigt wird.

Deutlich wird dies oft im Krisen- oder Konfliktfall, in dem die Unterschiede in der Alltagsbewältigung zu Kristallisationskernen für Streit und Vorwürfe werden. Man könnte sagen, dass diese dritte Säule in ihrer Bedeutung erst dann wirklich wahrgenommen wird, wenn sie beschädigt ist.

Wo aber bleibt die Liebe?

Wenn du, liebe Leserin oder Leser, bis hier gedanklich gefolgt bist, dann magst du dich fragen: Warum war bislang wenig von Liebe die Rede? Nun, eigentlich war die ganze Zeit von Liebe die Rede, nur das Wort fiel kaum. Einerseits, weil das Wort Liebe höchst unterschiedliche Vorstellungen und Assoziationen auslöst. Viele dieser Vorstellung sind dann doch arg „verrosamundet“ und „verpilchert“, um es einmal flapsig auszudrücken. Und dafür ist das Thema eigentlich zu ernst und zu gewichtig.

Eine Annäherung wäre möglich über die Wurzel unserer Kultur, die im griechischen Altertum liegt. Dort gibt es für das, was wir im Deutschen einheitlich unter „Liebe“ fassen, drei Worte, nämlich

  • Eros
  • Agape
  • Philia

Eros meint die körperliche Liebe und die damit verbundene körperliche Anziehung. Eros zielt natürlich auf die Triebkraft der Sexualität, geht jedoch noch etwas darüber hinaus. Die erotische Schwingung als Energie kann durchaus auch ohne sexuellen Vollzug bestehen, steht aber natürlich schon im Kraftfeld der Sexualität.

Agape meint dagegen die seelische Dimension der Liebe. Agape ist die selbstlose, bedingungslose, erwartungsfreie Liebe, die sich dann eben im Wohlwollen, im Wollen des Wohlergehens des Anderen, ausdrückt.

Philia ist die geistige Liebe, eine Liebe, die sich von gemeinsamen Interessen, Lebensvorstellungen, Anschauungen, Aufgaben und Zielen nährt. Sie hat die Besonderheit, dass hier zusätzlich zu den beiden beteiligten Menschen noch etwas Drittes im Spiel ist, eine Sache, etwas im „Außen“, auf das hin die Energien der beiden Menschen gerichtet sind. Man könnte dies oft auch als „Sorge“ für etwas beschreiben. (Wir sorgen gemeinsam für eine saubere und wohnliche Umgebung oder für wohlschmeckende Mahlzeiten.)

Wenn wir also dieser Dreiteilung der Liebe im klassisch griechischem Sinne folgen, dann erkennten wir unschwer die Zuordnung der drei Arten der Liebe zu den drei Säulen der Paarbeziehung: Die erste Säule ist Liebe als Eros, die zweite Liebe als Agape und die dritte Säule Liebe als Philia. In diesem Sinn war die ganze Zeit von Liebe die Rede, ohne das (deutsche) Wort zu nutzen.

Ein, zwei oder drei Säulen?

Eingangs hatte ich behauptet, dass für eine stabile Paarbeziehung zwei der Säulen oder gar nur eine durchaus ausreichen (können). Man könnte nun meinen, dass es doch aber schön wäre und zumindest anzustreben wäre, wenn in einer Paarbeziehung alle drei Säulen stabil gelebt werden. Und vielleicht ist das auch so. Ich weiß es nicht.

Mir zumindest geht es bei den drei Säulen nicht um ein normatives Modell oder die Beschreibung eines Idealzustandes. Betrachten wir daher, was wir in langjährigen Paarbeziehungen tatsächlich vorfinden (manchmal mehr, manchmal weniger gut „funktionierend“), dann sehen wir, dass alle denkbaren Kombinationen von zwei der drei Säulen als gelebte Wirklichkeit vorkommen. Und sogar nur eine der drei Säulen kommt real vor, und das gar nicht einmal so selten. Und der tatsächlich gelebten Realität ein „Sollte“ als Ideal entgegenzuhalten, ist meist ein fruchtloses Bemühen.

Für langjährige Paare, in deren Alltag nicht alle drei Säulen wirklich gelebt werden, stellt sich eher die Frage: Können wir gut damit leben? Mit der Form der Liebe, die bei uns als Paar präsent ist? Ist es genug? Ist es für beide Teile des Paares genug? Ist es für uns als Paar genug? Können wir das, was wir als Paar haben, wertschätzen, statt uns über das zu grämen, was wir nicht haben?
Nur, wenn die Antwort auf diese Fragen „nein“ lautet, dann ergibt sich ein Klärungsbedarf, Änderungsbedarf und vielleicht auch Trennungsbedarf.

Wie die Paarbeziehung gelingt

Nein, hier steht jetzt kein Rezept. Man nehme dies, man wiege noch jenes zu – und dann gelingt der Kuchen. Oder so. Es geht hier auch nur teilweise um etwas, was man tun könnte. Es geht um zwei Aspekte, die in das Gelingen oder Nicht-Gelingen einer Paarbeziehung hineinspielen, und die nur sehr zum Teil in unserer Kontrolle liegen. Es sind sicherlich nicht die einzigen relevanten Einflussfaktoren, aber es sind zwei wichtige, weshalb sie hier zur Sprache kommen sollen.

In einer Paarbeziehung treffen sich nicht zwei Individuen – es treffen sich zwei Systeme

Wenn zwei Menschen sich treffen und stark voneinander angezogen sind (und ich nehme als Beispiel einmal an, es handele sich um einen Mann und eine Frau), dann treffen sich hier nicht nur ein einzelner Mann und einen einzelne Frau und bewegen sich aufeinander zu.

Hinter dem Mann stehen seine Eltern, hinter denen deren Eltern und hinter deren Eltern deren Eltern. Des Weiteren stehen hinter ihm weiter wichtige Mitglieder seines Herkunftssystems wie vielleicht Geschwister, insbesondere aber Mitglieder im Familiensystem mit besonderen oder schweren Schicksalen. Und zusätzlich stehen hinter (oder vielleicht auch neben) ihm noch wichtige frühere Partnerschaften, besonders, wenn es gemeinsame Kinder gibt.
Und hinter der Frau stehen genau so die Eltern, Großeltern, wichtige Schicksale und gegebenenfalls wichtige frühere Partnerschaften, besonders, wenn es gemeinsame Kinder – auch abgetriebene oder totgeborene -aus der Partnerschaft gibt.

Und beide sind seelisch an diese Herkunftssysteme gebunden, ihnen und ihren Wertesystemen verpflichtet. Das gilt auf der seelischen Ebene immer. Auch wenn es äußerlich so aussieht, als habe sich jemand von seinem Herkunftssystem losgesagt. (Wahrscheinlich gilt es dann sogar in besonderem Maße – die Rebellion gegen das eigene Herkunftssystem bindet seelisch um so stärker) Es treffen sich also niemals nur zwei Personen. Es treffen immer zwei komplette soziale Systeme aufeinander. Diese Systeme wirken in den Personen die sich treffen. Und dieses Aufeinandertreffen von zwei kompletten Systemen erzeugt (vermutlich) diese besondere Anziehungskraft, eine Kraft, welche die beiden Personen als einzelne Individuen gar nicht hätten.

Ich stelle mir manchmal vor – aber es ist wirklich erst einmal ein inneres Bild, ich weiß nicht, ob es wirklich so ist – dass über die Köpfe der beiden Personen sich die beiden Systeme zulächeln. Und sich zuflüstern: „Über die Verbindung dieser beiden können wir vielleicht etwas lösen, was bislang einen Lösung nicht zugänglich war“. Oder etwas heilen, was bislang in den Systemen einer Heilung nicht zugänglich war.

Das bedeutet aber auch: Früher oder später, nach der Phase der ersten Verliebtheit, wird sich diese Bindung an das Herkunftssystem zeigen. Und es zeigt sich in Form von „Fehlern“, bei den Partner. Bestimmte Eigenheiten oder Eigentümlichkeiten, wo dann der Partner oder die Partnerin denkt: „So hatte ich mir das nicht vorgestellt!“ Es sind fast immer die seelischen Bindungen an das größere System in meinem Gegenüber, die hier zum Vorschein kommen.

Was bedeutet das nun praktisch? Oder: Was soll ich damit tun als Teil einer Partnerschaft? Nun, tun kannst du da wenig. Eigentlich geht es auch gar nicht um ein bestimmtes Tun. Meine Vermutung ist: Es reicht, anzuerkennen, dass es so ist. Mit deinem Partner oder deiner Partnerin hast du dir ein ganzes System mit eingehandelt. Und das ist nicht leicht und fordert dich, manchmal bis an die Grenze[1]. Aber sei dir gewiss: Deinem Partner oder deiner Partnerin geht es genau so. Dies zu wissen, anzuerkennen und vorbehaltlos „Ja“ dazu zu sagen, macht es aber leichter.

Das „JA“ zum Anderen mit allem, was zu ihr oder ihm gehört

Damit sind wir schon beim zweiten Punkt, auf den ich eingehen will. Zum Gelingen einer (langfristigen) Partnerschaft trägt sicherlich bei, wenn wir in der Lage sind, wirklich bedingungslos JA (ein großes JA!) zum Anderen zu sagen. Mit allem was zu ihm oder ihr gehört. Und dazu gehören nicht nur die „Marotten“, sondern vor allem das, was ihn oder sie zu dem gemacht hat, was er oder sie ist. Und das ist in erster Linie das weitere Herkunftssystem, die gesamte Ahnenreihe mit allen Schicksalen. Hiermit ist die andere Person seelisch verbunden. Ob das gewusst oder gewollt wird oder nicht. Nur so ist der andere Mensch zu haben – ohne dies ist er nicht zu haben.

Es gibt eine kleine mentale Übung, die man dazu machen kann. Man stellt sich seinen Partner oder seine Partnerin innerlich vor, stellt die Person innerlich vor sich hin. Und dann schaut man über die Person hinaus und sieht vor dem geistigen Auge die Eltern. Und hinter den Eltern deren Eltern usw., bis weit in die Tiefe der Zeit hinein. Und wenn das alles im Blick ist, dann sage man innerlich zum Partner oder Partnerin: „Ich stimme dir zu, mit allem was zu dir gehört. Ohne Einschränkung“.

Man kann es sich ja auch einmal andersherum vorstellen. Viele Menschen laufen innerlich mit einem „Idealbild“ eines Partners oder einer Partnerin herum. Aber man stelle sich das einmal wirklich konkret vor, man hätte so einen Partner oder so eine Partnerin! Wie wäre das? Wie könnte man da noch wachsen? Wie könnte da die Partnerschaft noch wachsen? Und nebenbei gesagt: Wenn du einen „fehlerfreien“ Partner möchtest, dann weißt du natürlich eines ganz genau, auch wenn du es dir vielleicht nicht gerne zugibst: DU bist mit Sicherheit NICHT fehlerfrei. Dazu kennst du dich zu lange und zu gut, um dies ziemlich genau zu wissen. Also wärest du mit einem „fehlerfreien“ Partner immer in der unterlegenen Position. Willst du das wirklich?[2]

Wenn dieses große JA gelingt, dann ist das eine besondere Leistung. Aber auch hier wieder: Die Frage, „was muss ich tun, damit mir diese Leistung gelingt?“ führt in die Irre. Wenn es gelingt, ist es einen Leistung des vollen Lebensvollzugs.

Manchmal begegnet man Paaren, da spürt man das, auch von außen. Da liegt eine besondere Kraft in dieser Paarbeziehung. Und die strahlt aus. Woher kommt diese Kraft? Ich weiß es nicht wirklich. Ich weiß nur: Wenn diese Kraft da ist, sind diese Menschen mit etwas Größerem verbunden, das sie hält, trägt und führt.

Aber das sich Üben im großen JA zum Partner / zur Partnerin wäre in jedem Fall ein guter Anfang.

 

[1] Man könnte meinen, dass sei der eigentlich (Hinter)Sinn einer Partnerschaft: Gefordert zu werden bis an die Grenze. Auf das man wachse an dieser Herausforderung.

[2] Jetzt könntest du – oder ein Teil von dir – einwenden: Aber ist das nicht zu bescheiden? Warum soll ich mich mit weniger als perfekt zufrieden geben? Aber es ist gar nicht bescheiden. Wenn jemand aus vollem Herzen und ohne Einschränkung sagen kann: „Mein Mann ist ein guter Mann“ oder „Meine Frau ist eine gute Frau“ – dann ist das mehr als genug. Und das hat Größe.

Orpheus – oder: Das große und das kleine Glück

 

Es gibt bei Bert Hellinger in unterschiedlichen Kontexten ein Thema, welches sich um das große und das kleine Glück dreht. Es gibt in Menschen das Streben nach dem „großen Glück“. Und es gibt das „kleine Glück“, das aus dem Naheliegenden erwächst. Und oft muss man sich entscheiden, wonach man strebt. Und vor die Wahl gestellt, würden wir natürlich sagen oder denken: Natürlich ist das große Glück erstrebenswerter als das kleine Glück. Aber die Frage ist: Stimmt das wirklich?

Bei Hellinger gab es in seinen Seminaren mitunter Bemerkungen von ihm dazu, welche sinngemäß lauten: Das große Glück währt meist nur kurz. Das kleine Glück aber kann lange dauern. Und es hat einen Vorteil: Es kann wachsen. (Gerade weil es zunächst erst einmal klein ist).
Man mag noch hinzufügen: Das große Glück trennt eher, insbesondere in Beziehung zu meinen Mitmenschen, während das kleine Glück, das Glück mit „menschlichem Maß“, mich verbindet. Es hebt mich nicht ab von anderen Menschen, es macht mich gleich und gemein mit meinem Umfeld.

Die Fabel vom großen und vom kleinen Orpheus

Es gibt zu diesem Thema eine Geschichte von Bert Hellinger, die an den antiken Mythos des Orpheus anknüpft, den Sänger, dessen Musik so machtvoll war, dass sie Götter betörte, die wilden Tiere friedliche werden ließ, Steine zum weinen brachte – und letztlich sogar die Herrscher der Welt der Toten beeindruckte.

Diese Geschichte über die zwei Orpheus-Gestalten, den großen und den kleinen Orpheus, soll hier zitiert werden. Unkommentiert zitiert, weil sie nur so ihre Wirkung in der Tiefe der Seele entfalten kann:

Zweierlei Glück

In alter Zeit, als die Götter noch sehr nahe schienen, lebten in einer kleinen Stadt zwei Sänger namens Orpheus.

Der eine von beiden war der Große. Er hatte die Kithara erfunden, eine Vorform der Gitarre, und wenn er in die Saiten griff und sang, war die Natur um ihn verzaubert. Wilde Tiere lagen zahm zu seinen Füßen, hohe Bäume bogen sich ihm zu: Nichts konnte seinen Liedern widerstehen. Weil er so groß war, warb er um die schönste Frau. Danach begann der Abstieg.

Während er noch Hochzeit hielt, starb die schöne Eurydike, und der volle Becher, noch während er ihn hob, zerbrach. Doch für den großen Orphues war der Tod noch nicht das Ende. Mit Hilfe seiner hohen Kunst fand er den Eingang in die Unterwelt, stieg hinab ins Reich der Schatten, setzte über den Strom des Vergessens, kam vorbei am Höllenhund, trat lebend vor den Thron des Totengottes und rührte ihn mit seinem Lied.

Der Tod gab Eurydike frei – doch unter einer Bedingung; und Orpheus war so glücklich, dass ihm die Häme hinter dieser Gunst entging.

Er machte sich auf den Weg zurück, und hörte hinter sich die Schritte seiner geliebten Frau. Sie kamen heil am Höllenhund vorbei, setzten über den Strom des Vergessens, begannen den Aufstieg zum Licht, sahen es von ferne. Da hörte Orpheus einen Schrei – Eurydike war gestolpert -, und erschrocken drehte er sich um, sah noch die Schatten fallen in die Nacht und war allein. Und fassungslos vor Schmerz sang er das Abschiedslied: "Ach, ich habe sie verloren, all mein Glück ist dahin!"

Er selber fand ans Licht zurück, doch das Leben war ihm bei den Toten fremd geworden. Als betrunkene Frauen ihn zum Fest des Weines führen wollten, weigerte er sich, und sie zerrissen ihn bei lebendigem Leibe.
So groß war sein Unglück, so vergeblich seine Kunst. Aber: Alle Welt kennt ihn!

Der andere Orpheus war der Kleine. Er war nur ein Bänkelsänger, trat bei kleinen Festen auf, spielte für die kleinen Leute, machte eine kleine Freude und hatte selber Spaß dabei. Da er von seiner Kunst nicht leben konnte, lernte er noch einen anderen, gewöhnlichen Beruf, heiratete eine gewöhnliche Frau, hatte gewöhnliche Kinder, sündigte gelegentlich, war ganz gewöhnlich glücklich und starb alt und lebenssatt.

Aber: Niemand kennt ihn – außer mir!

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Aus: Bert Hellinger: Die Mitte fühlt sich leicht an. Vorträge und Geschichten. Kösel Verlag 1998, S. 175-177.
Diese Geschichte ist auch der Titelgeber für das Buch „Zweierlei Glück: Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers“ von Gunthard Weber (Carl Auer Verlag 1996).

Was schulden Kindern ihren Eltern?

Oder vielleicht erst einmal: Schulden Sie Ihnen überhaupt etwas? Im Rahmen von Familienaufstellungen ist es fast schon ein Mantra, irgendwann ein Kind zu einem Elternteil sagen zu lassen: „Ich verdanke dir mein Leben. Ohne dich wäre ich nicht.“ Und das ist eine ebenso offensichtlich wie profunde Wahrheit. Ohne unsere Eltern wären wir nicht. Aber ergibt sich daraus eine „Schuld“ der Kinder? In dem Sinne, dass sie ihren Eltern etwas schuldig sind?

Die Antwort im ursprünglichen – man könnte auch sagen „klassischen“ – Familienstellen leitet sich aus den dort gefundenen sogenannten „Ordnungen der Liebe“ her. Bezüglich unserer Frage ist die Antwort eine zweifache:

1. Ja, die Kinder verdanken den Eltern etwas: Nämlich ihr Leben. Und das ist das Wichtigste überhaupt und wichtiger, als alle sonstigen Umstände. Also: Auch dann, wenn es in der Kindheit Missbrauch, Vernachlässigung oder Misshandlung gegeben haben sollte, so bleibt diese grundlegende Tatsache, dass wir unseren Eltern unser Leben verdanken, davon unberührt.

2. Nein, es entsteht daraus keine „Schuld“ in dem üblichen Sinne, dass hier etwas zurückgegeben oder ausgeglichen werden müsste.

Beide Antworten können für sich alleine genommen schon irritierend wirken. Gesteigerte Irritation mag sich noch durch beide Aussagen zusammen genommen ergeben. Beides mag also der Erläuterung bedürfen.

„Ich verdanke meinen Eltern mein Leben“

In diesem Satz steckt mittels des Verbs „verdanke“ ein Dank. In der Anfangszeit des Familienstellens hat Bert Hellinger häufig in Aufstellungen Kinder aufgefordert, sich vor ihren Eltern zu verneigen. Und zwar besonders dann, wenn das Eltern-Kind-Verhältnis durch besondere Vorkommnisse wie z.B. Missbrauch oder Vernachlässigung belastet war. Und das hat mitunter für viel Empörung gesorgt. Wie kann man es wagen, ein missbrauchtes Kind aufzufordern, sich vor dem missbrauchenden Elternteil zu verneigen?

Ich finde eine solche spontan empörte Reaktion durchaus verständlich. Aber die Empörung übersah aus meiner Sicht einen wesentlichen Punkt. Bei der Intervention ging es nicht darum, die Eltern „rein zu waschen“. Es geht überhaupt nicht um das den fraglichen Elternteil. Es geht um das Kind. Und die Frage: Was macht es in der Seele dieses Kindes, wenn es das Leben, so wie es von den Eltern zu ihm gekommen ist, ablehnt? Wie kann es dann noch in ein eigenes, möglichst glückliches und erfülltes Leben gelangen? Wie kann es dann noch, mit Viktor Frankl gesprochen, trotz allem JA zum Leben sagen?

Der Sinn im Verneigen lag darin, zwei Dinge innerlich zu trennen: Einerseits das Geschenk des Lebens selber und andererseits die konkreten Umstände, wie immer sie gewesen sein mögen. Inklusive der Schuld, die Eltern z.B. durch Missbrauch und Vernachlässigung auf sich genommen haben mögen. Weil: Der erste Teil, das Verdanken des Lebens, ist in einer fundamentalen Weise größer und gewichtiger. Und es nimmt nichts davon weg, wenn es gleichzeitig so gewesen sein mag, dass Eltern oder Elternteile auch am Kind schuldig geworden sind. Das zweite vermindert nicht das erste. Beide Tatsachen bestehen nebeneinander. Und nur mit Anerkennung beider Tatsachen findet das Kind in ein erfolgreiches eigenes Leben. Oder wie wir auch sagen könnten: Nur so kann das Kind, das inzwischen längst erwachsen sein mag, das Leben ganz nehmen, mit allem, was es das Kind selbst oder auch die Eltern gekostet haben mag.

Der Fokus liegt also auf dem Wohlergehen der Nachgeborenen. Und dazu bedarf es der Annahme des eigenen Lebens, so wie es durch die und von Vorfahren zu mir gekommen ist. Die Kunst besteht also darin, das Geschenk des Lebens vorbehaltlos anzunehmen – auch wenn die Begleitumstände dieses Geschenks möglicherweise als „vergiftet“ empfunden werden.
Das ist keine ganz leicht zu gewinnende Haltung dem eigenen Leben gegenüber, besonders wenn die Umstände schwierig waren. Aber: Haben wir überhaupt eine andere Möglichkeit?

„Das Kind schuldet keinen Ausgleich“

In menschlichen Beziehungen wirkt ein, oft unbewusster, Ausgleichsmechanismus. Wenn jemand uns etwas gibt oder schenkt, erzeugt es ein Bestreben, zurück zu geben oder zu schenken. Ansonsten entsteht ein Gefühl, in der Schuld des anderen zu stehen. Eine solche Schuld, wenn sie nicht ausgeglichen wird oder nicht ausgeglichen werden kann, gefährdet die Beziehung. Die wird dann meist nicht mehr lange halten.

Aber im Eltern-Kind-Verhältnis ist es, zumindest was das Wichtigste dabei ist, anders. Die Kinder erhalten das Leben von ihren Eltern. Aber dies kann nicht ausgeglichen werden. Wie sollte das auch gehen? Wie will man Leben selber an die Eltern zurückgeben? Allein der Gedanke ist schon absurd.

Also ist die angemessene Haltung von Kindern (und wir alle sind Kinder unserer Eltern und bleiben das auch ein Leben lang): Ich nehme mein Leben, so wie ich es erhalten habe und ohne Abstriche an – und ich mache etwas daraus. Im günstigsten Fall geben ich das Geschenk des Lebens weiter, nämlich an meine eigenen Kinder.

So vollzieht sich in diesem grundlegenden Fakt des Lebens der Ausgleich. Nicht, in dem ich etwas, was ich erhalten habe, in gleicher oder ähnlicher Form zurückgebe. Sondern in dem ich es weitergebe.

Und hier ist eben bezogen auf das Leben selber die Eltern-Kind-Beziehung fundamental anders von jeder anderen menschlichen Beziehung. Eine Freundlichkeit, die ich von jemanden erhalte, mag ich meinerseits mit einer Freundlichkeit beantworten. Aber beim Leben selber ist ein solcher Ausgleich nicht möglich. Dazu ist das, was ich als Kind von meinen Eltern erhalten habe, zu groß. Ich ehre dieses Geschenk am besten, in dem ich etwas daraus mache und es weitergebe.

Die Sorge um und die Pflege von Eltern im Alter

Für viele Menschen stellt sich die Frage nach dem Ausgleich bezüglich der Eltern aber auch noch konkreter: In der Frage bezüglich der Pflege der Eltern im Alter, wenn diese pflegebedürftig sind. Hier erwacht dann das Bedürfnis nach einem Ausgleich, in dem man etwa die Elternteile zu sich nimmt und im Alter pflegt oder in dem sich ein schlechtes Gewissen einstellt, wenn man es nicht tut.

Und hier wären zwei wesentliche seelische Bewegungen zu unterscheiden, die sich im Erleben oft auf nicht ganz glückliche Weise vermischen: Einerseits verdanke ich meine Eltern das Leben selber, die nackte Tatsache, am Leben zu sein, im Leben zu sein – ja: überhaupt zu sein. Aber natürlich verdanken die meisten Menschen ihren Eltern noch mehr, sehr viel mehr konkretes. Viele tausend Mahlzeiten, welche die Eltern für die Kinder zubereitet haben. Ebenso Tausende von gewechselten Windeln. Die Versorgung mit Kleidung und andere Lebensnotwendigkeiten wie Wohnung und einen Schlafplatz. Die Fürsorge und das Kümmern.

Das Leben selber kann man nicht ausgleichen, das geht nicht, das ist dafür zu groß. Aber die anderen konkreten Dinge, die Eltern geleistet haben, damit ich heranwachsen kann, die können in gewisser Weise mit Ähnlichem ausgeglichen werden. Und darum geht es ja in der Pflege von alten Menschen in ganz ähnlicher Weise wie bei Heranwachsen von Kindern: Das es ein Heim gibt, die Versorgung mit Nahrung und Hygiene und um ein Klima der Annahme und Geborgenheit.

Gibt es also doch eine gewisse Verpflichtung der Kinder, hier etwas „zurück zu zahlen“, die auch so moralisch empfunden wird?

Bezüglich der Ordnungen in Familiensystemen ist hier noch etwas anderes zu betrachten. Auf der einen Seite ist es so, dass in der Herkunftsfamilie die Eltern immer Eltern bleiben und die Kinder immer Kinder. Die Eltern sind die „Großen“, die Kinder die „Kleinen“. Die Eltern waren eben schon vorher da. Und innerhalb eines Familiensystems gibt es eine Grundregel in den Ordnungen, dass das Frühere einen gewissen Vorrang vor dem Späteren hat.
Auf der anderen Seite gibt es im Verhältnis zwischen den Familiensystemen aber eben auch die Vorrangigkeit des späteren Familiensystems. Und diese Regel oder Ordnung ist genau so wichtig. Gemäß den im frühen Familienstellen gefundenen Ordnungen hat die Sorge für die eigene Gegenwartsfamilie, die eigene Partnerschaft und die eigenen Kinder, Vorrang vor der Herkunftsfamilie. Warum? Weil nur so das Leben weitergegeben werden kann.

Also noch einmal: Was schulden Kinder jetzt ihren Eltern, wenn es um Pflege im Alter geht? Es ist natürlich erst einmal nichts dagegen einzuwenden, wenn Kinder sich um ihre Eltern im Alter kümmern. Aber: Wenn dieses Kümmern zu Lasten des eigenen Lebensvollzuges und vor allem zu Lasten der eigenen Gegenwartsfamilie oder Partnerschaft führen würde, wäre dies eben auch ein Verstoß gegen die „Ordnungen der Liebe“, wie sie im klassischen Familienstellen gefunden wurden. Im Verhältnis zwischen den Generationen gilt eben auch: Das Leben der jüngeren Generation hat Vorrang vor dem Leben der älteren Generation.

Angemessen ist natürlich, zu achten und zu respektieren, was ich von meinen Eltern erhalten habe. Das muss aber nicht zwingend heißen, dass ich genau die Form der Pflege in Eigenleistung „zurück zu geben“ habe, die ich selber erhalten habe. Es kann auch sein, dass der Achtung der Eltern dadurch Rechnung getragen wird, dass ich als Kind dafür sorge, dass die Eltern ein würdiges Alter in einer Fremdbetreuung erleben können.

Über den Verzicht auf Theorien und gedankliche Konzepte in der Aufstellungsarbeit

In der Familienaufstellung als Methode verzichten wir – weitgehend, nicht absolut vollständig – auf Theorien und Modelle. Von Kritikern der Familienaufstellungen wird daher, wie ich meine zu Recht, eingewandt, dass Familienaufstellungen schon alleine deshalb nicht als Therapieform, als Psychotherapie anzusehen sind. (Mehr dazu hier.) Es gibt in der Familienaufstellung keine ausgearbeiteten ätiologischen Modelle und auch keine Klassifikation von Erkrankungen oder Störungen.
Man hat also keine Lehre von den psychischen oder seelischen Ursachen von Erkrankungen, keine Beschreibungen der exakten Wirkungspfade und Entwicklungsprozesse oder dergleichen. Etwas, was zum Beispiel die Psychoanalyse oder auch allgemeiner die medizinische Psychopathologie für die Einteilung von Krankheitsformen, die Erklärung ihrer Entwicklung und daraus abgeleitete Leitlinien für die Behandlung durchaus besitzt.

Die Familienaufstellung wurde dagegen von ihrem Begründer Bert Hellinger immer als rein „phänomenologische“ Vorgehensweise bezeichnet. Gemeint ist damit: Wir schauen auf die Wirklichkeit oder einen Teilausschnitt der Wirklichkeit – und versuchen dabei, uns von allen Annahmen, Bewertungen, Theorien und Klassifikationssystemen frei zu machen. Wir schauen und lauschen und spüren auf das, was gerade ist und was sich zeigt. Was sich in erster Linie über die Reaktionen der Stellvertreter zeigt. Und mit den Bewegungen, die sich hier zeigen, gehen wir mit. Ohne zu wissen, wohin sie uns führen werden. Ja, genau genommen sogar ohne Ziel und ohne Absicht.

Aber eine Vorstellung ist mit dieser Art des Schauens und Lauschens und Spürens schon verbunden: Es ist die Vorstellung oder vielmehr die Ahnung, dass hinter den beobachtbaren und spürbaren Phänomen etwas Größeres wirkt. Dass es so etwas wie einen „Urgrund“ gibt, aus dem alles kommt und den alles auch wieder zurück fällt. Und dieser „Urgrund“ selber bleibt aber unauslotbar und verborgen.
Es gibt also tatsächlich doch eine Idee. Und jede Idee ist ein gedankliches Konzept. So ganz kommen wir offenbar doch nicht ohne aus.

Eine Formulierung dieser Idee könnte lauten: Es gibt einen Bereich des Verborgenen, aus dem für einen Moment etwas auftaucht. Und was auftaucht, ist dann erfahrbar als eine Einsicht oder eine Wahrheit. (Was die Wahrheit angeht, sollten wir vielleicht lieber sagen: Ein Teil der Wahrheit.) Und was auch immer auftaucht aus diesem Verborgenen wird von dem größeren Ganzen getragen und gestützt. Wir nehmen das, was sich zeigt, was auftaucht aus dem Verborgenen, soweit wir es für unser Leben und unser Handeln brauchen. Und nach einer gewissen Zeit sinkt es wieder in diesen größeren Urgrund, der aber selber verborgen bleibt, zurück.

Der Verzicht besteht nun darin, dieses Größere und Verborgene nicht ergründen zu wollen. Sondern nur mit dem zu gehen, was sich unmittelbar und in diesem Moment zeigt und was erfahrbar ist. Wohl wissend: Was auftaucht an Erfahrung oder Einsicht ist begrenzt und nicht von Dauer. Aber wir vertrauen darauf, dass dieser ständige Austausch mit dem Verborgenen, genügt. Wir nehmen, was sich von sich aus zeigt und verzichten darauf, das Ganze erfahren oder verstehen oder gar kontrollieren zu wollen. Diese Haltung ist eine Haltung des Verzichts, die aber eine beruhigende Wirkung hat. Diese Haltung ist auch jenseits von Neugierde.

Aber wie gesagt: Selbst das ist erst einmal nur eine Idee (und somit ein Konzept) und selbst diese Vorstellung muss man dann wieder hinter sich lassen, wenn man sich ganz auf den gegenwärtigen Moment einlassen will. Das wirkliche Gewahrsein dessen, was sich zeigt, entsteht nur jenseits der Benennung. Nur beim darüber reden oder darüber schreiben kommen wir eben nicht ganz ohne eine Beschreibung aus …

Die meditative Haltung

Etwas Ähnliches zeigt sich auch in der Meditation. Das Wesentliche in jeder Meditation, wie unterschiedlich die einzelnen Meditationsformen auch sonst sein mögen, ist: Wir werden still und gesammelt, verzichten auf jegliche Absicht und Bewertung – und lassen aus der Stille aufsteigen, was immer aufsteigen mag. Ohne Anhaftung und ohne den Versuch, etwas fest zu halten, lassen wir es dann ziehen. Und beobachten still, was als nächstes aufsteigen mag. Meist sind es Gedanken oder innere Bilder. Und dazwischen ist ein kurzer Moment des Nichts und der Leere. Und in dieser Leere, in diesen kurzen Momenten, sind wir mit Allem verbunden. Aber darüber haben wir keine Kontrolle.

Und noch etwas ist ähnlich in der Meditation. Alan Watts, der viel zur Popularisierung von östlicher Philosophie und Meditation im Westen beitrug, hat einmal gemeint: Wenn man meditiert mit einem Ziel, etwa sich besser zu entspannen und dadurch leistungsfähiger zu werden, dann würde man nicht meditieren. Ein Ziel mit Meditation erreichen zu wollen – egal, welches Ziel, sei der Meditation wesensfremd. Und doch oder vielleicht gerade deshalb hat eine regelmäßige Meditationspraxis eine beruhigende Wirkung. Richtig angewendet wird fast jeder entspannter und gelassener. Entsprechende Veränderungen in der Hirnphysiologie sind inzwischen vielfach wissenschaftlich nach gewiesen. Nur: Wenn man Meditation um dieser Zwecke willen betreibt, wird man die Effekte nicht oder nur langsam erreichen. Für einen zielorientierten Geist ist dies eine sehr irritierende Tatsache.

Eine poetische Annäherung

Das Größere und Verborgene, aus dem unsere begrenzten Momente der Einsicht in der Aufstellungsarbeit entspringen, können wir nicht wirklich erfassen. Und wir sollten auch darauf verzichten, es verstehen zu wollen oder uns Theorien darüber zurecht zu legen. Wir haben eben nur vage die Anmutung, dass es eine Quelle geben müsste für das begrenzt Erfahrbare. Eine Quelle, die vielleicht nicht außerhalb von uns liegt, aber die doch größer ist als unser kleines Ich. Das war die Aussage bisher. Und doch benennen wir es in der Aufstellungsarbeit. Wir nennen es das „wissende Feld“. (Mehr dazu hier und hier und hier.) Und allein die Benennung birgt bereits die Gefahr, aus einer lebendigen Erfahrung ein gedankliches Konzept zu machen.

Der Urheber des Begriffs „wissendes Feld“, Albrecht Mahr, hat immer darauf hingewiesen, dass es sich hier nicht um einen wissenschaftlichen Begriff handelt. Auch wenn man natürlich Bezüge zu anderen Feldern, die wissenschaftlich definiert werden, herstellen kann. Im Kern bleibt es trotzdem eine bildhafte, eher poetische denn wissenschaftliche Beschreibung. Und vielleicht nähern wir uns dem Bedeutungsgehalt des Größeren im Verborgenen daher auch besser poetisch.

Es gibt ein Geicht mit dem Titel „Über die Geduld“ von Rainer Maria Rilke, in welchem das Verborgene, aus dem alles entsteht und das alles trägt und hält, thematisiert wird:

Man muss den Dingen
die eigene, stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist austragen – und
dann gebären…

Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.

Er kommt doch!

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit
vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit…

Man muss Geduld haben

Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.

Die Kraft, die aus der Zustimmung kommt

In Familienaufstellungen ist es ein immer wiederkehrendes Grundthema, dem eigenen Leben mit allem, was dazu gehört, zuzustimmen. Sehr häufig geht es dabei um die eigenen Eltern. Die Zustimmung zu den eigenen Eltern, genau so, wie sie sind oder waren, ohne irgendwelche Abstriche: Darin liegt fast immer eine besondere Kraft. Umgekehrt liegt in jedem Einwand, in jedem Beklagen, dass die eigenen Eltern leider nicht gut genug waren für mich (nicht liebevoll genug, nicht aufmerksam genug, nicht … was auch immer genug), eine Schwächung.

Dasselbe gilt auch für Besonderheiten des eigenen Schicksals. Wenn ich etwa mit einer Behinderung geboren bin oder sie durch einen Unfall erleide. Gleiches gilt für die soziale Schicht, in die man hinein geboren ist. Oder jegliche Ausprägungen meiner Körperform (meine schiefe Nase) oder meines Charakters und Temperaments (meine Neigung zu cholerischen Verhalten oder zur Unpünktlichkeit).

Aber bleiben wir noch einmal kurz bei den Eltern. Die Begründung für das Einverstanden-Sein mit den eigenen Eltern, so wie sie sind oder waren und ohne Abstriche lautet ja: Ohne sie wäre ich nicht! Ich verdanke Ihnen meine Existenz, mein Leben. Und dem gegenüber sind alle Einwände, die man haben mag, zweitrangig. Es ist auch so, dass ich mit der Ablehnung der Eltern oder eines Elternteils ja einen Teil von mir selbst ablehne. Das mag die Schwächung erklären, die ich in der Ablehnung der Eltern erleide.

Heißt dies nun, dass Vernachlässigung oder Missbrauch oder Misshandlung von Kindern durch die Eltern keine Rolle spielen? So wird es ja manchmal (miss)verstanden. Nein, die Umstände spielen schon eine Rolle. Aber gleichzeitig gibt es eben diese größte und tiefste aller Gaben: Das Leben selber. Und davon nehmen alle einschränkenden Umstände nichts fort.

Bislang ist das allerdings erst einmal nur eine Behauptung: In der Zustimmung zu dem, was ist, mit allem, was dazugehört, liegt eine besondere Kraft. Allerdings kann man die Behauptung überprüfen. Dazu muss man nur einmal beide Haltungen, die der Ablehnung und die der Zustimmung, nacheinander einnehmen.

Im ersten Fall stellen wir uns unsere Eltern vor, mit allem, was zu ihnen gehört und ihrem Schicksal. Und dann schauen wir gesammelt auf unsere Eltern und sagen innerlich: „Auch wenn es als Kind schwer für mich war …“ (und hier denken wir an die Einschränkungen, die es gab – dar verletzte innere Kind in uns will ja auch zu seinem Recht kommen) und fahren fort „… verdanke ich Euch mein Leben. Ohne Euch wäre ich nicht. Ihr seid genau die richtigen Eltern für mich.“

Im zwei Fall stellen wir uns innerlich vor unsere Eltern und sagen: „Ich habe unter Euch gelitten. Ihr habt mir nicht gegeben, was ich gebraucht hätte. Ich hätte andere Eltern als Euch haben müssen.“

Wichtig für diese Überprüfung ist, diese Sätze nicht nur mit dem Verstand zu sagen oder zu denken, sondern gleichzeitig auch wirklich und ernsthaft zu fühlen. Und nun kommt die Überprüfung. Bei welchem der beiden Szenarien fühlen wir uns mehr im Einklang mit dem Leben? Bei welchem werden wir enger, bei welchem weiter? Bei welchem sind wir mehr in unserer Kraft?

Nicht nur die Herkunft

Die eigene Herkunft mag besonders grundlegend sein bezüglich Zustimmung oder Ablehnung. Aber genau betrachtet wirkt dasselbe Prinzip auch bei vielen anderen Gegebenheiten, die wir in unserem Leben haben, aber lieber nicht hätten. Dies können bestimmte unangenehme Gefühle sein, Angewohnheiten, Eigenschaften oder auch so etwas wie persönliche „Ticks“ oder Süchte oder Krankheiten … oder … oder … oder.

Auch hier können wir überprüfen und vergleichen, wie wirken die innere Haltung der Zustimmung, des Ja-Sagens zu dem was ist, oder die innere Haltung der Verneinung und des Bekämpfens? Was macht und freier und was macht uns unfreier? Was lähmt uns und was macht uns handlungsfähig? Was bringt uns mehr in Einklang und was mehr in Missklang, in Dissonanz?

So könnte zum Beispiel ein Spielsüchtiger sich innerlich mit seiner Sucht konfrontieren und zur Sucht sagen: „Ich erkenne (ich anerkenne), dass du da bist. Es gibt dich. Ja: Ich bin spielsüchtig“. Und paradoxerweise ist dies meist der erste notwendige Schritt, wenn man sich von einer Sucht lösen will.
Oder wenn ich eine Angst habe, die mich einschränkt, dann kann ich zu meiner Angst sagen: „Ich schaue dich jetzt genau an und erkenne an, dass es dich gibt“. Und wenn dieser Satz wirklich genau so gemeint ist, dann ergibt sich meist die Möglichkeit, trotz Angst handlungsfähig zu bleiben. Wenn wir dagegen innerlich vor der Angst wegrennen und sagen, sie sollte eigentlich nicht da sein, sie sollte weggehen, dann hat sie uns erst richtig gepackt[1].

Man könnte es so sagen: Wenn wir den Dingen in unserem Leben, die wir nicht haben möchten, erst einmal vorbehaltlos zustimmen – dann erhalten wir meist ein wenig mehr Spielraum. Oder noch anders gesagt: Die Zustimmung nimmt einen Teil des Schreckens.

„Catch 22“ – eine Warnung bezüglich der Zustimmung

Im englischen Sprachraum gibt es ein geflügeltes Wort: „Catch 22“, zu Deutsch so viel wie „Falle 22“. Diese Redewendung geht auf den gleichnamigen Roman von Joseph Heller bzw. auf dessen Verfilmung zurück. Roman und Film handeln von einem Bomberschützen in einem Fluggeschwader der US Air Force im zweiten Weltkrieg, der keine Einsätze mehr fliegen möchte, weil er Angst hat.
Nun gibt es zwar theoretisch im Regelwerk des Militärs die Möglichkeit, keine Kampfeinsätze mehr fliegen zu müssen, wenn man z.B. geisteskrank („verrückt“) wäre. Der Flugarzt erklärt dann dem Romanhelden, der von den Kampfeinsätzen befreit werden will aufgrund seiner Angst: Verrückt ist, keine Angst vor dem Kampeinsatz zu haben. Wenn man also Angst vor dem Kampfeinsatz hat, zeigt das nur, dass man normal und damit flugtauglich ist. Wer aber so verrückt ist, keine Angst vor dem Kampfeinsatz zu haben und fliegen zu wollen, der wird natürlich auch keinen Antrag auf Befreiung vom Kampfeinsatz stellen.

„Catch 22“ beschreibt also eine paradoxe Situation. Und ein wenig ähnlich ist die „Falle 22“, die es bezüglich der Zustimmung zu unangenehmen oder unerwünschten Lebensumständen gibt. Wenn ich die Zustimmung zu einer Tatsache nur (innerlich) erteile, um dadurch das Unerwünschte los zu werden – dann ist es nur eine andere Form des „Neins“ zu diesem Unerwünschtem und damit wirkungslos.

Die Zustimmung muss also „ehrlich“ gemeint sein. In dem Sinne, dass ich anerkenne, was ist. „Ja“ dazu sage im Sinne von „Ja, so ist es jetzt“. Und ohne den Hintergedanken, dass es dadurch verschwände. Das wäre nur eine „taktische“, eine vordergründige Zustimmung. Man muss sich also von dem Zweckgedanken, ich stimme jetzt zu damit es weggeht, lösen. Die wäre keine Zustimmung, sondern eine verkleidete Ablehnung, eine Mogelpackung.

Zum Abschluss: Eine Ehrenrettung für das „Nein“

Heißt dies nun, man solle niemals nein sagen, immer zustimmen? Sicherlich nicht. Auch die Ablehnung, das „Nein“ hat seinen Platz. Genau genommen ist es sogar so, dass ohne ein „Nein“ auch ein „Ja“ keine Bedeutung hat. Wer immer nur allem zustimmt, dessen Zustimmung ist kraftlos, sie hat kein Gewicht. Es geht eher darum, wozu genau wir zustimmen oder was genau wir ablehnen. Und auch, wie wir Zustimmung und Ablehnung miteinander verbinden.

Die Kraft der Zustimmung ergibt sich aus dem Erkennen und Anerkennen der Realität. Irgendetwas ist so, wie ist. Ich habe zum Beispiel jetzt in dieser konkreten Situation Angst in einer ganz bestimmten Ausprägung. Es geht um die Anerkennung des Faktischen. Es macht keinen Sinn, abzulehnen, was nun einmal im Moment ist. Dabei ginge Kraft und Energie verloren.

Überhaupt nicht sinnlos ist dagegen das Nein, also die Ablehnung, wenn es um ein Verhalten geht, welches sich scheinbar naheliegend aus dem, was ist, ergibt. Im Beispiel des bereits erwähnten Spielsüchtigen könnte dies bedeuten: Er sagt „Ja“ zur seiner Spielsucht. Es ist ein Teil in ihm, den es gibt. Aber er sagt „Nein“ zur Verlockung, heute Abend in die Spielbank zu gehen. Die innere Bewegung könnte also als Satz ausgesprochen lauten: „ JA, es gibt die Verführung, heute Abend wieder an en Roulette-Tisch zu gehen. Und NEIN, ich gebe ihr heute nicht nach!“.

Das Nein zu einem bestimmten Verhalten entfaltet seine Kraft hier erst dadurch, dass ich erst einmal zustimme, dass es die Versuchung in mir gibt.

Letztlich ist ein Nein zu einer Möglichkeit oder einem Angebot ja auch ein Ja zu meiner Entscheidungsfähigkeit. Und hier, in der Ent-Scheidung, also der Trennung von etwas aus eigenem Entschluss, entfaltet das Nein seine Kraft. Allerdings nur, so möchte man hinzufügen, wenn ich dann wieder „Ja“ zu dem sage, was statt dem Abgelehnten ist oder sein soll.

 

[1] In der Psychologie ist dieses Phänomen wohlbekannt als „Angst vor der Angst“. Diese ist sehr oft das eigentliche Problem, nicht so sehr eine bestimmte Angst selber.

Familienaufstellung und Heilung

Wenn jemand eine Familienaufstellung macht zu einem persönlichen Anliegen, dann verspricht er oder sie sich etwas davon. Er oder sich verspricht sich eine Lösung für ein persönliches Problem oder eine Heilung, zumindest einen Beitrag zu einer Heilung von einer Krankheit.

Die Frage ist nun: Kann eine Familienaufstellung heilend wirken und wenn ja, wie heilt sie? Oder vorsichtiger formuliert: Wie entfaltet sie Wirkungen, die eine Heilung unterstützen oder fördern.

Mir scheint, wir können hier drei Arten von Wirkungen erkennen und unterscheiden, die alle eine lindernde bis heilende Wirkung haben (können).

„Ich folge dir nach“ – Körperliche und psychische Erkrankungen und die Verstrickung mit den Schicksalen der Herkunftsfamilie

Es gibt mitunter Erkrankungen oder Einschränkungen im Lebensvollzug, wo der Zusammenhang mit wichtigen Personen der Herkunftsfamilie recht offen zu Tage liegt. Etwa eine Frau, die Diabetes hat, sagt auf die Frage, ob es diese Erkrankung in ihrer Herkunftsfamilie gab: „Ja, meine Mutter hatte das auch schon. Und deren Mutter auch.“ Oder bei einem Mann, der im Alter von 33 Jahren einen Suizidversuch unternimmt an einem 31. Oktober. Sein Vater erhängte sich im Alter von 33 Jahren an einem 31. Oktober. Und dessen Vater, der Großvater des Mannes, erschoss sich ebenfalls im Alter von 33 Jahren und ebenfalls an einem 31. Oktober.

Im Rahmen von Familienaufstellungen sprechen wir hier von einer „Ich folge dir nach“-Thematik. Es scheint, als wolle ein Nachgeborener das Schicksal von Vorangegangenen wiederholen. Als ob die Seele sagt: „Ich mache es wie du!“. Und darin liegt eine große Verbundenheit, eine große ursprüngliche Liebe den betreffenden Personen der Ahnenreihe gegenüber. Aber: Diese Liebe ist, wie Bert Hellinger es ausgedrückt hat, eine „blinde“ Liebe. Und die Lösung wäre: Dass die nachgeborene Person auf die Vorangegangenen schaut, mit Liebe und mit Achtung. Mit Achtung für deren Schicksal. Und dann vielleicht in einer Familienaufstellung diesen Personen der Ahnenreihe sagt: „Bitte! Schaut freundlich auf mich, wenn ich nicht euren Weg gehe.“

Dann wird die Seele frei, die ursprüngliche Liebe zu den eigenen Wurzeln muss dann nicht mehr über die Nachahmung eines fremden Schicksals sich vollziehen. Ich kann den Weg und das Schicksal derer, die waren, achten – und bin selber frei zu mir gemäßem Handeln.

Aber oft sind die Verbindungen von Krankheit/Symptom und Herkunftsfamilie nicht in dieser Form ein deutliches 1:1 Abbild.

Die eigene Herkunftsfamilie nehmen und annehmen – mit allem was dazu gehört und ohne Abstriche

Viele körperliche Leiden, psychische Beeinträchtigungen oder andere Beschränkungen im Lebensvollzug haben aber keine solche direkte und deutliche Verbindung zur Herkunftsfamilie, ihren Schicksalen und Dynamiken. Es kann z.B. sein, eine Frau macht eine Familienaufstellung, weil sie wenig Erfolg im Leben hat, weder beruflich noch privat, also z.B. in Partnerschaften. Auch hat sie widerkehrend mit depressiven Episoden zu kämpfen und ist ungewollt kinderlos. Aber genau dieses Muster findet sich so nicht in ihrer Herkunftsfamlie. Ihre Mutter war im Gegenteil beruflich sehr erfolgreich, nie depressiv und auch offensichtlich nicht kinderlos, sonst gäbe es die besagte Frau ja gar nicht.

In der Aufstellung zeigt sich das Bild: Die Tochter steht zu ihrer Mutter in großer Distanz, die Haltung drückt Trotz aus. Es ist, als wenn sie sagen würde: „Von dir nehme ich nichts!“ Und die Lösung kann in diesem Fall sein, dass die Tochter – langsam und voller anfänglicher Widerstände – auf die Mutter zu geht, dann auf die Knie geht und in inniglicher Umarmung den Kopf an den Bauch der Mutter legt. Und dann kommt etwas ins Fließen von der Mutter zur Tochter, wir nennen es die ursprüngliche Liebe – und oft fließen dann auch Tränen. Und die Tochter richtet sich dann, nach einer Weile, wieder auf zur Mutter sagt: „Jetzt nehme ich mein Leben an, genau so, wie es von dir zu mir geflossen ist. Vollständig und ohne Abstriche“. Dann kommt die Tochter in ihre Kraft.

Hier haben wir keine direkte Verbindung auf der Symptomebene, die Symptome der Tochter waren nicht die Symptome der Mutter. Aber, so könnte man interpretieren, die Symptome der Tochter waren ein Ausdruck der Ablehnung der Mutter, was in der Seele immer auch heißt: Ich lehne mein Leben, zumindest teilweise, ab. Und dies wäre der seelische Nährboden für die Symptomatik.

In der einen oder anderen Form spielt dieses „das eigene Leben nicht voll nehmen und annehmen“ sehr oft eine Rolle in Familienaufstellungen. Die konkreten Anlässe, warum jemand eine Familienaufstellung machen möchte, sind demgegenüber sehr unspezifisch und höchst unterschiedlich. Der Einwand dem Leben gegenüber kann sich buchstäblich in allem Möglichen ausdrücken.

Wo Schicksal wirkt und Demut heilt

Es gibt aber noch dritte Form des Zusammenhangs von Krankheit und Aufstellungsarbeit. Ich denke dabei beispielhaft an eine Aufstellung, bei der eine ältere Frau zusammen mit ihrem Mann erschien, der an Demenz erkrankt war. Das – nicht ganz so direkt – vorgetragene Anliegen der Frau war, über eine Aufstellung die Demenzerkrankung ihres Mannes zu heilen. Der Aufstellungsleiter sagte dann: „Ich nehme diesen Auftrag nicht an.“ Sagte dann aber zur Frau: „Wenn du möchtest, können wir in einer Aufstellung uns einmal ansehen, wie die seelischen Bewegungen sind. Bei dir und bei deinem Mann“. Damit war die Frau einverstanden.

In der Aufstellung wurde über den Stellvertreter des Mannes deutlich, dass die Demenzerkrankung sein Weg war, sich langsam nach einem langen und sehr erfolgreichen Leben von diesem Leben zurück zu ziehen. Wir könnten auch sagen: Es war der Weg, den die Seele gewählt hatte, sich auf das Sterben vorzubereiten. Die Seele des Mannes war dabei ruhig und zufrieden. Wichtig in der seelische Bewegung der Frau war, dass – aus Gründen die hier nicht interessieren – sie ihm noch etwas schuldig war und das die Pflege ihres Mannes im Alter ein Weg sein kann, hier einen Ausgleich herzustellen.

In solchen Fällen darf man nicht eine Aufstellung durchführen mit dem Ziel, die Krankheit „weg zu machen“. Es würde nicht funktionieren – und es wäre auch eine Anmaßung.
Hier wirkt in der Erkrankung etwas, was größer ist und sich dem manipulativen Zugriff entzieht. Die hier gemäße innere Haltung seitens der Protagonisten einer Aufstellung aber auch seitens der Aufstellungsleitung hat Bert Hellinger einmal in einem Buchtitel in eine prägnante sprachliche Formulierung gebracht: Wo Schicksal wirkt und Demut heilt.

Heißt das, dass hier keine Heilung stattgefunden hat? Nicht in Bezug auf die Demenzerkrankung. Die war in der Seele des Betroffenen ein Schicksal, dem sie, die Seele, deutlich zugestimmt hat.
Aber in der seelischen Bewegung der Frau des Demenzerkrankten hatte sich deutlich sichtbar etwas ereignet während der Aufstellung. Sie kam in Frieden mit der Demenzerkrankung ihres Mannes.

Ist das eine Heilung? Ich meine: Ja.

Nun soll es werden

Nun soll es werden – Frieden auf Erden

Dieser Beitrag entsteht in der Zeit „zwischen den Jahren“, zwischen den Weihnachtsfeiertagen 2018 und dem neuen Jahr 2019. Die Weihnachtszeit enthält, neben vielem anderen, ein Versprechen. Das Versprechen einer besseren Welt. Und wie bei so vielen Versprechen droht die Enttäuschung des gebrochenen oder unerfüllten Versprechens.

In einem bekannten Weihnachtslied („Kommet ihr Hirten“) gibt es die Zeilen:
„Nun soll es werden
Frieden auf Erden
Den Menschen allen
ein Wohlgefallen“

Wenn wir dieses Versprechen mit dem Verstand kritisch prüfen, erscheint es naiv. Es drückt eine kindliche Sehnsucht aus nach einer Welt ohne Kriege, ohne schwere Krankheiten, ohne Hunger und ohne Leid.

Und wie sieht die Realität aus? In dieser Welt gibt es weiter Kriege, Krankheiten und schwere Schicksalsschläge. Weder machen diese „Kräfte“ – und sei es auch nur über Weihnachten – eine Pause noch sind sie endgültig und auf Dauer besiegt.

In diesem Sinne wäre also die religiös-christliche Weihnachtsbotschaft auch nur ein weiteres leeres Versprechen, dass jedes Jahr aufs Neue enttäuscht wird. Ähnlich den Versprechungen von Produktbotschaften in der Werbung: „Dieses Produkt wird dich glücklich machen“. Und als Konsumenten mit etwas Lebenserfahrung wissen wir, dass die Halbwertszeit der Erfüllung solcher Versprechungen meist recht kurz ist.

Die Rückschau – zum Frieden gelangen

Und doch gibt es diese Momente, wo wir in Frieden und Einverständnis gelangen mit allem, was ist. Manchmal gelingt dies in der Meditation. Manchmal in der Rückschau, wenn wir unser Leben mit ein wenig Distanz rückblickend betrachten. Dann erscheint ein Gefühl von Führung, ein verbunden sein mit einer größeren Kraft, die aber selber im Dunklen bleibt.

Und gerade in den „dunklen Stunden“ der Seele, wenn wir von dieser größeren Kraft, die sich nicht näher benennen lässt, in besonderer Weise betroffen sind, erwächst auch eine besondere persönliche Kraft. Wenn wir uns dem Schicksalshaften stellen und innerlich „Ja“ dazu sagen. Nur ist es schwer, dies im Moment der Betroffenheit zu erfahren. Es ist leichter in der Rückschau.

Mir scheint, dies ist der Weg, das Weihnachts-Versprechen „nun soll es werden Frieden auf Erden“ doch noch einzulösen. Wenn wir Frieden machen im Inneren mit dem Leben und seinen Bedingungen, so wie sind. Und sei es Krieg, schwere Krankheit oder Tod. Und wenn wir dann dort handeln, wo wir zu Handeln vermögen und wo wir zum Handeln aufgefordert sind und soweit es in unserer Kraft steht. Aber nicht, um die Welt zu retten. Das wäre eine anmaßende Haltung, also ob man auserwählt sei und das Glück der gesamten Welt sei in die eigenen Hände gegeben.

Die Rückschau auf die Eltern

Eine der häufigsten seelischen Bewegungen in Familienaufstellungen ist die Zuwendung, die Hin-Bewegung zu den eigenen Eltern. Wie auch immer diese Eltern gewesen sein mögen und wie auch immer die Umstände waren, so ist es doch eine fundamentale Tatsache: Ihnen verdanke ich mein Leben! Ohne sie wäre ich nicht! Und ein Teil der heilenden Wirkung dieser Hinbewegung zu den eigenen Eltern (und damit zum eigenen Leben) verdankt sich der Tatsache, dass vor dem Hintergrund dieses Größeren („Euch verdanke ich mein Leben“) die Einwände und die Kritik, die jeder von uns gegen seine Eltern hat, verblassen. Ja, kleinlich im Wortsinne erscheinen.

Aber eigentlich greift es immer noch zu kurz, wenn man nur auf die eigene Mutter oder den eigenen Vater schaut. Bert Hellinger drückt es so aus:

„Leben kommt von weit her über die Eltern, nicht von den Eltern. Das Leben ist unverfälscht, wie immer die Eltern sind. Gerade wenn wir auch dahinter schauen, können wir nehmen, was über die Eltern kommt. Das ist die eigentliche Haltung von Annahme und Zustimmung.“[1] (Hervorhebungen von mir).

Was bedeutet dieses „dahinter schauen“? Nun, man sieht in gewisser Weise nicht nur die eigene Mutter mit ihren Besonderheiten und Eigenheiten, sondern dahinter auch deren Mutter und die Mutter der Mutter und deren Mutter usw. Und dasselbe beim Vater. Dahinter steht der Vater des Vaters und dessen Vater usw. Und ebenso natürlich steht hinter der Mutter deren Vater und dessen Mutter und Vater, hinter dem Vater steht dessen Mutter und deren Mutter und Vater.
Dass muss man sich nicht konkret als Personen bildlich vorstellen. Es reicht, wenn alle, die dazu gehören und dazu beigetragen haben, dass ich lebe, sozusagen hinter den eigenen Eltern als Ahnung aufscheinen. Dann versteht man, was es bedeutet, das Leben kommt über die Eltern zu mir und nicht von den Eltern. Das ist eine andere Art der Zustimmung zum Leben und zu dem Platz, den es mir gibt mit allen Möglichkeiten und Einschränkungen. Das geht über die bloße Zustimmung zu den Eltern, so wie sie waren und sind, weit hinaus.

Und wenn diese Zustimmung zum Leben, wie es durch unsere Eltern zu uns kam und zu dem besonderen Platz, an den es uns gestellt hat, wirklich innerlich vollzogen wird – dann entsteht Frieden.

In diesem Sinne, so scheint mir, kann das Versprechen der Weihnacht, der geweihten Nacht („Nun soll es werden, Frieden auf Erden“) eingelöst werden.

[1] Bert Hellinger: Mit der Seele gehen. Gespräche mit Bert Hellinger. Herder Verlag 2008. S. 126

Die Toten und wir

Dieser Blogbeitrag erscheint am 25. November 2018. In den evangelischen Kirchen ist dies der Totensonntag, der in besonderer Weise dem Gedenken und der Erinnerung an die Verstorbenen dient. Außerdem ist dies der Novemberbeitrag im Blog und der November ist in besonderer Weise der „Totenmonat“. Auf der katholischen Seite haben wir am Beginn des Novembers die Feiertage Allerheiligen und Allerseelen, am Ende eben den schon erwähnten Totensonntag und am Wochenende davor den Volkstrauertag, ursprünglich zum Gedenken an die gefallenen Soldaten im ersten Weltkrieg.

Gedenkstein am Grundewald in Berlin-Zehlendorf

In diesem Blogbeitrag soll es also um die Toten gehen und darum, wie sich unser Verhältnis zu den Toten in der Aufstellungsarbeit zeigt.

Die Toten können in das Leben der Lebenden hineinwirken – im Guten wie im Schlimmen

Ziemlich am Beginn der Familienaufstellungen stand bereits die Erfahrung, dass es Menschen gibt, die insbesondere schwere Schicksale in ihrer Familiengeschichte in gewisser Weise „nachahmen“ oder „reinszenieren“. Wir sprechen dann von einer Verstrickung. Meist handelt es sich um Tote in dem Familiensystem und zwar besonders um Mitglieder des Systems, die keinen oder keinen guten Platz in diesem Familiensystem hatten. Die vergessen wurden, die verschwiegen wurden oder in Gedächtnis der Lebenden entweder an den Rand gedrängt oder sogar ganz verdrängt wurden. Und wenn wir mit diesen Vergessenen oder Ausgeschlossenen Familienmitgliedern identifiziert sind, dann wirken diese Toten wie eine Belastung. Sie schränken die volle Annahme und den vollen Vollzug des eigenen Lebens ein.
Manchmal zieht es dann einen Menschen selber noch zu Lebzeiten zu den Toten, manchmal führt es dazu, sich Teilen des Lebens zu versagen, den diese andere Person in meinem Familiensystem auch nicht hatten haben können, etwa Erfolg oder eine eigene Familie.

Auf der anderen Seite kann aber von den Toten im Familiensystem eine besondere Kraft wirken. Das ist immer dann der Fall, wenn die Toten geachtet und geehrt werden auch mit ihren schweren Schicksalen. Dann wirken die Toten sich stärkend und heilsam auf die Seele und den eigenen Lebensvollzug aus.

Die Toten wirken also in das Leben der Lebenden hinein – sowohl Guten wie im Schlimmen. Im Rahmen der Aufstellungsarbeit haben wir es meist zunächst einmal meist mit Letzterem zu tun. Wo der Mensch im Einklang mit den Schicksalen der Toten seiner Sippe lebt, gibt es keinen Anlass für eine Aufstellung. Aber auch in den Aufstellungen zeigt sich die zweite Seite der Wirkungen der Toten: Meist in der Lösung. Wenn wir dem Schicksal der Toten zustimmen, wie es war, dann erhalten wir von den Toten oft einen Segen für das eigene Leben. Ein typischer Satz, der dann in Aufstellung mitunter verwendet wird, lautet etwas: „Bitte schau freundlich auf mich, wenn ich jetzt in meinem Leben lebe, was dir verwehrt war“. Diese Segnung der Nachgeborenen wird in den Aufstellungen in aller Regel von den Toten gerne gegeben und hat oft eine fundamental erleichternde Wirkung auf die Nachgeborenen.

Die toten Täter

Besonders schwer tun wir uns aber mit dieser seelischen Bewegung, wenn die Toten in unserem Familiensystem auch Täter waren. Dazu ein Beispiel:

In einer Aufstellung ging es um das Anliegen einer Frau, die keine dauerhafte Partnerschaft eingehen konnte. In der Aufstellung entwickelte sich der Fokus auf ihre Großmutter. Diese hatte fünf Ehemänner – und alle wurden (vermutlich) von ihr vergiftet. Und doch war es in der Aufstellung evident, dass es entscheidend war, dass sie, die Frau mit dem Anliegen in der Aufstellung, den Segen von ihrer Großmutter erhielt. Der lösende Satz lautete sinngemäß: „Bitte, segne mich, wenn ich bei einem Mann bleibe. Auch wenn du das nicht getan hast.“

Wie gesagt: In der Aufstellung war es unmittelbar evident, dass hier die Lösung lag: Im Segen der Großmutter, die – wahrscheinlich – eine fünffache Mörderin war.

Das fordert uns einiges ab und es ist sehr verständlich, dass beim Lesen oder erzählt Bekommen einer solchen Geschichte sich innerer Widerstand regt. Mit den Tätern, mit Mördern gar, sollen wir uns gemein machen? Und doch ist es – zumindest für mich, der ich diese Aufstellung miterlebte – ein eindrückliches Beispiel dafür, wie die Toten, auch die toten Täter und Täterinnen, heilend im Familiensystem der Nachgeborenen wirken können. Auch wenn dieses Wirken oberflächlich betrachtet jeglicher Logik entbehrt.

Aber kommen wir noch einmal auf den Ausgangspunkt zurück: Dem Andenken und auch der Ehrung der Toten. Ich hatte eingangs vom Totensonntag und dem davor liegendem Volkstrauertag geschrieben. Auch hier tun wir uns naturwüchsig nicht so leicht, auch diese Toten, die Soldaten der Weltkriege, die in aller Regel auch Täter waren und getötet haben, in unserer ehrendes Angedenken mit einzubeziehen.

Ich fand dazu auf der Webseite des MDR ein Zitat aus einer Rede des SPD-Politikers und damaligen Reichstagspräsidenten Paul Löbe[1] zum Volkstrauertag 1922:

„Leiden zu lindern, Wunden zu heilen, aber auch Toten zu ehren, Verlorene zu beklagen, bedeutet die Abkehr vom Hass, bedeutet die Hinkehr zur Liebe, und unsere Welt hat Liebe not.“

Quelle: https://www.mdr.de/religion/religion/volkstrauertag116.html

Über den Umgang mit den Toten

Wenn man im Rahmen von Aufstellungen Tote aufstellt – eigentlich werden sie nicht „aufgestellt“, sondern meist hingelegt, d.h., sie liegen auf dem Boden – ergibt sich oft die folgende Bewegung:

Zunächst bewegen sich Stellvertreter der Lebenden auf die Toten zu. Manchmal stehen sie dann vor den Toten. Manchmal knien Sie vor Ihnen und halten vielleicht eine Hand. Manchmal legen Sie sich auch eine Zeit lang zu Ihnen.

Und nach einiger Zeit erheben sich die Lebenden wieder, drehen den Toten den Rücken und lassen Sie hinter sich. Und die Gesichter der Lebenden, welche die Toten so hinter sich lassen, wirken geklärt. Und die Toten sind in ihrem Frieden.

Noch etwas anderes kann man in den Aufstellungen beobachten: Die Toten, insbesondere auch wenn Sie Täter waren, fühlen sich den anderen Toten und besonders innig ihren toten Opfern zugehörig und mit ihnen auf eine besondere Art verbunden. So entsteht Frieden im Bereich der Toten. Wenn wir sagten: Die Toten wirken auf das Leben der Lebenden hinein so können Sie auch auf diese Weise in das Leben der Lebenden hinein wirken: Sie stiften inneren Frieden.
Wenn die toten Täter bei ihren toten Opfern liegen und wenn von den Nachgeborenen beide gleichermaßen in den Blick und in das Herz genommen werden – mit ihren Taten, ihren Verstrickungen und ihren Schicksalen – und wenn beiden in dieser Weise gedacht wird, dann entsteht Frieden. Bei den Toten und bei den Lebenden.

Totengebet für Hitler

Ich las kürzlich etwas – die genaue Quelle habe ich leider nicht mehr präsent – über ein Seminar, dass ein chassidischer Rabbi gehalten hat. Und da hat er an einem Abend abschließend gemeint, das jüdische Volk würde erst dann seinen Frieden mit sich selbst und mit den arabischen Nachbarn finden, wenn auch der letzte Jude das Totengebet für Adolf Hitler gesprochen hat. Es wird geschildert, dass die Teilnehmer, überwiegend Juden, an diesem Abend das Seminar einigermaßen sprachlos verließen.
Am nächsten Morgen geschah etwas Besonderes: Ein Psychoanalytiker aus New York, dessen ganze Familie von den Nationalsozialisten ermordet wurde, betrat den Raum. Und es veränderte sich sofort die Atmosphäre. Sein Gesicht war gezeichnet von den inneren Kämpfen einer schlaflosen Nacht, aber alle spürten, dass er in dieser Nacht genau dies getan hatte: Das Totengebet für Adolf Hitler gesprochen. Und sein Gesicht soll, durch all die Erschöpfung hindurch, Frieden und Heil ausgestrahlt haben.

Da liegt eine Größe darin. Und wir betreten damit ein Gebiet jenseits von Gut und Böse.

Kann man eine solche Haltung verlangen? Sicherlich nicht. Kann man sie gewinnen? Ja, aber es ist nicht leicht.

Für uns Deutsche aber scheint mir, es wäre schon etwas gewonnen, wenn es uns gelingt, auf die Toten zu schauen, auf die Täter gleichermaßen wie die Opfer. Und sie zusammen im Reich der Toten liegen zu sehen. In Frieden. Es könnte sein, dass damit mehr bewirkt wird in der Seele als mit allem demonstrativem Aktionismus „gegen Rechts“. Und die tatsächlichen rechtsradikalen Erscheinungen könnten so zumindest gemildert werden.

Auch dies, so scheint mir, bedeutet „bedeutet die Abkehr vom Hass, bedeutet die Hinkehr zur Liebe, und unsere Welt hat Liebe not“ – um es mit Paul Löbe zu sagen.

 

[1] Das Paul-Löbe-Haus in Berlin, ein Funktionsgebäude mit Abgeordnetenbüros und Sitzungssälen des deutschen Bundestages, ist nach ihm benannt, der auch der Alterspräsident des ersten deutschen Bundestages 1949 war.

Die Hinbewegung der Kinder zu den Eltern

Mit der häufigsten Bewegung, die sich in Familienaufstellungen ereignet, ist die Bewegung der Kinder auf die Eltern zu. Oft geschieht diese Bewegung unter erkennbaren Widerständen oder zumindest mit gemischten Gefühlen. Aber wenn diese Bewegung, die Hinbewegung eines Kindes zu den Eltern, gelingt, dann ist dies oft der Wendepunkt in einer Aufstellung. Es ist der Punkt, an dem sich die Lösung ergibt und die ursprüngliche Liebe wieder in Fluss gerät. Mitunter entstehen hier sehr bewegende Momente.

Warum ist diese Bewegung so bedeutsam? Und warum nicht andersherum? Warum ist es nicht eine Bewegung der Eltern zu den Kindern? Die letzte Frage stellt sich oft. Gerade, wenn es gute Gründe gibt, warum die Bewegung des Kindes zu den Eltern schwer ist. Wenn es Missbrauch oder Vernachlässigung gegeben hat oder wenn Elternteile – was recht häufig ist – schwer erreichbar erscheinen oder eine emotionale Kälte ausstrahlen. Man könnte dann denken: Ist es nicht an den Eltern, eine Befriedung des Verhältnisses einzuleiten? Schließlich sind sie es doch, die scheinbar dem Kind gegenüber „in der Schuld“ stehen. In dem sie dem Kind nicht das gaben oder geben konnten, was jedes Kind braucht: Geborgenheit und bedingungslose Liebe. Müsste dann nicht der Impuls zu einer „Bereinigung“ des Verhältnisses dann von den Eltern ausgehen?

Und doch ist es so, dass in Aufstellungen deutlich spürbar ist: Der Weg zur Lösung geht nur anders herum. Das Kind muss zu den Eltern gehen. Oft sagen dies auch die Stellvertreter von Müttern oder Vätern so: „Ich möchte gerne zu ihr/ihm gehen. Aber es geht nicht.“ Und sie stehen dann in der Aufstellung an ihrem Platz als Eltern und das Kind steht etwas entfernt- und alles in der Körpersprache des Elternteils sagt: „Komm!“. Und das ist für die Kinder oft ein schwerer Weg.

Das Ursprüngliche in der Hinbewegung

Wenn ein Kind auf die Welt kommt, sucht es als allererstes die Mutter, die Mutterbrust. Dies ist ein Reflex – und eben die erste und vielleicht bedeutsamste Hinbewegung in der neuen Welt. Obwohl der Säugling sich noch nicht alleine bewegen kann und der Unterstützung in dieser Bewegung bedarf, trägt diese Suche nach der Mutterbrust doch schon alle Anzeichen eines aktiven Impulses. Und wenn das „Andocken“ gelingt, ist dies der erste Erfolg in diesem noch ganz jungen Leben. Man darf annehmen, dass in diesen Momenten wesentliche Grundlagen und Verknüpfungen im Nervensystem geprägt werden, die im späteren Leben das Thema „Erfolg“ wesentlich mit beeinflussen.

Wir haben also hier ganz am Beginn eine Suchbewegung und eine Hinbewegung. Und auch später ereignet sich diese Hinbewegung des Kindes zu einem Elternteil mannigfach. Man denke nur an die Szenen, wenn ein Kind, dass gerade laufen lernt, sich aufrichtet und unsicher, staksig aber voller Freude einige aufrechte Schritte auf Mutter oder Vater zu macht, um sich dann in die geöffneten Arme fallen zu lassen.

Die Störung der ursprünglichen Hinbewegung

Es gibt viele Anlässe, warum die ursprüngliche Hinbewegung gestört oder unterbrochen sein kann. Das kann ein früher Krankenhausaufenthalt sein, dass kann sich daraus ergeben, dass Eltern physisch oder psychisch „nicht verfügbar“ waren. Wie immer die Umstände im Einzelnen gewesen sein mögen, es bleibt, dass das Kind nicht zur Mutter oder dem Vater konnte, wonach es sich doch so sehr sehnte. Und dann schlägt diese unerfüllte Sehnsucht oft um in Wut, Trauer, Trotz oder Verzweiflung. Die Sehnsucht aber bleibt. Und das Kind zieht sich zurück von dem, wonach es sich sehnt.

Familienaufstellungen können dann ein Weg sein, wie die Folgen dieser unterbrochenen Hinbewegung überwunden werden können. Die ursprüngliche Hinbewegung wird wieder aufgenommen und an ihr Ziel gebracht, sozusagen in ihrer symbolischen Form. Das ist eine Form der „Nachreifung“ oder „Nachnährung“, die auch lange Zeit nach der ursprünglich unterbrochenen Hinbewegung möglich ist und als heilend erlebt wird.

Noch einmal: Wer muss zu wem?

Aber noch einmal zurück zur Ausgangsfrage: Warum muss das Kind zu den Eltern gehen und nicht umgekehrt? Wenn ein Kind ein Defizit erfährt in der Geborgenheit und der Annahme seitens der Eltern, müssten dann in einer Familienaufstellung nicht die Eltern auf das Kind zugehen? Und dann vielleicht Sätze sagen wie: „Es tut mir leid. Ich habe dich nicht wirklich gesehen.“? Oft werden solche Sätze tatsächlich gesagt von Stellvertretern für Eltern in einer Aufstellung. Aber erst, wenn das Kind auf die Eltern zugegangen ist und bei Ihnen angekommen ist.

Man könnte meinen, die Eltern sind hier „in der Schuld“ wenn es Defizite gab. Und somit muss auch die Bewegung des nachträglichen Ausgleichs von Ihnen ausgehen. Was dabei übersehen wird: Das Kind verdankt seinen Eltern sein Leben! Wie auch immer die sonstigen Umstände im Aufwachsen gewesen sein mögen: Dies ist die größere „Schuld“. Zu den Eltern zu gehen, auch innerlich, und sie zu nehmen, so wie sie sind und waren, vorbehaltlos mit allem was dazu gehört – das ist gleichzeitig auch der Prozess, dass Leben vollständig zu nehmen, mit allem was dazugehört. Das Kind nimmt das Leben von den Eltern. Und dieses Nehmen setzt die Hinbewegung voraus. Ohne die Hinbewegung kann es kein wirkliches Nehmen geben.

Der Verstand mag oft meinen, das, was die Eltern gegeben haben und geben konnten, war nicht genug. Aber auch dieser Vorbehalt erscheint zweitrangig gegenüber der Tatsache, dass das Leben selber über die Eltern kommt. Hier steht das Kind fundamental „in der Schuld“ gegenüber den Eltern. Und das aktive Nehmen des Lebens – darum geht es bei der Hinbewegung zu den Eltern – kann man dem Kind nicht abnehmen. Auch wenn es schwer ist. Daher muss das Kind im inneren Vollzug zu den Eltern gehen – und nicht umgekehrt[1].

Es ist aber selten, dass das eigene Leben gelingt, wenn das Leben nicht vollständig von den Eltern genommen werden kann. Wie gesagt: Mit allem, was dazu gehört, im Guten und im weniger Guten.

 

[1] Natürlich ist es auch so, dass das Kind sich auch wieder lösen muss von den Eltern. Wenn es etwa (innerlich) sagt: „Ich nehme jetzt das Leben von euch, so wie ich es bekommen habe. Und ich mache etwas Eigenes daraus“.

Über die Empörung und Entrüstung

Vieles in politischen oder gesellschaftlichen Debatten und in ihrer Darstellung in den Medien zielt darauf, dass das Publikum empört oder entrüstet reagiert. Ganz aktuell zum Beispiel anlässlich der Vorstellung der Studie zu sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirchen in den vergangen Jahrzehnten. Aber auch viele Beiträge in den sozialen Medien, etwa zu „#metoo“ oder zur Flüchtlingssituation, leben von dem aufmerksamkeitserheischenden Effekten einer solchen Empörungskultur. Manche, wie der Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, sprechen sogar von einer „Empörungsbewirtschaftung“[1] und der Begriff verweist noch stärker auf ein wirtschaftliches Kalkül dahinter.

In diesem Beitrag soll es darum gehen, was Empörung und Entrüstung bewirkt. Was sie nutzt und was sie verhindert.

Empörung der Guten gegen die Bösen

Zunächst einmal dient die Empörung einer moralischen Bewertung. Es empören sich die „Guten“ gegen die „Bösen“. Es ist eine Parteinahme der Unbeteiligten für die Opfer und gegen die Täter, so scheint es. Und der Impuls geht in Richtung Verurteilung und Ausgrenzung der Täter.

Die Frage stellt sich: Nützt diese Empörung den Opfern? Und auch: Trägt sie zum inneren und Äußeren Frieden bei? Kommt durch die Empörung etwas Hilfreiches in den Seelen den Beteiligten zustande? Wird dadurch etwas geheilt?
Diese Art der Fragestellung deutet schon eine gehörige Portion Skepsis an, ob Empörung – so verständlich und nachvollziehbar sie ist und als Durchgangsphase vielleicht sogar notwendig sein mag – wirklich dazu beiträgt, in der Seele in Einklang zu kommen. In Einklang mit dem Geschehen und seine Folgen.

Bert Hellinger und die Empörung über die Verweigerung der Empörung

In einem Seminar zur Supervision für Therapeutinnen und Therapeuten berichtet eine Therapeutin über eine ihrer Klientinnen. Die 37-jährige Frau ist jahrelang von ihrem Vater sexuell missbraucht worden. Mit Wissen und implizitem Einverständnis der Mutter, die nichts dagegen unternommen hat. Nach dieser Falldarlegung sagt Bert Hellinger, sie, die Therapeutin, könne der Klientin da gar nicht helfen. Und an die Therapeutin gewandt:
“Weißt du auch, warum?“
Therapeutin: „Nein“.
Hellinger: „Weil du entrüstet bist. Spürst du das?“
Teilnehmerin: „Ja.“

Und in einem ähnlich gelagerten Fall sagt Hellinger nach der Fallschilderung zur Gruppe:
“Wer hat einen Platz in meinem Herzen? Und wer hat keinen Platz in ihrem Herzen?“
Therapeutin (seufzt tief): „Wahrscheinlich der Vater“
Hellinger: „Helfen kannst du nur, wenn er einen Platz bekommt in deinem Herzen. Und wer ist ausgeklammert? Wer wird nicht erwähnt?“
Therapeutin: „Die Mutter.“
Hellinger: „Genau.“

Solche Interventionen in Aufstellungen bzw. noch vor der eigentlichen Aufstellungen haben Bert Hellinger viel Kritik eingetragen. Es könnte so wirken, als ginge es um Entlastung und Entschuldigung der Täter. Insbesondere manche Frauen waren empört: Wie kann man so etwas sagen? Und noch dazu als Mann!

Hier gab es also noch eine Empörung. Diesmal als Empörung über die mangelnde Empörung bezüglich der Täter. Aber die Frage bleibt: Ist mit der Verdammung der Täter ein Frieden in der Seele der Opfer erreichbar? Die Erfahrungen mit Aufstellungen bei solchen Themen legen nahe, dass es nicht so ist.

Natürlich bleibt ein Täter ein Täter. Und er hat die Folgen seines Tuns, auch die Schuld, zu tragen. Und die Opfer müssen angeschaut werden, gerade auch von den Tätern. Und natürlich müssen Opfer, insbesondere Kinder und Jugendliche, auch vor den Tätern geschützt werden. Aber, wenn eine Lösung in der Seele der Opfer erreicht werden sollen, nützen die Instrumente der moralischen Verdammung alleine herzlich wenig. Man ist dann zwar auf der moralisch „richtigen“ Seite – aber nicht im Einklang mit dem tatsächlichen Geschehen und den seelischen Wirkungen.

Die Leistung von Therapeuten und Aufstellungsleitern

Im Nachhinein, nach geschehener Tat (sei es nun Missbrauch oder auch Mord oder andere Tötungsdelikte in einer Familie) erweist sich die Empörung und die Ausgrenzung der Täter als nicht wirklich nützlich für die Heilung der seelischen Wunden, die durch die Tat entstanden sind und fortwirken.

Therapeuten und Aufstellungsleitern wird hier etwas anderes abverlangt. Nämlich: Auf das System insgesamt zu schauen, mit Allen und Allem, was dazu gehört. Und die Täter, ihre Taten und ihre Schuld, auch ihre Verstrickungen, gehören eben dazu. Und dem muss man – zunächst einmal – innerlich zustimmen. Zustimmen in dem, wie es war. Nicht als Zustimmung zur Tat, sondern als Zustimmung zu den seelischen Kräften, die in der Tat und den Folgen wirken.
Und dieses auch den Tätern „einen Platz im eigenen Herzen“ zu geben, wie Hellinger es formuliert hat, gehört oft zu dem Schwersten, was hier von Therapeuten oder Aufstellungsleitern zu leisten ist.

Die bloße moralische Empörung erweist sich hier als zu klein und wird der Wucht des Geschehens nicht gerecht.

Eine Anregung zur Selbsterfahrung

Wenn du, liebe Leserin und lieber Leser, dir ein Geschehen vergegenwärtigst, welches dich in die Empörung führt oder führen könnte: Überprüfe einmal, die beiden nachfolgenden inneren Bewegungen:

1. Du schaust auf die Täter mit dem Blick der moralischen Verurteilung, vielleicht auch mit der Überlegung, welche Strafe hier angemessen wäre

2. Du schaust mit weichem Blick auf das gesamte Geschehen, die Taten der Täter mit ihrer Schuld und Verstrickung, das Schicksal der Opfer mit seinem ganzen Gewicht – und die größere Seele, die durch alle Beteiligten hindurch wirkt

In der ersten inneren Bewegung:
Wie schaust du auf die Täter? Wie schaust du auf die Opfer? Welche Würde haben Täter und Opfer in deinem Blick? Was empfindest du, den Opfern gegenüber? Bewegt dich ihr Schicksal? Ergreift dich da etwas?

In der zweiten inneren Bewegung:
Wie schaust du auf die Täter? Wie schaust du auf die Opfer? Welche Würde haben Täter und Opfer in deinem Blick? Was empfindest du, den Opfern gegenüber? Bewegt dich ihr Schicksal? Ergreift dich da etwas?

 

[1] https://www.heise.de/tp/features/Luegenpresse-Wieso-Luegenpresse-3278810.html?seite=all

Der Kniefall in Warschau – oder: Vom Umgang mit kollektiver Schuld

Am 7. Dezember 1970 kommt es in Warschau zu einem historischen Vorfall. Einem Vorfall, der ein ikonisches Bild erzeugt.

(Bildquelle: Wikipedia – https://de.wikipedia.org/wiki/Kniefall_von_Warschau#/media/File:Willy_Brandt_Square_02.jpg  – Urheber: Szczebrzeszynski – Lizenz: Gemeinfrei)

Was ist passiert?

Im Rahmen des Staatsbesuches des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland in Polen sieht das Protokoll eine Kranzniederlegung am Ehrenmal für die Toten des jüdischen Ghettos in Warschau vor. Eine solche Kranzniederlegung folgt einer bestimmten Choreographie. Obwohl der Staatsbesuch selber alles andere als „gewöhnlich“ war in der historischen Situation des Jahres 1970, ist eine Kranzniederlegung trotzdem etwas, das einer bestimmten Routine folgt. Und so war es auch hier.
Schweigend und gemessenen Schrittes treten der Bundeskanzler und seine Begleiter auf das Mahnmahl zu. Der Kranz wir von zwei Männern aus dem Begleittross zum Mahnmal getragen und dort niedergelegt. Der Bundeskanzler tritt auf das Mahnmal zu, er beugt sich zum Kranz und richtet die Schlaufen mit den Farben der Bundesrepublik Deutschland noch einmal aus. Dann tritt er einige Schritte zurück. Er faltet die Hände, er senkt den Kopf. „In stillem Gedenken“, möchte man sagen.

Und dann geschieht das Unerwartete, das Ungeplante. Statt, wie üblich, stehend zu verharren, sinkt der Bundeskanzler auf die Knie und verbleibt so für etwa eine halbe Minute. Dann steht er auf, dreht sich um – und ist sichtlich ergriffen. Schweigend geht er auf den Begleittross, den Außenminister, seine Berater, die Pressevertreter zu, die ebenso ergriffen und schweigend dastehen. Der damalige Außenminister Walter Scheel, beschreibt die Wirkung auf die Umstehenden später so: „In dem Moment, als wir ausstiegen und vor das Mahnmal traten, war die Stimmungslage sehr überwältigend. Plötzlich sank Willy Brandt auf die Knie und jeder Mensch, der anwesend war, hätte es ihm gleichtun wollen …“ (zitiert nach Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Kniefall_von_Warschau  Hervorhebung von mir)

Noch einmal: Was ist hier passiert?

Der enge Vertraute von Willy Brandt, Egon Bahr, schildert es in einem späteren Interview so:

Er selber hat die Szene gar nicht mitbekommen, er stand hinter einer Gruupe von Journalisten und hat das Bild erst später in Zeitungen gesehen. Aber er spürt: Etwas ist passiert! „Plötzlich wurde es ganz still“ sagt Bahr. Er fragt: „Was ist denn los?“ und jemand dreht sich um und sagt: „Er kniet“.
Am selben Abend kommt es zu einem Gespräch zwischen Brand und Bahr. Bahr ist „befangen“. Er braucht einen Whiskey, um sich Mut anzutrinken, ehe er den Vorfall ansprechen kann. Brandt sagt ihm: „Ich hatte plötzlich das Gefühl: Kranz niederlegen reicht nicht“.

Das ist passiert:

Brandt wird erfasst von einer inneren Regung. Die kommt plötzlich, unerwartet über ihn. Und in der Regung ist eine Botschaft. Die Routine des Protokolls ist nicht genug. Sie ist dem Geschehen nicht angemessen. Und er überlässt sich dieser inneren Bewegung, die in einem Kniefall ihren Ausdruck findet.

Passiert ist eine Bewegung der Seele. Er, Brandt, wird von etwas erfasst. Und er vertraut sich dieser Bewegung an, nicht wissend, wohin sie führen wird. Und diese Bewegung der Seele erfasst auch alle Umstehenden sowie letztlich, über massenmediale Vermittlung, große Teile der Öffentlichkeit in vielen Ländern.

Knapp 20 Jahre später sagt er in einem Interview: „Ich konnte dann letztlich nichts anderes tun, als ein Zeichen zu setzen: ‚Ich bitte … für mein Volk um Verzeihung. Bete auch darum, dass man uns verzeihen möge.’ “

https://www.youtube.com/watch?v=hguYEbpwVZU

Diese Bewegung der Seele erfasst jemanden, der nicht Täter war. Auch nicht Mit-Täter oder Mitläufer. Den keine persönliche Schuld trifft. Der aber über sein Amt und in Vertretung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Bürger in einer Tradition, in einer historischen Linie, in einer Nachfolge steht. Und diese Linie beinhaltet Schuld von Deutschen unter anderem gegenüber Juden und Polen. Dies ist eine Schuld, die ein Kollektiv betrifft, unabhängig von persönlicher Schuld oder Verstrickung des Einzelnen. Und dieser Schuld setzt sich Willy Brandt in diesem Moment ganz aus. Mit aller Wucht der Schicksale von Gewalt und gewaltsamen Tod, die das beinhaltet. Diese Wucht lässt ihn in die Knie gehen und damit ehrt er die von diesen Schicksalen Betroffenen mehr, als eine protokollarisch routinierte Kranzniederlegung es getan hätte.

Neben vielem anderen ist das eine demütige Haltung. Sie erkennt – und anerkennt – das Größere, das in diesen Schicksalen liegt. Und er tut dies schweigend. „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“ (Willy Brandt, zitiert nach Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Kniefall_von_Warschau  Hervorhebung von mir)

In diesen seelischen Bewegungen versagt die Sprache in der Tat in aller Regel. Wir betreten hier außersprachliches Gebiet. Mit der Sprache versagt aber hier auch alle Anklage (oder Selbstanklage) und alles Aufrechnen von Schuld auf den verschiedenen Seiten. Dies alles ist der wahren Größe und Wucht des Geschehens nicht angemessen. Sprache wäre hier nur ein Versuch, das Größere wieder „in den Griff bekommen“ zu wollen. Es lässt sich aber so nicht kontrollieren.

Der Friede der Toten – und der Friede in unseren Seelen

In Familienaufstellungen erleben wir diese seelische Bewegung auch häufig. Insbesondere, wenn es um gewaltsame Tode geht. Die Toten kommen dann zur Ruhe in den Seelen der Überlebenden und der Nachgeborenen, wenn sie gesehen werden. Und gesehen werden heißt hier: Wenn sie angemessen betrauert werden. Wenn ihr Schicksal geachtet wird.

Dann kommen die Toten zur Ruhe, dann entsteht Frieden. Aber nur, wenn die Überlebenden und die Nachgeborenen so, mit dieser inneren Haltung, auf die Toten schauen, sie betrauern und ihr Schicksal würdigen. Das bedeutet aber auch: Die Überlebenden und Nachgeborenen müssen sich „anfassen“ lassen, erfassen lassen durch das, was durch den Tod hindurch in der Seele wirkt.

Und noch etwas anderes zeigt sich immer wieder bei Familienaufstellungen: Es dient auch der Ruhe der Toten und dem Frieden, wenn die toten Täter sich zu den toten Opfern legen. Und wenn die Überlebenden und die Nachgeborenen auf die Toten schauen: Sowohl auf die toten Opfer wie auch die toten Täter.
Das ist schwer zu verstehen. Aber so zeigt es sich in den Aufstellungen immer wieder. Es ist so, als ob die Gemeinsamkeit des Todes hier etwas ausgleichen, etwas versöhnen würde. (Und wenn wir über die Ruhe und den Frieden der Toten reden, meinen wir natürlich auch immer die Ruhe und den Frieden der Toten in unserer Seele.)

Gestört wird diese seelische Bewegung, welche dem Frieden dient, durch Anklagen oder durch Einforderung einer persönlichen Schuld, wo es um die kollektive Schuld geht.

Heißt das etwa, dass persönliche Schuld keine Rolle spielt? Oder das man auf die Strafverfolgung bei persönlicher Schuld verzichten sollte?
Das heißt es nicht. Die Strafverfolgung und auch die juristische Verurteilung von konkreter individueller Schuld sind notwendig und dienen auch dem Frieden und dem Ausgleich[1].

Es dient aber nicht dem Frieden und der Versöhnung, wenn diese beiden Ebenen verwechselt werden. Wenn also ein Nachgeborener eines Opfers von einem Nachgeborenen eines Täters etwas einfordert, als handele es sich um eine persönliche Schuld des einen Nachgeborenen gegenüber dem anderen Nachgeborenen.

Diese Forderung, der Nachgeborene möge eine persönliche Schuld bekennen und anerkennen und büßen, dient nicht dem Frieden – und sie dient auch nicht den Toten. Der so fordernde Nachgeborene, der das Schicksal der Vorfahren rächen möchte an den Nachfahren der Täter, achtet das Schicksal der Opfer nicht. Er stellt sich über die eigenen Vorfahren. Es ist eine anmaßende Haltung, weil sie die Opfer nachträglich klein macht. Die Haltung sagt: „Ihr wahrt damals nicht fähig – aber ich bin es jetzt.“ Damit macht er sich zu groß und die Opfer zu klein. Aus dieser Haltung erwächst nichts Gutes.

Vor allem: Es macht eine seelische Bewegung, wie sie an jenem nebligen und nasskalten Dezembertag 1970 in Warschau stattgefunden hat, unmöglich. Ein abverlangtes persönliches Schuldanerkenntnis, ein Verlangen nach persönlicher Buße oder einer Büßergeste, wo es keine persönliche Schuld gibt, sondern ein „in der Tradition kollektiver Schuld Stehen“, macht die Seele stumm. Da ist ein erfasst werden von der Größe und der Wucht von Schicksalen nicht mehr möglich. Es geht in einem solchen Kontext schlicht nicht. Und so werden die Toten wieder nicht gewürdigt in ihrem Schicksal: Weder von den nachgeborenen „Anklägern“ noch von den nachgeborenen „Angeklagten“.

Die Geschichte der Menschheit ist voller kollektiver Schuld, die über die Nachgeborenen seelisch nachwirkt, sowohl auf der Opfer- wie auf der Täterseite. Europäer stehen einer historischen Linie der gewaltsamen Eroberung und Unterwerfung ganzer Kontinente. Weiße US-Amerikaner stehen in der Nachfolge der Verschleppung und Versklavung von Afrikanern. Heute lebende Türken stehen in der Nachfolge des Völkermords an Armeniern in den Jahren 1915/16. Um nur einige Beispiele zu nennen. Es geht aber nicht nur um Nationen oder Völker. So steht z.B. die katholische Kirche in diesem Sinne „im Erbe“ der Hexenverbrennung und Ketzerverfolgung. Und auch im Verhältnis von Männern und Frauen gibt es solche Momente.

Der Friede unter den Nachgeborenen, sowohl im Äußeren wie im Inneren der Seele, bedarf einer seelischen Bewegung, wie sie sich in Warschau am 7. Dezember 1970 gezeigt hat.
Eine tagespolitisch motivierte Agitation und Propaganda der Schuldzuweisung dient dem Frieden und dem Seelenfrieden in aller Regel nicht. Weder bei den Opfern noch bei den Nachgeborenen. Sie ist zu „billig“ – und wird dem Leiden und den Schicksalen nicht gerecht.

[1] Für die Täter ist das Erkennen und Anerkennen der eigenen persönlichen Schuld auch der Weg, wieder in ihre Würde zu kommen.

Über das größere spezifische Gewicht von Müttern

Jedes Kind, das auf die Welt kommt, wird in diese Welt gebracht durch einen Vater und eine Mutter. Aber es ist offensichtlich, dass die Anteile von Vater und Mutter an diesem „in die Welt bringen“ nicht gleich sind.

Während der Schwangerschaft wächst das Kind im Körper der Mutter heran. Das ist eine ganz einzigartige körperliche Symbiose. Und jeder noch so subtiler körperlicher Prozess wird vom heranwachsenden Embryo unmittelbar geteilt. Kind und Mutter sind in Vielem weitgehend ein Organismus. Und in dieser Phase werden Grundlagen des Nervensystems und der gesamten Erlebens- und Empfindungsfähigkeit ausgebildet, in dieser Einheit mit der Mutter.
Und auch nach der Geburt bleibt zunächst die Bindung des Neugeborenen an die Mutter eine andere, eine intensivere. Am augenfälligsten wird dies im Prozess des Stillens. Das Stillen ist mehr als nur reine Ernährung des Babys. Es ist auch Ernährung, aber darüber hinaus steht es auch für Bindung, Sicherheit und Geborgenheit. Auch hier „dockt“ der Körper noch einmal an den Körper der Mutter an, hört den vertrauten Herzschlag und erfährt Wärme und Zuwendung in einer sehr direkten und körperlichen Art.

Aber auch im späteren Entwicklungsprozess des Kindes steht in den meisten Fällen die Mutter stärker im Mittelpunkt für das Kind als der Vater.

Dies gibt den Müttern in einer Familie ein besonderes, ein stärkeres Gewicht. Dieses stärkere Gewicht entspringt der anderen Beziehung, die Mütter im Vergleich zu Vätern durch Schwangerschaft, Geburt und Stillen zu den Kindern haben. Und es führt in den meisten Fällen dazu, dass Mütter bezüglich des Innenlebens in der Familie eher „das Sagen“ haben als Väter. Die Mutter steht stärker im Zentrum der Familie und sie bestimmt stärker das Wesentliche im Familienleben. So wird es zumindest in den meisten Familien gelebt. Man könnte also von einem Matriarchat sprechen, dass wir bezüglich des Innenlebens der Familie vorfinden.

Und wenn Eltern sich trennen, sind wir (sozusagen instinktiv) geneigt, die Kinder stärker als der Mutter zugehörig zu empfinden und im Streitfall auch den Müttern zuzusprechen. Ein Empfinden, dass auch in der Praxis der Familengerichtsentscheidungen ihren Niederschlag findet.

Wie gesagt: Dies ist der Regelfall, der gilt, wenn nicht besondere Umstände dagegen sprechen.

Dies bedeutet nun nicht, dass Väter völlig unwichtig sind für die Entwicklung und das Gedeihen der Kinder[1]. Aber es bedeutet: Die Rolle der Väter ist – im Wortsinne – nicht so zentral, nicht so im Mittelpunkt wie die der Mütter. Der Vater steht sozusagen etwas mehr „am Rande“. Er ist etwas mehr ein Unterstützer der Mutter in ihrer Rolle und in ihrem Gewicht im Familiensystem.
Aus dieser beobachtbaren Tatsache rührt der Satz von Bert Hellinger her: „Das Männliche dient dem Weiblichen“.

Korrespondierend damit erleben wir häufig, dass speziell Mütter als Person zentrierter sind, als dies Männer bzw. Väter sind. Eine Frau, die Mutter ist, bedarf weniger der Rückversicherung als Frau. Der Mann bedarf – unabhängig von der Vaterschaft – dieser Rückversicherung seiner Identität als Mann stärker. Und er sucht sie meist in der Gemeinschaft mit anderen Männern.

Noch einmal: Die nicht so zentrale Position der Väter in der Familie bedeutet nicht, dass der Vater unwichtig wäre. Söhne benötigen den Vater als Rollenmodell dafür, was es bedeutet, ein Mann zu sein.
Das ist völlig unbeschadet davon, wie „erfolgreich“ – was immer das auch heißen mag – der Vater in seinem „Mann sein“ ist. Auch ein Vater, der in seinem „Mann sein“ scheitert, zeigt dem Sohn etwas auf einer seelischen Ebene über die besonderen Herausforderungen des „Mann seins“ – wenn er anwesend ist.

Auch Töchter benötigen den Vater, wenn auch anders. Sie benötigen den „väterlichen Blick“, den Blick des andersgeschlechtlichen Elternteils, sozusagen als Spiegel. In dem sie sich als Mädchen und als (spätere) Frau erkennen können – und der bei Abwesenheit der Väter in der Seele schmerzlich vermisst wird[2].

Studien zeigen, dass Kinder, die vaterlos aufwachsen z.B. ein höheres Risiko haben, Schulversager zu werden, eine stärkere Gefährdung zu Drogensucht, Delinquenz, psychischen Störungen oder auch Suizid aufweisen. Aber das sind natürlich nur statistische Tendenzen für ein Kollektiv, die im Einzelfall nicht zutreffen müssen.

All dies ändert aber nichts daran, dass die Mütter ein sozusagen „natürliches“ stärkeres Gewicht im Familiensystem haben, besonders den Kindern gegenüber. Das hat natürlich auch so seine Schattenseiten. Viele an sich unnötigen Einschränkungen und Beschränkungen, die sich Erwachsene in ihrem Lebensvollzug auferlegen, haben etwas mit „inneren Stimmen“ zu tun, die sagen: „Das darfst du nicht“ oder „das tut man nicht“ in den unterschiedlichsten Variationen. Und wenn man dann einmal fragt: Wer spricht da? Dann ist es fast immer die Mutter. Seltener der Vater.

Und mitunter ziehen Frauen aus diesem empfundenen Übergewicht auch den Schluss, dass der Vater eigentlich entbehrlich, ja sogar störend ist. Manchmal verachten sie die Väter. Oder sie verachten das Männliche generell. Und haben dann eine Tendenz, die Väter aus der Familie zu drängen, zu „entsorgen“. Und komplementär dazu: Ein Vater, der in der Familie nicht in seiner Rolle als Vater geachtet und gewürdigt wird, den zieht es oft innerlich und seelisch aus der Familie heraus.

Was wäre hier die Lösung?

Zunächst einmal, dass sich die Mütter ihres besonderen Gewichts in der Familie bewusst sind und es annehmen. Ohne dabei in die Verachtung gegenüber den Vätern zu gehen. Die Mutter spürt in diesem Fall ihre besondere Bedeutung insbesondere in Bezug auf die Kinder. Aber sie muss sich dann nicht „besser“ fühlen gegenüber dem Vater und Mann[3]. Es reicht, wenn sie beim Wissen um ihre besondere Bedeutung (durch Schwangerschaft und Geburt) bleibt und diese besondere Bedeutung ausfüllt. Der Mann hat diese besonderen und tiefgehenden Erfahrungen nicht. In diesem Sinn sind Mütter und Väter nicht nur nicht gleich, sondern auch nicht gleichgewichtig. Das muss anerkannt werden.

In Familienaufstellungen erlebt man häufig, dass der Satz von einer Mutter zum Vater der gemeinsamen Kinder gesagt: „Ich achte dich als Vater unserer Kinder“ oder noch stärker „Dir verdanke ich das Wichtigste in meinem Leben – unserer gemeinsamen Kinder“ eine enorm erleichternde auf das gesamte Familiensystem hat. Wenn er beim Sprechen wirklich innerlich vollzogen wird.
Dasselbe gilt natürlich auch für Väter, die den Müttern sagen: „In dir achte und ehre ich auch die Mutter unserer gemeinsamen Kinder“.

Für diese Wirkung dieser Sätze ist es völlig unerheblich, ob die Eltern zusammen leben oder bereits getrennt sind.

[1] Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich hat in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Buch darüber geschrieben mit dem Titel „Die vaterlose Gesellschaft“. Und das war vor dem Hintergrund der vielen Väter, die entweder nicht aus dem Krieg zurückkehrten oder – wenn sie zurückkehrten – seelisch nicht mehr anwesend waren.

[2] Es gibt Hinweise darauf, dass Mädchen, welche dieses väterlichen Blicks entbehren mussten aufgrund der Abwesenheit der Väter, sich mitunter später deutlich narzisstisch entwickeln. Sie sind obsessiv mit dem Spiegel und der Selbstbespiegelung beschäftigt. Sie suchen dort den väterlichen Blick – und können ihn dort nicht finden.
Und wenn sie später als erwachsene Frauen Beziehungen zu Männern eingehen, suchen sie auch hier den „väterlichen Blick“. Auch dies ist zum Scheitern verurteilt, diese Beziehungen sind zum Scheitern verurteilt – wiewohl sie lange anhalten können.

[3] Man könnte auch sagen: Wenn eine Frau sich „besser“ und überlegen fühlt dem Mann gegenüber, ist dies eine verzerrte Form des Wissens um diese besondere Bedeutung.

Stellvertretung in einer Aufstellung und Rollenspiel

In einer Familienaufstellung nutz man Stellvertreter, die für bestimmte Personen in einem Familiensystem stehen, um eine seelische Dynamik in diesem System aufscheinen zu lassen. Die Stellvertreter stehen dabei z.B. für die Mutter oder den Bruder oder den Großvater und dergleichen der Person, um die es geht, die also ein Anliegen an die Aufstellung hat. Auch die Person mit dem Anliegen wird in der Aufstellung zunächst durch eine andere Person vertreten. Durch die Aufstellung entsteht eine Resonanz mit dem „wissenden Feld“[1] und nach einer kurzen Zeit fangen die Stellvertreter an, gewissen Empfindungen, Impulse oder körperliche Eindrücke zu haben. Diese Empfindungen bringen etwas ans Licht, was als seelische Bewegung zu der Person gehören, für welche die Stellvertreterin oder der Stellvertreter steht. Aus Sicht der Stellvertreter sind dies erst einmal fremde Eindrücke. Sie gehören nicht zu mir selber, sondern ich stelle mich sozusagen als Kanal zur Verfügung, um etwas, was zu der Person, für die ich stehe gehört, auszudrücken.

Und doch ist dies im Kern kein „Rollenspiel“. Rollenspiele werden im psychosozialen oder psychotherapeutischen Bereich mitunter verwendet, um einen Perspektivenwechsel erfahrbar zu machen oder um typische Muster einer sozialen Situation herauszuarbeiten. Und beim Rollenspiel gehe ich dann richtig in die Rolle hinein und „agiere sie aus“ – mitunter durchaus „dramatisch“. Das ist ähnlich wie in der Schauspielerei, wo ein guter Schauspieler während der Performance wirklich buchstäblich zu seiner Rolle wird.

Die Stellvertretung in einer Familienaufstellung hat hier einen ganz anderen Charakter. Es geht hier überhaupt nicht um das „ausagieren“. Es geht nur darum, in sich hineinzuhorchen: Was meldet sich da? Spüre ich irgendetwas? Und wenn ja: Was? Und dies dann auszusprechen. Aber auch das Aussprechen erfolgt im Normalfall betont nüchtern. Es sind einfache Aussagesätze wie „ich merke eine Enge im Brustraum“ oder „mir werden die Knie weich“ oder „ich kann hier niemanden wirklich anschauen“. Reine Feststellungen, mehr erst einmal nicht. (Als dramatische Inszenierung wäre das ziemlich langweilig).
Es geht hier um die leisen Empfindungen und inneren Stimmen, die man am besten wahrnehmen kann, wenn man gesammelt und gefasst ist. Es geht genau nicht darum, etwas dramatisch auszuagieren, das würde den Prozess stören und die feinen und leisen Wahrnehmung, die aus dem „wissenden Feld“ kommen, übertönen.

Am besten und am einfachsten gelingt dies, wenn die Stellvertreter über die Personen, für welche sie stehen, wenig wissen. Außer den wesentlichen Fakten wie z.B. ich steh für die Großtante der Person mit dem Anliegen, die ihr Leben in der Psychiatrie verbracht hat. Oder: Ich steh für den Onkel, der im Krieg umgekommen ist. Je weniger ich als Stellvertreter über die Person weiß, für die ich stehe, also über ihren Charakter, ihr Temperament, ihre Motive und persönlichen Eigenheiten, desto besser.

Damit fehlen dann alle Informationen, die man bräuchte, um die Stellvertretung wirklich als Verkörperung einer Rolle anzulegen. Je weniger ich über vertretene Person als Persönlichkeit weiß, desto weniger Phantasien kann ich mir darüber machen, wie sie wohl gewesen sein muss und wie ich mich dementsprechend verhalten „sollte“. Und je mehr uns als Stellvertreter dieser Bezug fehlt, desto leichter kann die leise Stimme des wissenden Feldes überhaupt durchdringen.

Es geht also für die Stellvertreter darum, festzustellen „was ist“ – aber eben gerade nicht darum, es dramatisch auszuagieren.

Manchmal passiert es in einer Aufstellung, dass Stellvertreter in einen Disput oder eine Diskussion geraten. Da sagt dann vielleicht ein (stellvertretenes) Kind zu einer (stellvertretenen) Mutter den Satz: „Du hast mich nie gesehen – und das war schwer für mich“. Und wenn die Mutter darauf spontan reagiert und empört sagt: „Das finde ich jetzt aber ungerecht von dir, nach allem, was ich für dich getan habe, wie kannst du nur so etwas sagen …“, dann beginnt hier Rollenspiel. Die Stellvertreterin der Mutter ist in ihrer Rolle. Und in dieser ist sie gekränkt und spürt einen Vorwurf, gegen den sie sich verteidigen zu müssen glaubt. Und dann wäre man im Rollenspiel, aber nicht mehr in einer Aufstellung.
Als Leitung einer Aufstellung muss man so etwas, möglichst sanft, unterbinden. Und vom Rollenspiel wieder zur Stellvertretung zurückzuführen. Stellvertretung hieße in dem Beispiel, eben nicht auf den Satz zu erwidern. Sondern in erst einmal nur zu hören und zu spüren. In sich hinein zu horchen: Wie geht es mir jetzt, wenn ich in dieser Position als Mutter der Stellvertreterin meines Kindes gegenüberstehe und diesen Satz höre? Und dann kommt vielleicht etwas ganz anderes, etwa dass sie als Stellvertreterin – auch hier wieder relativ nüchtern – sagt: „In mir ist alles ganz kalt und wie tot.“

Nun wurde schon zweimal erwähnt, dass die ausgesprochenen Sätze möglichst einfache Tatsachenfeststellungen sein sollten, nüchtern und ohne Emphase. Es geht eben nicht darum, eine Rolle zu „kolorieren“ und möglichst bewegend zu gestalten. (Das wäre wieder Rollenspiel).
Heißt das nun, dass sich in einer Aufstellung nicht trotzdem Dramatisches und durchaus Ergreifendes abspielen kann? Natürlich nicht. Oft wird es durchaus „dramatisch“, auch wenn das nicht immer der Fall sein muss. Aber wenn es passiert, hat die Dramatik einen anderen Charakter. Die Stellvertreter werden von etwas ergriffen, dass sie nicht geplant, nicht als Rolle angelegt haben. Wenn ein Stellvertreter etwas anfängt, hemmungslos zu weinen oder buchstäblich zusammen zu brechen und dies wirklich als Stellvertretung und nicht als gespielte Rolle erfolgt, dann wird die Stellvertretung von etwas ergriffen, was größer ist. Und was einen sozusagen ungeplant und hinterrücks überfällt. Es handelt sich dann immer um Primärgefühle[2]. Und die können durchaus „wuchtig“ sein, aber sie sind immer im Dienste der Lösung.

Zusammenfassend gesagt: In der Stellvertretung geht es nicht darum, eine bestimmte Persönlichkeit möglichst lebendig werden zu lassen. Die Stellvertretung ist eher wir ein Messinstrument, ein Seismograph, welcher die tektonischen Bewegungen und Spannungen im inneren einer Seele anzeigt. Und das Messinstrument selber soll keine Emotionen auf sich ziehen, es soll anzeigen. Das Angezeigte dagegen kann durchaus heftige Emotionen beinhalten.

[1] Mehr dazu hier:

[2] Mehr dazu hier: Über Gefühle, ihre Qualitäten und ihre Rolle in der Aufstellungsarbeit

 

Familienaufstellungen und „Psycho-Techniken“

Es gibt seit einiger Zeit einen vielfältigen Markt an „Psycho-Techniken“ zur Überwindung von belastenden Gefühlen wie auch zur Veränderung von einschränkenden Gewohnheiten oder Überzeugungen (Glaubenssystemen). Diese Techniken und Methoden haben sich teilweise aus dem psychotherapeutischen Bereich und teilweise etwas abseits davon entwickelt. Angeboten werden diese Techniken als (psychologische) Beratung, Coaching oder allgemein Lebenshilfe. Die Grenzen zur Psychotherapie im engeren Sinne sind oft fließend.

Als Beispiel ließe sich hier das „Neurolinguistische Programmieren“ (NLP) nennen. Oder auch die sog. Klopfakkupressur („emotional freedom technique“ – EFT), verschiedenste Meditations- und Entspannungstechniken, „Erfolgstrainings“ und weitere Methoden und Techniken, die man im weitesten Sinn als „Mentaltechniken“ bezeichnen könnte. Allen gemeinsam ist, dass sie auf das Erreichen einer vom Klienten erwünschten positiven psychologischen Zustandsveränderung zielen. Es geht um Zustandsveränderung im individuellen Bereich.

Viele dieser Methoden zeichnen sich dadurch aus, dass sie solche Zustandsveränderungen hochwirksam in relativ kurzer Zeit versprechen und – wenn sachgerecht angewandt – oft auch erreichen. Situationsspezifische Ängste werden abgebaut, Motivation und Fokussierung gestärkt, dass Stresslevel gesenkt, einschränkende Glaubenssätze und Überzeugungen werden überwunden, und durch hilfreichere Annahmen über mich und die Welt ersetzt. Das Leben wird erfolgreicher und weniger durch innere und äußere Konflikte geprägt.

Mitunter werde ich gefragt, wie sich im Vergleich zu solchen Methoden Familienaufstellungen verstehen lassen. Oder: Wie sind die Unterschiede in dem, worauf abgezielt wird, zu sehen?

Unterschiede zwischen dem Familienstellen und psychologischen Techniken zur Zustandsveränderung

Es gibt hier verschiedene Aspekte, anhand derer man die Unterschiede akzentuieren kann.

Ein Aspekt ist, dass Mental- und Psycho-Techniken im Kern auf die Ebene des individuellen Erlebens und Verhaltens zielen, es geht also um die einzelne Person, das Individuum. Bei Familienaufstellungen werden dagegen soziale Systeme, die Herkunftsfamilie oder auch die Gegenwartsfamilie, in den Blick genommen. Metaphorisch gesprochen: Der Blick geht z.B. nicht so sehr auf die einzelnen Pflanze, sondern auf die Beschaffenheit des Bodens und der Standortverhältnisse (Licht, Bewässerung usw.), des Lebensraumes und der ökologischen Nische im Zusammenspiel mit anderen Lebewesen, auf deren Grundlage sie wächst, genährt wird und sich entfaltet – oder eben auch verkümmert und welkt.

Ein anderer Aspekt ist, dass Mental- und Psycho-Techniken einen gewissen „handwerklichen“ Aspekt haben. Sie werden seitens des Anwenders gelernt, gekonnt und beherrscht. Und in dem Ausmaß, in dem sie vom Anwender beherrscht werden, erlauben sie auch ein gewisses Ausmaß an Vorhersehbarkeit der erreichbaren Resultate. Beim Familienstellen vertraut sich dagegen die Aufstellungsleiterin / der Aufstellungsleiter zusammen mit den Stellvertretern ganz dem „wissenden Feld“ an. Und es ist nicht vorhersehbar, was sich im Einzelnen dabei zeigt und in welche Richtung die Lösung zeigen wird. (Mehr zum "wissenden Feld" hier und hier und hier.)

Der wesentliche Unterschied ist aber: Wenn eine Störung oder eine erlebten Einschränkung im Lebensvollzug einen systemischen Hintergrund hat, etwa bei systemischen Verstrickungen aus der Herkunftsfamilie, bei unbewussten Identifikationen mit jemandem aus dem Herkunftssystem, dann werden auch die ansonsten hochwirksamen Psychotechniken, die auf das rein Individuelle zielen, scheitern. Das Scheitern kann verschiedene Formen annahmen.

  • Es kann sein, dass etwas erst einmal wirkt – aber nur kurze Zeit. Danach stellt sich der alte Zustand mehr oder weniger unverändert wieder ein.
  • Es kann sein, dass sich eine Symptomverschiebung einstellt, etwa eine Suchtstruktur die sich von einer Alkoholabhängigkeit zu einer Internetsucht wandelt.
  • Es kann sich ein Ebenenwechsel derselben Thematik einstellen etwa von der körperlichen zur seelischen Ebene oder umgekehrt (eine Neigung zu übertriebener Gereiztheit im Kommunikationsverhalten wird erfolgreich überwunden und in der Folge stellt sich eine Allergie ein) oder von der Ebene des Äußeren zur Ebene des Inneren oder umgekehrt (eine Neigung zu autoaggressiver Selbstsabotage wird überwunden und es stellt sich eine Neigung zu aggressiven Handlung oder aggressivem Kommunikationsstil im Äußeren ein). In diesen Fällen wäre das zugrundeliegende Thema nicht gelöst oder „erlöst“, sondern nur in einen anderen Kontext und eine andere Ausdrucksform verlagert.

Wenn also ein systemischer Hintergrund bei Beschwerden oder Einschränkungen besteht – und dies ist vermutlich häufiger der Fall, als es das nicht ist – erweisen sich auch an sich hochwirksame und schnelle Interventionen auf der psychoregulativen Ebene als beschränkt.

Als bildliche Metapher: Es ist dann manchmal so, wie wenn man bei einem Auto sichtbare Roststellen einfach mit Lackspray übersprüht werden. Man sieht es dann nicht so, es fällt erst einmal nicht mehr auf – aber darunter arbeitet der Rost weiter und irgendwann platzt der Lack auf und die unschönen „Rostausblühungen“ werden umso sichtbarer.

Die Relativierung der Unterschiede

Allerdings ist die Trennung der Methoden – die sich als Arbeit an der Oberflächenstruktur vs. Arbeit an der Tiefenstruktur beschreiben ließe – in der Praxis nicht so deutlich gegeben. Es gibt hier vielfältige Übergänge und Verschleifungen, welche die beschriebenen Gegensätze aufweichen. So gibt es z.B. im Bereich des NLP eine Standardformat, das sog. „Reimprinting“, dass von Anfang an die Tradierung und Prägung von psychischen Themen in der Kindheit im Familiensystem und auch die Heilung im System in den Blick nimmt. In dem zentral nicht gefragt wird „welche Ressourcen hättest du gebraucht in dieser Situation“ sondern: „Welche Ressourcen hätten deine Eltern gebraucht in dieser Situation, um liebevoller und unterstützender sein zu können?“

Oder im Bereich des EFT (der Klopfakkupressur) wird zunehmen bei einem unerwünschten Gefühl nicht nur gefragt, welches Gefühlt dies genau ist, sondern auch: „Wer in deinem Familiensystem hatte das auch?“ Und dann wird stellvertretend für diese Person, unabhängig davon, ob noch lebend oder schon verstorben, „mitgeklopft“.

In dieser Form werden also auch in den psychoregulativ akzentuieren Mentaltechniken die systemischen Untergründe mit adressiert und damit einerseits der Wirkungsbereich ausgeweitet und die Unterschiede zwischen rein auf das Individuum zentrierten Ansätzen und systemischen Ansätzen stark relativiert. Auf diese Weise stehen sich verschiedene Interventionsansätze weniger konkurrierend gegenüber, sondern befruchten sich gegenseitig und ergänzen sich komplementär.

In der Orientierung der Berater, Coaches und Therapeuten bleibt es aber ein wichtiger Unterschied, auf welcher Ebene ich eine Symptomatik begreife und meine Interventionen setzte.

Etwas Ähnliches ergibt sich auch, wenn man etwa an die Grundorientierungen von schamanischen Heilungsansätzen denkt. Wenn ein Klient z.B. unter mangelndem Erfolg und eingeschränktem Lebensvollzug leidet, könnte man in der Nachfolge von schamanischen Heiltraditionen geneigt sein, an einen Verlust von Seelenanteilen zu denken. Und sich nachfolgend mit entsprechenden schamanischen Techniken auf die Suche nach diesen verlorenen Seelenanteilen mit dem Ziel ihrer Rückholung machen.
Und man würde erwarten, dass erst nach einer solchen Rückholung von Seelenanteilen und deren Reintegration dann Techniken und Interventionen wirken können, wie sie von „Erfolgstrainern“ oder „Erfolgscoaches“ angewandt werden. Nach dem Motto: „Nur was wirklich HIER ist, kann geheilt werden.“ (Vielleicht werden die letzteren Methoden dann aber auch gar nicht mehr gebraucht).

Um im den Bild vom Rost am Auto zu bleiben: Manchmal muss man schon eine gewisse Abarbeitungsreihenfolge einhalten, um nachhaltig etwas zu bewirken. Man benötigt erst eine sachgerechte Grundierung, bevor die Arbeit des Lackierens beginnt.

Die ursprüngliche Liebe … und etwas Rap-Musik

Ich habe mit Rap-Musik nie viel anfangen können. Und schon gar nicht wäre ich auf die Assoziation im Titel gekommen. Vielmehr erschien mir die Grundtonart des Rap eine des Ärgers zu sein. Ein Ausdruck eines unterschwelligen Grummelns, welches von der Unterschwelligkeit in die Oberschwelligkeit gehoben wird.

Und doch hat mich ein Stück Rap-Musik kürzlich bewegt. Dieses hier:

Es geht um einen abwesenden Vater – und was es mit dem Kind, in diesem Fall dem Sohn, macht. Und natürlich thematisiert es die abwesenden Väter allgemein, nicht nur den Einzelfall.

Besonders eine kurze Passage (im Video ab 2:25 Minuten) hat mich im Wortsinne aufhorchen lassen:

„Der Fluch eines Kindes ist:
es liebt seine Eltern
egal, ob sie arm sind
egal, ob sie Geld haben“

Das Kind liebt seine Eltern – egal wie die Umstände im Einzelnen auch immer sein mögen. Und die Sache mit dem Geld, die in hier im Songtext angeführt wird, ist dabei noch ein ziemlich oberflächlicher Aspekt von „Umständen“. Die Betonung der Aussage liegt auf dem „egal, ob xxx“ – und für xxx kann hier Beliebiges an Umständen eingesetzt werden. Die Liebe des Kindes zu den Eltern und damit zu allem, was zu Ihnen gehört, das ist die ursprüngliche Liebe.

Aber mir scheint, wie können einen solchen Satz nur dann verstehen, wenn wir uns bei dem Wort Liebe ein wenig von dem gedanklichen Konzept der romantischen Liebe lösen. Die ursprüngliche und grundlegende Liebe, um die es hier geht, hat eine ganz andere existenzielle Wucht. Und vielleicht – ich bin mir da wirklich nicht sicher – hilft es, wenn wir statt Liebe von Bindung sprechen. Also: Die ursprüngliche Bindung. Und gleichzeitig die tiefste existenzielle Bindung. Das ist im Wortsinne gemeint: Ohne unsere Eltern wären wir nicht. Wir würden schlicht nicht existieren. DAS verdanken wir Ihnen, wie auch immer alle anderen Umstände gewesen mögen.

Und vor diesem Hintergrund erscheinen manche Einwände, die wir gegen unsere Eltern haben mögen in dem Sinne, sie hätten doch besser anders sein und sich anders verhalten sollen, klein. Und manchmal auch kleinlich.

Eine der Grundbewegungen im Familienstellen setzt genau hier an: Diese ursprüngliche Liebe zu den eigenen Eltern und allem, was sie an seelischem Gepäck und Verstrickungen aus ihren Herkunftsfamilien mitbringen, wieder Fluss zu bringen. Und wenn dies gelingt, ist es eine sehr beglückende Erfahrung.

Aber zurück zum Songtext: Da heißt es, es sei der Fluch eines Kindes, dass es seine Eltern liebt. Und gemeint ist ja in diesem Kontext des abwesenden Vaters: Es ist der Fluch, dass ich als Kind dazu verdammt bin, diesen abwesenden Vater zu lieben, in der Seele an ihn gebunden zu sein. Und diese Bindung an den Abwesenden erzeugt ein Loch im Innern. Ein Sehnen, dass nicht gestillt werden kann. Und das erscheint dann als besondere Bürde für dieses Kind, gerade im Vergleich mit anderen Kindern, die nicht diese innere „Leerstelle“ aufweisen.

Nun zeigt es sich in den Familienaufstellungen immer wieder, welche seelischen Auswirkungen abwesende Elternteile haben. Diese Abwesenheit kann unterschiedliche Formen annehmen. Manchmal sind Elternteile tatsächlich physisch nicht anwesend. Manchmal sind sie aber auch zwar körperlich anwesend, aber seelisch nicht verfügbar. Auch das ist eine Form von Abwesenheit, bei der dieser Elternteil für das Kind nicht erreichbar ist. Und speziell bei den abwesenden Vätern gibt es auch nicht nur die Väter, welche ihre Kinder verlassen. Es gibt auch Väter, die aus der Beziehung zu ihren Kindern ausgegrenzt werden, meist durch die Mutter.

Die Wirkungen sind nicht immer gleich. So macht es in der Seele des Kindes schon einen Unterschied, ob ein Elternteil gegangen und das Kind verlassen hat durch eigene Entscheidung. Oder ob die Abwesenheit ein Resultat von schicksalhaften Umständen wie Krieg, Unfall oder frühe schwere Krankheit und Tod ist. Das einzige gemeinsame ist die bereits erwähnte „Leerstelle“.

Und was ist die Lösung? In den meisten Fällen ist die Lösung, dass das Kind – und es kann dabei schon lange erwachsen sein, das spielt keine Rolle – zum abwesenden Elternteil sinngemäß sagt: „Und auch wenn du als Vater oder Mutter nicht wirklich zur Verfügung standest und dies schwer für mich war: Ich nehme dich jetzt ganz als meinen Vater (oder: als meine Mutter). Und ich mache etwas aus dem Geschenk, dass ich von dir bekommen habe: meinem Leben“.
Die konkrete Formulierung mag dabei variieren. Entscheidend ist der innere Vollzug des Sinns in den genannten zwei Sätzen.

Das ist einfach in der Beschreibung und oft gar nicht einfach im Vollzug. Und wenn man das so liest, könnte man meinen: Das ist eine harte Aufforderung an das Kind. Vielleicht sogar eine hartherzige Aufforderung an das Kind.

Aber die Frage steht: Was will oder was soll das Kind denn sonst machen? (Und wir reden hier meist von dem inneren Kind, das in einem Erwachsenen wohnt). Soll es sagen: „Du bist für mich nicht der richtige Vater (oder: die richtige Mutter)“? Welche Wirkungen hätte das?

Die Wirkung wäre, dass das Kind dazu verdammt wäre, in der Ablehnung von Vater oder Mutter sich zur Hälfte selbst abzulehnen. Weil das Kind in einem ganz fundamentalen Sinn Vater und Muter ist. Biologisch, weil in jeder Zelle von jedem von uns zu je 50% die Gene von Vater und Mutter wirken. Und psychologisch und seelisch, weil unser Leben ein Strom ist, der sich aus dem väterlichen und dem mütterlichen Zufluss speist. Den einen Zustrom abzuschneiden, weil wir ihn für „verschmutzt“ halten, geht in aller Regel nur um den Preis, das der Strom des Lebens geschmälert wird. Es geht auf Kosten der eigenen Lebendigkeit.

Diesen Zustrom an Lebendigkeit von beiden Seiten aufrechtzuerhalten, auch wenn auf einer Seite der Elternteil nicht oder nicht wirklich präsent und verfügbar war, ist gewiss nicht leicht. Daran kann man leicht scheitern. Aber wenn es gelingt, ist es eine besondere Leistung der Seele.

Aufstellungen ohne Lösungen – können Aufstellungen „scheitern“?

Wenn ein Mensch eine Aufstellung macht, erhofft (oder erwartet gar) dieser Mensch von der Aufstellung eine Lösung oder zumindest eine Erleichterung für ein drängendes Lebensproblem. Und tatsächlich ist es meist so: Wenn eine bislang verborgene seelische Dynamik über eine Aufstellung „ans Licht gebracht“ wurde, ergibt sich eine norme Erleichterung und eine Klarheit über die nächsten Schritte, die anstehen. Dies ist aber nicht so sehr Resultat etwa eines Ratschlages[1], der eine neue Erkenntnis brächte. Es ist vielmehr eine veränderte innere Haltung, eine buchstäblich andere Sichtweise auf die subjektive Welt und das bisherige Problem, welche dann die nächsten Schritte offensichtlich und im Einklang mit der Seele und damit leicht und einfach macht.

Manchmal aber kommt es in einer Aufstellung nicht zu einer solchen Lösung. Zumindest sieht es auf den ersten Blick so aus. Wenn wir über das „Scheitern[2]“ einer Aufstellung reden, müssen zwei Sachverhalten unterschieden werden:

1. Die Person, um die es geht, steht innerlich-seelisch sozusagen „im Bann“ etwa eines Ereignisses in der Herkunftsfamilie – nur, worum es sich bei dem Ereignis handelt, ist völlig unklar.

2. In der Aufstellung zeigt sich sehr deutlich ein Weg zur Auflösung einer belastenden seelischen Dynamik. Aber die Person, um die es geht, kann diesen Lösungsweg nicht beschreiten.

Als Beispiel für den ersten Fall mag ein Erlebnis dienen, dass ich in einer meiner allerersten Begegnungen mit Familienaufstellungen hatte. In dem Fall wurde – damals noch in der „klassischen Form der Familienaufstellungen als „Ordnungen der Liebe“ – die Herkunftsfamilie aufgestellt und die Stellvertreter starrten alle unmittelbar auf eine bestimmte leere Stelle im Raum und konnten ihren Blick kaum davon lösen. Es war offensichtlich, dass diese leere Stelle, das was hier fehlte, der Schlüssel war. Es gab aber keinerlei Information, um was es sich handeln könnte. Die Leiterin der Aufstellung brach damals an dieser Stelle ab mit den Worten: „Hier können wir nicht weiter machen. Es fehlen uns Informationen.“ Und an den Klienten gewannt: „Vielleicht forschst du noch einmal in deiner Familiengeschichte, welches Tabu oder welche ausgeschlossene Person hier fehlt. Dann könnten wir da weiter machen.“

Als Beispiel für den zweiten Fall nenne ich hier eine Aufstellung, bei der es um die Aussöhnung mit der eigenen Mutter ging. Die Frau, für welche die Aufstellung durchgeführt wurde, machte ihrer Mutter schwere Vorwürfe bezüglich ihrer Kindheit und beschrieb ihr Anliegen so, dass sie ihrer Mutter gerne verzeihen möchte, um innerlich mehr Frieden zu finden.
Im Rahmen der Aufstellung wurde durch die Stellvertreter einerseits deutlich, wie sehr die Mutter durch schicksalshafte Ereignisse in ihrer Herkunftsfamilie geprägt war. Und zum anderen wurde deutlich, dass der Weg zur Lösung für die Klientin darin bestand, als Kind auf ihre Mutter zuzugehen und sie als ihre Mutter vollständig anzunehmen – mit allem, so wie sie war. Wir sprechen hier von einer „unterbrochenen Hinbewegung“ des Kindes zur Mutter, die nachträglich geheilt werden kann, um das Leben ganz auch von der Mutter nehmen zu können. Die Stellvertreterin der Klientin hatte in der Aufstellung diesen Weg sozusagen „gebahnt“ und es war sehr deutlich, dass hier die Lösung lag. Aber die Klientin konnte, nachdem die Stellvertreterin aus der Rolle entlassen war und sie selber in der Aufstellung stand, diesen Weg nicht gehen. Sie ging den Weg einige Schritte, blieb dann aber ca. 2 Meter vor der Stellvertreterin der Mutter stehen. Und sagte: „Ich kann da nicht hingehen“. Und es war völlig eindeutig, das es an dieser Stelle nicht weitergeht.

Welche Wirkungen haben nun diese beiden Formen von „Scheitern“?

Zur ersten Form und dem ersten Beispiel – den fehlenden Informationen – wäre zunächst zu sagen, dass dies in der Weiterentwicklung der Familienaufstellungen von den „Ordnungen der Liebe“ zu den „Bewegungen der Seele“ kaum noch vorkommt. (Mehr zur  Unterscheidung dieser beiden Formen von Familienaufstellungen hier.)  Dies unter anderem deshalb, weil man bei den „Bewegungen der Seele“ die Einzelheiten, was genau vorgefallen ist oder um wen es genau geht, nicht immer wissen muss. Es ist auch möglich, in so einem Fall einen Stellvertreter für „das Unbekannte“ oder „das Geheimnis“ aufzustellen. Die Stellvertreter können meist sehr gut sagen, in welche Richtung das Thema geht. Ob es sich z.B. um ein abgetriebenes oder verheimlichtes Kind handelt, eine ausgegrenzte Person, die vielleicht Selbstmord begangen hat oder in der Psychiatrie gelandet ist oder was auch immer. Und es geht nur um das Grundthema – nicht um die Details. Und dann kann im Rahmen einer Aufstellung dieses Grundthema, z.B. eine ausgeschlossene Person im Familiensystem, in das eigene Herz aufgenommen werden – auch wenn man nicht weiß, um wen genau es sich handelt. Wir könnten auch sagen: Wir verlassen uns darauf, dass die Seele es schon wissen wird.
In beiden Fällen, ob nun in der klassischen Form der Aufstellungen oder mit eher abstrakten Rollen für Stellvertreter, ergibt sich oft recht kurz nach Aufstellung, dass den Klienten oder die Klientin genau die Information erreicht, die gefehlt hat. Da kommt dann ganz zufällig beim Kaffeetrinken anlässlich Tante Herthas Geburtstag das Gespräch auf den Großonkel Paul der …. – was vorher noch nie Thema war. Die Berichte von solchen im Wortsinne merkwürdigen Zufällen oder Fügungen sind zahlreich.

Bei der zweiten Form, in der durch die Aufstellung die Lösung zwar sichtbar ist, aber nicht „genommen“ werden kann, liegt die Wirkung anders. Zunächst einmal ist auch das „nicht Nehmen“ einer möglichen Lösung anzuerkennen. Es kann sein, dass die Person, die eine mögliche Lösung nicht annimmt, damit im Einklang mit einer größeren Bewegung in ihrer Seele steht. Da darf man dann nicht weiter intervenieren, wenn man dieser Peson nicht etwas von ihrer Würde nehmen will. Lösung ist ja das Gegenteil von Bindung. Und vielleicht liegt manchmal in der Aufrechterhaltung einer inneren Bindung die größere Liebe und mehr persönliche Größe, auch wenn sie Leid bedeutet. Dies von außen beurteilen zu wollen, wäre eine Anmaßung.
Es kann aber auch sein und kommt gar nicht so selten vor, dass es einfach nur noch nicht die rechte Zeit war für diese Ent-Wicklung. Manchmal geht eine solche Bewegung am nächsten Tag, wo sie am vorherigen Tag noch nicht möglich war. Oder im nächsten Monat oder im nächsten Jahr. Die Seele hat ihre eigenen Rhythmen und ihre eigene Zeit – da darf man nichts über Gebühr forcieren[3].

In jedem Fall wäre die Aufstellung nicht nutzlos gewesen. Es ist ein Impuls gesetzt, der in der Seele weiterarbeitet. Bert Hellinger hat mitunter zum Abschluss einer solchen „gescheiterten“ Aufstellung den – wie ich finde – schönen Satz gesagt: „Ich vertraue alles Weitere deiner guten Seele an“.
Das ist eine demütige Haltung, bei der sich der Aufstellungsleiter nicht über den Klienten oder die Klientin und ihre seelischen Bewegungen stellt.

 

Fußnoten:

[1] In der systemischen Beratung gibt es einen Satz, der lautet: „Ratschläge sind auch Schläge“.

[2] Das „Scheitern“ steht hier immer in Anführungszeichen. Es wird im Verlaufe des Textes deutlich werden, warum.

[3] Ein Aufstellungskollege wirbt für seine Aufstellungsveranstaltungen mit der Garantie, jede der durch ihn geleiteten Aufstellungen würde eine Lösung ergeben. Es gruselt mich immer ein wenig, wenn ich so etwas lese. Wie frei ist er mit diesem Versprechen noch, den seelischen Bewegungen in ihrem Eigensinn wirklich nachzugehen?

Kann man den Wahrnehmungen der Stellvertreter vertrauen?

Manchmal stellt sich in einer Aufstellung die Frage: Kann ich dem, was ein Stellvertreter oder eine Stellvertreterin an Eindrücken oder Impulsen äußert, vertrauen? Insbesondere für die Person, für welche die Aufstellung gemacht wird, hat manchmal diese Frage. Besonders, wenn das, was Stellvertreter äußern, im Gegensatz zu dem steht, was diese Person bislang geglaubt hat und wovon sie überzeugt war.

Dazu ein Beispiel: Vor einigen Jahren stand ich in einer Aufstellung als Stellvertreter für den Vater einer Frau. Diese Frau, die ihre Herkunftsfamilie aufstellte, sagte: Ihre Eltern hätten sich getrennt, als sie noch ein Kleinkind war. Und ihre Eltern hätten sich wohl nie wirklich geliebt und nicht zueinander gepasst. Außerdem seien auch beide Familien, sowohl väterlicherseits wie mütterlicherseits, von Anfang an gegen diese Verbindung gewesen und hätten aktiv gegen diese Verbindung gearbeitet, was dann auch zur Trennung beigetragen habe.

Als ich als Vater und eine andere Stellvertreterin als Mutter aufgestellt wurde, stellte sich schlagartig ein großes Gefühl von Liebe zu dieser Frau ein. Und es war völlig klar: Ihr geht es ebenso. Und das trotz der großen räumlichen Distanz, mit der wir zueinander aufgestellt wurden. Dieses Gefühl der Liebe und Verbundenheit war von einer Unmittelbarkeit, Klarheit und Reinheit, wie ich es davor und auch danach nicht erlebt habe als Stellvertreter in einer Aufstellung.

Die Stellvertreter für Vater und Mutter zeigten hier in der Aufstellung also ein Bild, dass konträr zu allem war, was die aufstellende Person bislang geglaubt hatte –und was man ihr vielleicht auch erzählt hatte. Nun ist das ja eigentlich eine sehr schöne Sache. Bedeutet es doch für die aufstellende Person: Auch ich bin ein Kind der Liebe. Auch wenn ich das bislang nicht wusste.
Die Frau, die ihre Herkunftsfamilie aufstellte, hatte aber sichtlich Schwierigkeiten mit diesem Bild. Und sie zweifelte, ob es der Realität entsprach. Ich als Stellvertreter für den Vater und auch die Stellvertreterin für die Mutter hatten das keine Zweifel, dass dies der seelischen Realität zwischen ihren Eltern entsprach – auch wenn die äußeren Umstände vielleicht die Liebe nicht lebbar gemacht haben mögen.

Im Normalfall ist man Leiter einer Aufstellung geneigt, den stellvertretenden Wahrnehmungen der Stellvertreter zu vertrauen. Als die Wahrheit über das, was in der seelischen Dynamik die Wirklichkeit ist. Auch wenn die verstandesmäßige Ausdeutung der realen Personen und ihre Geschichten darüber, wie es war, anders sind.

Die Formulierung „im Normalfall“ deutet aber auch schon an: Es gibt Ausnahmen. Manchmal ist es nicht so klar, was ist jetzt bei den Stellvertretern wirklich etwas, dass aus dem „wissenden Feld“ kommt? Und was davon ist vielleicht eher ein eigenes Thema des Stellvertreters, welches irgendwie durch die Aufstellung „angetriggert“ und dann ausagiert wird?

Ich hatte in dem Blogbeitrag zum „wissenden Feld“ (Teil 1) den Vorgang der stellvertretenden Wahrnehmung im Feld als eine milde Form der Besetzung oder Besessenheit beschrieben. Die Stellvertreterin oder der Stellvertreter wird von einer fremden seelischen Bewegung erfasst für die Zeit der Aufstellung. Danach fällt diese „Besetzung“ wieder ab. Allerdings erfolgt diese „Besetzung“ meistens nicht unmittelbar und sofort[1]. Es bedarf des Einfühlens in die Position, in der man steht. Und das kann eine gewisse Zeit, manchmal 20 Sekunden oder auch ein oder zwei Minuten dauern. In dieser Zeit spürt und lauscht man als Stellvertreter, ob sich irgendwelche Eindrücke, Gefühle und Impulse einstellen – ohne zu wissen, was dies sein mag und worauf man genau zu achten hätte. In dieser Zeit des Einfühlens bin ich aber als Stellvertreter auch noch mit meiner Person und meinem Verstand, meinen Vorannahmen und Überzeugungen vorhanden. Und stelle mir als diese eigene Person vielleicht – mehr oder weniger randbewusst – die Frage: Was wird jetzt von mir erwartet? Welche Rolle soll ich hier spielen? Und wie soll ich die Rolle anlegen. Dann ist das Bewusstsein auf der Suche, wie es aus den meist wenigen Informationen eine Handlungsanleitung erhalten kann. Und das ist alles nicht das, worum es in der stellvertretenden Wahrnehmung geht.

Im Normalfall geschieht aber nach einiger Zeit der Wechsel. Es steigt im Stellvertreter etwas auf und nimmt für eine Zeit partiell Besitz vom Stellvertreter. Manchmal aber gelingt die Ablösung von meiner realen Person nicht oder nicht genügend. Und dann agiere ich als Stellvertreter vielleicht eher mein Eigenes aus, statt im „wissenden Feld“ mitzuschwingen.

Wie erkennt man die Unterschiede zwischen einer „echten“ Wahrnehmung aus dem Feld und dem Ausagieren eigener Anteile des Stellvertreter?

In den meisten Fällen gibt es darauf eine recht einfache Antwort: Man spürt es. Und nicht nur die Aufstellungsleitung spürt es, alle spüren es. Die anderen Stellvertreter, die Beobachter, einfach alle. Das ist ein wenig ähnlich wie bei der Tatsache, dass wir meistens sehr genau spüren, ob jemand z.B. wirklich Trauer empfindet oder sich „Krokodilstränen“ abringt, um einen bestimmten Eindruck bei anderen Menschen zu erzeugen.

Es gibt aber auch einige konkretere Angaben, die man machen kann:

  • Wahrnehmungen aus dem Feld werden in aller Regel unaufgeregt mitgeteilt. Die Stellvertreterperson ist gesammelt und gefasst. Im Gegensatz wirkt eine Stellvertreteräußerung, die nicht aus dem Feld stammt, dramatisiert. Sie ist auf einen Effekt angelegt.
  • Die Wahrnehmungen aus dem Feld werden in einfachen und kurzen Aussagesätzen berichtet. „Mir geht es hier gut“ oder „Meine Knie zittern“ oder „Mein Blich zieht es dorthin“ oder dergleichen. Ohne weitere „Erklärungen“ oder Ausschmückungen. Es ist einfach so. Äußerungen, die nicht aus dem Feld kommen, sind dagegen oft weitschweifig, voller zusätzlicher Ausführung über eine „weil“ oder „aber“ oder über Gründe und Motive.
  • Immer dann, wenn Stellvertreter in einer Aufstellung in eine Diskussion geraten, in eine argumentative Auseinandersetzung, dann weiß man: Sie sind nicht im Feld.

Letztlich ist dies genau der Unterschied zwischen Aufstellungen und anderen Formen psychologischer Ansätze im Bereich Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und Therapie wie Rollenspiel und Psychodrama. Bei diesen Ansätzen geht es um ein ausagieren, bei der Aufstellungsarbeit geht es um das „Anerkennen, was ist[2]“. Und das, was ist, braucht keine Dramatisierung. Es ist einfach. Und es ist einfach.

[1] Das obige Beispiel war in dieser Hinsicht eher eine Ausnahme

[2] So ein Buchtitel von Bert Hellinger.

Über Gefühle, ihre Qualitäten und ihre Rolle in der Aufstellungsarbeit

Vorbemerkung:
Was in diesem Blogeintrag passiert, ist ein paradoxes Unterfangen. Wenn wir im Alltag über Gefühle reden, ist es meist genau das: Gerede. Und nicht Gefühle. Gefühle wollen ihrem Ursprung nach gefühlt und nicht beredet werden. (Womit nicht gesagt sein soll, dass ein Reden über Gefühle nicht sinnvoll, hilfreich, entlastend oder gar befreiend sein kann. Es soll lediglich gesagt werden: Es gibt einen Unterschied zwischen einem Gefühl und einem Reden über ein Gefühl. So wie es einen Unterschied zwischen einer Speisekarte und dem Gericht gibt. Nur das zweite kann man essen.)
Reden wir also über Gefühle. Genauer gesagt: Ich schreibe über Gefühle, aber das ist ja auch nur eine Form von Reden, nämlich das Reden eines Schreiberlings an ein lesendes Publikum hin.

Wenn wir über Gefühle sprechen, kann man leicht einen Umfangreichen Zoo mehr oder minder possierlicher Tierchen und Gattungen sprachlich errichten. Es gibt Freude, Wut, Liebe, Ärger, Angst, Überraschung, Ekel, Langeweile, Anspannung, Begeisterung, Verwunderung, Irritation, Attraktion, Kummer, Enttäuschung, Stolz, Hilflosigkeit usw. usf. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Und sie handelte immer vom Inhalt der Gefühle. Hier geht es um Qualitäten von Gefühlen.

Und die Qualität eines Gefühlszustandes kann man in drei Qualitäten oder „Geschmacksrichtungen“ einteilen:

Primäre Gefühle

Ein Primärgefühl ist unmittelbar und ergreift den fühlenden Menschen praktisch unwillkürlich und vollständig. Ein Beispiel ist die Trauer, wenn ein Mensch einen anderen geliebten Menschen verloren hat und die Tränen ungehindert (und – das ist wichtig – mit offenen Augen!) fließen. Oder ein Moment reiner Freude. Oder wenn eine Gruppe von Menschen oder manchmal auch nur ein Einzelner anhand einer plötzlichen Einsicht in die Absurdität einer Situation in schallendes und unkontrollierbarer Gelächter ausbricht, dass mit einem verschämten Kichern so viel gemein hat wie der Monde mit schweizer Käse.

Woran erkennt man ein Primärgefühl? Nun, zunächst einmal daran, dass es rein und unverfälscht, unmittelbar und impulsiv und unkontrollierbar ist. Und: Es ist meist von kurzer Dauer. Als Zeuge eines solchen Gefühls erkennt man es daran, dass es auch den Beobachter erfasst. Ebenso rein und unverfälscht. Es ist für jeden Außenstehenden sofort nachvollziehbar – und es bedarf keiner besonderen Handlung seitens der Außenstehen. Man versteht es einfach, schwingt mit, empfindet es als angemessen und als folgerichtige Reaktion auf einen Umstand oder eine Situation.

Sekundäre Gefühle

Sekundäre Gefühle sind dagegen sozusagen stellvertretende Gefühlsregungen. Sie sind primäre Gefühle, die durch einen Filter gegangen sind und der Filterprozess hat gesagt: Das ist hier so nicht zulässig oder angemessen. Also wird das primäre Gefühl durch ein sekundäres Gefühl ersetzt, welches tolerabler erscheint. Man nennt sie deshalb auch mitunter „Deckgefühle“. Das Gefühl von Ärger z.B. ist fast immer ein sekundäres Gefühl, welches ein anderes Primärgefühl wie vielleicht Wut oder Angst überdeckt und stellvertretend statt des Primärgefühls „präsentiert“ wird.

Woran erkennt man ein Sekundärgefühl? In erster Linie daran, dass man bei genauer Beobachtung einen kurzen Moment der Überlegung, der gedanklichen Auswahl beim Fühlenden erkennt. Ein kurzes Zögern, bei dem die Aufmerksamkeit nach innen geht. Noch untrüglicher ist aber, was ein Sekundärgefühl mit einem Zeugen macht, besonders in einer Gruppensituation: Wenn sich ein Gefühl von Irritation oder Verwirrung, von Langeweile oder Verdruss einstellt oder der Impuls irgendetwas dringen für jemand anderen ändern zu wollen – all das sind ziemlich sichere Indizien. Also auch hier wird der Beobachter oder Zeuge vom Sekundärgefühl in gewisser Weise erfasst, aber von seinem Aspekt der „Doppelbödigkeit“, was auch den Beobachter in einen milden inneren Aufruhr versetzt. Bei Primärgefühlen gibt es dagegen keinen Grund für Unruhe beim Zeugen/Beobachter, man bleibt gefasst und gesammelt.

Fremdgefühle oder übernommene Gefühle

Eine dritte Qualität sind Gefühle, die wir stellvertretend für jemand Anderen, in aller Regel jemand anderen aus dem Familiensystem, übernehmen. Familienaufstellungen sind in besonderem Maße geeignet, solche übernommenen Fremdgefühle sichtbar zu machen und sie an den Ort zurückzugeben, wo sie ihren ursprünglichen Platz haben.
Da wäre etwa eine Frau, welche immer wieder eine für sie selbst unerklärliche Wut auf ihren Mann empfindet, obwohl sie nach eigenem Empfinden ihm gar nichts vorzuwerfen hat. In einer Familienaufstellung stellt sich heraus, dass sie stellvertretend die Wut ihrer Mutter auf deren Mann, also den Vater der Frau, empfindet, der mehrfach fremdgegangen ist und die Mutter hat es schweigend ertragen und ihre eigentlich angemessene Wut nie geäußert[1].

Woran erkennt man übernommene Fremdgefühle? Sowohl für die Person, welche das Fremdgefühl hat wie auch für Außenstehende haben sie etwas Lähmendes, man empfindet Ratlosigkeit und Hilflosigkeit. Das ist eine ganz andere Wirkung als die eher irritierenden und enervierenden Wirkungen von Sekundärgefühlen. Und: Bei übernommenen Fremdgefühlen lässt sich das Gefühl nicht recht aus einer Situation plausibel machen. Sie wirken in Bezug auf die Situation wie ein Fremdkörper.

Familienaufstellungen und die drei Gefühlsqualitäten

Familienaufstellungen haben bezüglich der drei genannten Gefühlsqualitäten vor allem zwei Wirkungen:

1. Auflösung von Fremdgefühlen
Im Rahmen von Familienaufstellungen zeigt es sich in aller Regel sehr schnell über die Reaktionen der Stellvertreter, ob ein Gefühl ein übernommenes Fremdgefühl ist. Manchmal nicht ganz so schnell ist auffindbar, zu wem im Familiensystem das Gefühl ursprünglich gehörte und wo es seinen guten Platz hat. Aber auch diese Zuordnung gelingt fast immer.
Und die Lösung ist dann, der Person im Familiensystem, zu der das ursprüngliche Gefühl gehörte, in Liebe zu sagen: „Dies habe ich gerne für dich übernommen“. Und dann könnte vielleicht in dem oben skizzierten Beispiel die Tochter die Mutter bitten: „Schau freundlich auf mich, wenn ich meinen Mann jetzt nehme als meinen Mann“. Ich habe es noch nie in einer Aufstellung erlebt, dass dieser Teil der Familienseele es wirklich will, dass jemand Anderes das Eigene trägt. Aber: Wichtig ist trotzdem, es als Bitte und nicht als Forderung vorzutragen.

2. Überführung von Sekundärgefühlen in Primärgefühle
Hier kann es sich etwa um Wut oder Vorhaltungen handeln, die ein Kind gegenüber seinen Eltern hat. Und im Laufe der Aufstellung bricht sich die ursprüngliche Liebe des Kindes zu seinen Eltern, ohne die es nicht wäre, Bahn. Dann kommt etwas in Fluss im Inneren und wird als Primärgefühl erlebt – nicht nur trotz sondern oft wegen und in voller Anerkenntnis des Schweren und Leidvollen, das auch damit verbunden gewesen sein mag.
Anmerkung: Man muss sich dabei nur vor einem „verrosamundetem“ oder „verpilchertem“ Verständnis des Wortes Liebe hüten. Die ursprüngliche Liebe als Lebenskraft und Lebensenergie, die hier gemeint ist, hat wenig bis nichts mit dem zu tun, was wir oft „romantische“ Liebe nennen. Aber das nur am Rande.

[1] Bert Hellinger spricht hier von einer „doppelten Verschiebung“ des Fremdgefühls. Nicht nur ist das Gefühl im Subjekt verschoben, in dem die Tochter stellvertretend das Gefühl hat, was zur Mutter gehört bei dieser aber sich nie offen ausdrücken konnte. Die zweite Verschiebung findet im Objekt des Gefühls statt, in dem die Frau auf ihren Mann statt auf den Vater, also den Mann der Mutter, wütend ist.

Über die (manchmal) guten Folgen des Schlimmen

Ich hatte vor einiger Zeit eine Aufstellung, da ist die Großmutter der Frau, um die es ging, von Rotarmisten am Ende des zweiten Weltkrieges vergewaltigt worden. Sie wurde schwanger und gebar die Mutter der Frau.

Und wie das manchmal so ist, setzt sich die Geschichte fort: Die Mutter hat eine (vielleicht auch nicht so ganz freiwillige – das ist unklar) sexuelle Begegnung mit einem Fremden. Den sah sie danach nicht wieder. Die Mutter wurde schwanger und es entstand aus dieser Verbindung die Frau, von deren Aufstellung ich hier schreibe.

Beide, diese Frau wie auch schon ihre Mutter, lebten sehr „reduziert“. Das grundlegende Lebensgefühl war: „Mich dürfte es eigentlich nicht geben“. Und beide versuchten, möglichst unauffällig und wenig sichtbar zu leben.

Man könnte dies jetzt als ein Beispiel nehmen, wie schwere Schicksale und grundlegende Einstellungen dem Leben gegenüber über Generationen tradiert werden. Und das ist es natürlich auch. Aber ich möchte hier auf etwas anderes hinaus.

Die Aufstellung erinnerte mich an eine andere Frau mit einer ähnlichen Familiengeschichte. Und diese Frau berichtete, dass sie irgendwann einmal gesprächsweise auf die Erlebnisse der Großmutter kamen, und die Großmutter da sinngemäß geäußert hat: „Wenn ich deine Mutter als Kind habe spielen sehen, dann habe ich manchmal gedacht: Wenn ich das (die Vergewaltigung) heute noch einmal erleben würde, dann würde ich ihr zustimmen, so schlimm es auch war“.

Und in diesem Satz liegt Größe.

Man muss das wirklich einmal wirken lassen. Wenn ein Mensch fähig ist, mit Blick auf die Folgen, das neu entstandene Leben, innerlich zu sagen: Mit Blick auf die Folgen stimme ich dem Schweren – in diesem Fall einer Vergewaltigung – zu.

Kann es überhaupt etwas Größeres geben, als diese Haltung zum Leben zu gewinnen? In diesem Fall: Zu dem Leben, das aus einer Vergewaltigung entstanden ist?

Über die Größe – und das Kleinliche einer Haltung des Einwandes und der Empörung

Ich bitte an dieser Stelle den Leser und insbesondere die Leserin, einmal kurz inne zu halten. Gibt es innerlich da einen Einwand? Oder eine Empörung? Etwa in der Art: „Aber heißt das nicht, eine Vergewaltigung zu verharmlosen?“ Oder: „Wie kann man so etwas Entsetzliches wie eine Vergewaltigung auch noch gut heißen?“

Solche Reaktionen sind verständlich. Insbesondere, wenn wir auf die Tat und das Opfer, die vergewaltigte Frau schauen.

Es gibt aber noch eine andere Perspektive. Schauen wir einmal auf das Kind, das aus der Tat entstanden ist. Welche Folgen hat es für das Kind, wenn eine Mutter auf das Kind schaut und innerlich sagt: „Du bist das Resultat einer Vergewaltigung – und eine Vergewaltigung sollte es eigentlich nicht geben dürfen.“ Oder wenn sie dabei innerlich sagt: „Wenn ich auf dich schaue als Ergebnis der Vergewaltigung, dann stimme ich der Tat nachträglich zu. Weil ich DIR zustimme“.

In welcher der beiden inneren Haltungen liegt mehr Würde? In welcher liegt mehr Kraft? Und vor allem: Unter welcher der beiden inneren Haltungen kann das Kind besser gedeihen? Mit welcher Haltung kann das Kind sein Leben vollständig nehmen – und „JA“ zu seinem Leben sagen[1], wie immer die Begleitumstände der Entstehung gewesen sein mögen? Mit welcher der beiden Haltungen, auf das Kind zu schauen, hat das Kind bessere Chancen, zu gedeihen?

Oder noch zugespitzter: Wenn wir in so einem Fall in erster Linie auf die Tat (oder auch den Täter) schauen – können wir dann überhaupt noch auf das Kind schauen? Können wir es sehen?

Nun wirken die obigen Sätze, zwar alle mit einem Fragezeichen am Ende, vielleicht wie rhetorische Fragen. Also als Fragen, die eigentlich keine Fragen sind, sondern verkleidete Aussagen oder Behauptungen. Also Fragen, die nicht offen in den möglichen Antworten sind, sondern eine bestimmte Antwort suggerieren.

Aber: Wir können das überprüfen. Der geneigte Leser und die geneigte Leserin können für sich selbst so tun, als seien es offene Fragen. Welche Antworten entstehen dann? Es würde mich freuen, in den Kommentaren darüber zu lesen.

Ein kleines (mentales) Experiment

Um das noch etwas auszuführen, möchte ich zu einem kleinen gedanklichen Experiment einladen:

Wenn du magst, nimm dir einen Moment Zeit und nimm eine entspannte Körperhaltung mit ruhiger Atmung ein.

  • Lass dann vor deinem inneren Auge ein Bild von der vergewaltigten Frau entstehen.
  • Wenn du dieses Bild hast, lass ein Bild von dem Rotarmisten vor deinem inneren Auge entstehen.
  • Wenn du dies hast, lass ein Bild des Kindes vor deinem inneren Auge entstehen, und es spiel keine Rolle, ob dieses Bild das Kind als Säugling, als 3-Jährige, als 6-Jährige, als 12-Jährige oder auch als erwachsene Person zeigt.
  • Wenn du diese drei Bilder hast: Dann schau einmal innerlich auf das Kind im Licht der Tat, also im Licht der Vergewaltigung.
  • Und dann schau einmal auf das Kind und seine Eltern – unter Absehung von den Begleitumständen der Zeugung.

Was ist der Unterschied? Gibt es einen Unterschied?

Und um noch weiter zuzuspitzen:

  • Schau einmal auf das Kind und seine Eltern, während du den Vater und seine Tag beurteilst.
  • Und dann schau noch einmal auf das Kind und seine Eltern, während du den Vater inklusive der Tat in dein Herz mit hinein nimmst. (Wenn du das kannst).

Was ist der Unterschied? Gibt es einen Unterschied? Es würde mich sehr interessieren, in den Kommentaren mehr darüber zu erfahren.

[1] „… und trotzdem Ja zum Leben sagen“ ist ein Buchtitel von Viktor Frankl, mit dem Untertitel: „Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“. Der Haupttitel ist ein Zitat aus der Lagerhymne „Das Buchenwaldlied“.

Die innere Haltung – Wie begegne ich einer Aufstellung?

Hoffnung, Furcht oder Heilserwartung?

Mit welcher inneren Haltung sollte man sich einer Aufstellung, insbesondere einer Aufstellung mit einem eigenen Anliegen, nähern? Vielleicht mit der Erwartung oder Hoffnung auf ein „kleines Wunder“, dass ein zentrales Lebensproblem eine Heilung oder zumindest Linderung erfahren möge? Oder mit dem Wunsch, eine Einsicht zu gewinnen, die bislang so nicht zugänglich war? Oder vielleicht mit Befürchtungen, welche Untiefen im einen inneren hier zutage treten mögen?
Relativ normal ist in jedem Fall, das ein Mensch, der ein eigenes Anliegen in einer Aufstellung bearbeiten und im günstigsten Fall einer Lösung zuführen möchte, eine gewisse Aufgeregtheit verspürt, wenn er oder sie „dran“ ist.

Bert Hellinger hat in einer eher frühen Phase der Familienaufstellungen einmal angemerkt, einer Aufstellung nähere man sich mit „Zittern und Zagen[1]“. Und gemeint ist damit eine gewisse Ehrfurcht – und ja, in dem Begriff steckt auch Furcht – als angemessene innere Haltung. Weil wir in Aufstellungen Kräften in unserer Seele begegnen, die größer sind, als das eigene Ich oder auch: Als das eigene Ego. Wir begegnen hier einer seelischen Dynamik, die uns eher „in Dienst“ nimmt[2], als das wir sie beherrschen.

Wir könnten also in einer ersten Annäherung auch sagen: Es braucht eine innere Haltung der Demut, auch der Hingabe. Ein „sich anvertrauen“ denjenigen seelischen Bewegungen gegenüber, die ich nicht in der Hand habe. Und das kann schon etwas ängstigen, schließlich ist damit ja auch ein wenig Aufgabe von Kontrolle angesprochen. Und eigentlich wollen wir doch unser Leben unter Kontrolle bekommen oder halten, die Dinge „in den Griff“ bekommen.

Nun sollte man dies aber auch nicht allzu dramatisch betrachten. Ein wenig Aufregung, ein wenig Nervosität und Ungewissheit gehört zu jeder Veränderung oder jeder Übergangsphase im Leben. Ob das eine wichtige Prüfung ist oder der Beginn einer Therapie oder auch nur der Wechsel einer Arbeitsstelle oder eines Wohnortes.

Die "dos and don’ts" – Eine Empfehlung

Bezogen auf Aufstellungen lassen sich aber schon einige innere Haltungen angeben, die förderlich für den Prozess sind und auch einige hinderliche Einstellungen.

Förderlich für den Verlauf einer Aufstellung ist, wenn

  • ich offen und so weit wie möglich absichtslos bezüglich des konkreten Verlaufes und des Ergebnisses der Aufstellung bin
  • ich mich zumindest bis zu einem gewissen Grad frei machen kann von vorgefassten Meinungen, Ansichten oder gar Schuldzuweisungen
  • ich in der Lage bin, erst einmal nur zu schauen, was ist und was sich zeigt und dabei dem Drang, es bewerten zu wollen widerstehe

Eher ungünstig für eine Aufstellung wäre:

  • Eine feste Vorstellung davon zu haben, was sich in der Aufstellung zeigen muss und welches Ergebnis sie haben soll.
  • Eine Heils- oder Erweckungserwartung bezüglich einer Aufstellung zu hegen. Aufstellungen zeigen den nächsten, den naheliegenden Schritt, der in einer Entwicklung zu vollziehen ist. Und sie helfen, in die eigene Kraft zu kommen, um diesen Schritt zu vollziehen. Aufstellungen machen nicht „erleuchtet“ – was immer das auch sein mag.
  • Eine Haltung, die sich als distanzierte Neugier beschreiben ließe, etwa in der Art: „Ich schau mal, und dann kann ich mich immer noch entscheiden, was davon mir in den Kram passt und was nicht.“ Dazu sind dann Aufstellungen doch wieder eine zu ernste Angelegenheit. In gewisser Weise geht es immer existenziell „ums Ganze“.

Vom Schweren und der Leichtigkeit der Lösung

Wenn diese Beschreibung nach viel Schwere klingt, ist das einerseits in so fern richtig, dass Aufstellungen oft mit den schweren Seiten des Leben zu tun haben. Mit dem ganzen Gewicht von schicksalhaftem Geschehen.
Auf der anderen Seite ist die Lösung meist leicht. Das wäre fast ein Erkennungszeichen einer „guten“ Lösung in einer Aufstellung: Wenn ich gesammelt bin und in meiner inneren Mitte, in Anerkennung als dessen, was ist – dann ist der Vollzug des nächstliegenden Schritts leicht. Und erst von da aus machen wir den dann nächsten Schritt. Die Orientierung geht immer auf das Nahe-Liegende.

Es kann natürlich auch sein, dass ein Mensch in einer Aufstellung eine wirkende seelische Dynamik erfährt und auch eine Lösung naheliegend ist – aber die Person kann den Schritt trotzdem nicht gehen.
Dann ist auch diese Entscheidung, nicht in die Lösung zu gehen, zu achten und zu würdigen. Es kann im Falle einer Verstrickung mit Schicksalen aus der Herkunftsfamilie sein, dass in dieser Entscheidung, nicht in die Lösung zu gehen, eine große Liebe, Treue und Verbundenheit zu diesen Vorfahren zum Tragen kommt. Und es wäre dann anmaßend, von außen beurteilen zu wollen, ob in einem konkreten Einzelfall es die größere seelische Leistung ist, an dieser Verbundenheit festzuhalten oder sich in Anerkennung und Würdigung der Vorfahren davon zu lösen.

[1] Und als ehemaliger Priester spielt er mit dieser Formulierung natürlich auf die Apostelgeschichte 9 an, in der die Legende von der Wandlung des Saulus zum Paulus erzählt wird.

[2] Wieder mit Bert Hellinger gesprochen.

Familienaufstellung – ein Form von Psychotherapie?

Ist eine Familienaufstellung eine Form der Psychotherapie? In diesem Blogeintrag will ich argumentieren, dass die Aufstellungsarbeit allgemein und die Familienaufstellungen im Besonderen keine Psychotherapie im herkömmlichen Sinne sind, aber mitunter natürlich erhebliche therapeutische Effekte nach sich ziehen.

Was ist Psychotherapie?

Üblicherweise wird unter Psychotherapie eine Tätigkeit verstanden, welche der Feststellung, Linderung oder Heilung von psychischen Störungen mit Krankheitswert dient.
Psychische Störungen wiederum sind Beeinträchtigungen des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens, Verhaltens oder der sozialen Interaktion, die krankhaft sind in dem Sinne, dass sie durch die betreffende Person nicht oder nicht ausreichend willentlich beeinflusst werden können.

So weit die Definition. Praktisch kann man hier an Depression, Angstzustände, Persönlichkeitsstörungen, Schizophrenie, Paranoia, Abhängigkeiten, Zwänge usw. denken. In Deutschland ist das Gebiet der Psychotherapie gesetzlich so geregelt, dass als Psychotherapie nur gilt, wenn die Linderung oder Heilung von psychischem Leiden mittels „wissenschaftlich anerkannter Verfahren“ angestrebt wird.

Können Familienaufstellungen Psychotherapie sein?

Geht man von der obigen Definition aus, dann kann man aus zwei sehr unterschiedlichen Gründen sagen, dass Familienaufstellungen keine Psychotherapie sind.

1. Rein pragmatisch gesehen können Familienaufstellungen und andere Aufstellungsformen (zumindest in Deutschland) keine Psychotherapie sein, weil es sich nicht um ein wissenschaftlich anerkanntes Verfahren handelt.
Zwar ist es nicht so, dass sich nicht auch Wissenschaftler und wissenschaftlich ausgebildete Personen mit der Aufstellungsarbeit und dem Familienstellen beschäftigen und diese Methode selber anwenden[1]. Ebenso gibt Studien, welche die Wirksamkeit von Familienaufstellungen wissenschaftlich evaluieren[2].
Dies ändert aber nicht daran, dass Familienaufstellungen derzeit nicht zum Kanon der „wissenschaftlich anerkannten“ Therapieverfahren gehören und in naher Zukunft auch wohl nicht gehören werden.
Schon aus diesem, eher formalen, Grund muss das Familienstellen also in den Bereich der psychologischen Beratung und Lebenshilfe eingeordnet werden, kann aber nicht als Psychotherapie gelten.

2. Neben dem pragmatischen Grund gibt es noch einen inhaltlichen Grund: Beim Familienstellen und auch anderen Formen der Aufstellungsarbeit geht es um die seelischen Bewegungen, die in einem Menschen gerade wirksam sind. Diese gilt es „ans Licht zu holen“ – um eine oft zitierte Formulierung von Bert Hellinger zu verwenden.
Wenn es also z.B. eine seelische Verstrickung mit Personen aus der Herkunftsfamilie gibt, wenn fremdübernommene Gefühle an ihren Ursprung zurückgeführt und dort geheilt werden[3] – dann ist dies das eigentliche Ziel einer Aufstellung. Es geht darum, die wirksamen „Unterströmungen“ in der eigenen Seele zu erkennen, anzuerkennen und zu würdigen.
Dies hat oft sehr profunde therapeutische Effekte, sowohl im psychischen wie im körperlich-somatischen Bereich. Aber: Diese therapeutischen Effekte sind nicht das eigentliche Ziel der Aufstellung. Man sollte eine Aufstellung nicht mit dem Ziel machen: Hier gibt es ein Symptom – und das mache ich jetzt weg. Das geht mit ziemlicher Sicherheit schief.
Die innere Haltung, insbesondere bei der Leitung der Aufstellung, muss eher sein: „Wir schauen uns einmal an, welche Kräfte – durchaus unbewusst – in deiner Seele wirken. Und wenn du das weißt, kannst du dich innerlich anders dazu verhalten“. Die Frage, ob das dann für ein Symptom, egal ob psychisch oder körperlich, eine Heilung oder Linderung zur Folge hat, sollte man während der Aufstellung eher ausblenden. Wer zu sehr auf ein Symptom und sein „Bekämpfung“ fokussiert ist, verpasst vermutlich das Wesentliche in der Aufstellung.
Nun zeigt die Erfahrung zwar, dass sich fast immer positive Effekte nach einer Aufstellung einstellen. Aber es wirkt hier ein paradox anmutendes Phänomen: Diese positiven Wirkungen stellen sich um so eher und schnelle ein, je mehr sie nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Weder bei der Leitung der Aufstellung noch bei der Person mit dem Anliegen. Im Grundverständnis des Familienstellens wäre es eine Anmaßung, zu glauben, man könnte vorhersagen, was passiert, wenn seelische Strömungen „am Licht“ sind. Auch dies muss man dann, in aller Demut, dem Wirken der „großen Seele“ überantworten. Das kontrollieren wir nicht. Weder als Person mit dem Anliegen noch als Aufstellungsleiter.

Therapeutische Effekte ohne Therapie – ein Beispiel

Wenn also Familienaufstellungen keine Therapie sind, wie sind dann therapeutische Effekte denkbar? Dazu ein Beispiel aus einer Aufstellung:

Eine Frau macht eine Aufstellung mit dem Anliegen, sie leide schon seit gut 20 Jahren an einer bestimmten Organunterfunktion, welche die Lebens- und Erlebensmöglichkeiten einschränkt. Verschiedene medizinische und auch heilpraktische Behandlungen hatten in der Vergangenheit wenig und oft nur sehr kurzfristigen Erfolg. Sie wolle sich das jetzt in einer Familienaufstellung einmal anschauen, weil sie auf die Vermutung gekommen war, es könne etwas mit der Herkunftsfamilie zu tun haben. Die Mutter habe das Symptom auch gehabt. Auf die Frage, ob es sonst noch jemanden gäbe in der Herkunftsfamilie mit dem gleichen Symptom, sagte sie: „Jetzt, wo ich darüber nachdenke: Es gab Erzählungen, eine Schwester meiner Mutter (also eine Tante) und auch meine Großmutter mütterlicherseits (also die Mutter der Mutter) hatten das auch.“ Beide waren lange vor ihrer Geburt gestorben.

In der Aufstellung zeigten die Stellvertreterinnen eine deutliche wechselseitige Abwendung voneinander. Es fiel allen Stellvertreterinnen schwer, eine andere Person anzusehen. Und die Körpersprache signalisierte Ablehnung. Im Laufe der Aufstellung stellte sich heraus, dass die Frauen noch etwas teilten, außer dem organischen Symptom: Ein schwieriges Verhältnis zur Mutterschaft. Eine ungewollte Schwangerschaft, eine Notsituation mit Flucht und Vertreibung mit einem Säugling und ohne Unterstützung, eine ungewollte Kinderlosigkeit …

Die Lösung war, dass die Frauen sich als Kinder auf ihre jeweiligen Mütter hin bewegten – und als sie ganz nahe waren sich auf Knien mit dem Kopf an den Bauch der Mutter lehnten. Und nach einiger Zeit ihre Mutter Sätze sagten, die sinngemäß in etwa lauteten[4]: „Von dir habe ich mein Leben. Und ich nehme es jetzt vollständig zu dem Preis, den es dich gekostet hat. Und auch zu dem Preis, den es mich vielleicht noch kostet.“ Und noch etwas anderes war wichtig, nämlich zu sagen: „Mama – nur bei dir kann ich lernen, was es heißt, eine Frau und (vielleicht) auch eine Mutter zu sein“. Am Ende der Aufstellung war eine sehr enge Verbindung zwischen diesen Frauen verschiedener Generationen und es war, wie wenn ein Strom von Weiblichkeit, von weiblicher Energie, durch die Glieder dieser Kette sich ergoss.

Einige Zeit später berichtete die Frau, deren Anliegen die Aufstellung war: Im Rahmen einer routinemäßigen medizinischen Untersuchung haben sich zum ersten Mal Messwerte bezüglich des Organs ergeben, die im Normalbereich sind. Und bislang sei dieses körperliche Problem auch nicht wieder aufgetaucht.

Nun könnte man dieses Geschehen so interpretieren, dass das Symptom ein Ausdruck der Verbundenheit und der ursprünglichen Liebe zwischen den Müttern und den Töchtern gewesen sei. Und der Fluss dieser ursprünglichen Lieben war, schon über mehrere Generationen hinweg, blockiert. Es gab da Einstellungen der Ablehnung, man wollte etwas ganz anders machen, als die Mutter es gemacht hatte, weil die es nicht „richtig“ gemacht hatte. Und das Symptom hätte nun die Funktion, an diese ursprüngliche und existenzielle Verbundenheit mit dem eigenen Ursprung zu erinnern. In dem es die Verbundenheit im Symptom, der Organschwäche, herstellt. Die sie dann alle gemeinsam haben. So als sage die Seele mit dem Symptom und entgegen dem Bewusstsein (das sagt: Ich bin anders als du, ich will alles anders machen als du): „Ich bin wie du!“

Eine solche Erklärung scheint erst einmal plausibel. Wenn wir annehmen, das wir Symptome nicht zufällig haben, sondern Symptome auch etwas nicht Bewusstes ausdrücken, dass eine „Botschaft“ in einem Symptom enthalten ist. Aber ob es wirklich so ist? Das ist völlig unklar. Wir wissen es nicht wirklich, es ist eher eine Erklärung im Nachhinein. Wichtig im Erleben während der Aufstellung war: Es ist etwas wieder in Fluss gekommen, was vorher blockiert war. Es ergab sich eine Verbindung mit der Quelle des eigenen Lebens – und das hatte eine wohltuende und stärkende Wirkung.

Nun könnte man aber meinen, gerade diese Aufstellung sei doch gerade ein Beispiel für eine therapeutische Ursache-Wirkung-Erzählung. Die „Klientin“ kam mit einem somatischen Problem und der Vermutung, dies könnte psychische Ursachen haben. Und diese wiederum lägen in der Herkunftsfamilie begründet. Es erfolgt eine therapeutische Intervention (in Form einer Aufstellung). Nach Beseitigung der psychologischen Ursachen verschwindet die somatische Störung.
Und doch wäre dies meines Erachtens nach ein zu vordergründiger Kurzschluss. Das Wesentliche an dieser Aufstellung war, dass der eigentliche Ausgangspunkt, das Symptom der Organschwäche, in der Aufstellung selber gar keine Rolle gespielt hat. Es wurde sozusagen von allen Beteiligten vergessen.

Meine Vermutung ist: Das, was in der Aufstellung an seelischer Bewegung in Fluss gekommen ist, wäre nicht möglich gewesen, wenn die Aufmerksamkeit auf die Aufhebung einer organischen Einschränkung fokussiert gewesen wäre. Dann hätte sich die wesentliche seelische Bewegung nicht gezeigt.

Therapeuten müssen bis zu einem gewissen Grad so arbeiten, dass der Fokus auf der Beseitigung oder Milderung der Störung gerichtet ist. Das ist ihr Auftrag, das ist ihr Job. In der Aufstellungsarbeit dagegen – so die Vermutung, die ich nicht „beweisen“ kann – besteht die Gefahr bei dieser Orientierung die wesentliche seelische Bewegung, dass was in der Seele „heimgeholt“ werden will, zu verfehlen.

Noch einmal: War das Therapie? Nach allen gängigen Kriterien: nein! Hatte es therapeutische Effekte? So sieht es aus. Aber: Der therapeutische Effekt war sozusagen nur nebenbei.

[1] Pars pro toto wäre hier Prof. Franz Ruppert in München zu nennen, der Aufstellungen in den wissenschaftlichen Kontext der Forschung zu psychologischen Traumata und deren Therapie gestellt hat. Prof. Ruppert hat in diesem Zusammenhang nicht nur eine eigene Form der Aufstellungsarbeit, die „identitätsorientierte Psychotraumtherapie mit der Anliegenmethode“ entwickelt, sondern auch eine Reihe von Büchern verfasst, in denen die Vorgehensweise bei Familienaufstellungen und ihre Wirkungen mit Konzepten aus der wissenschaftlichen Psychologie – Bindungstheorie und Theorien psychologischer Traumatisierungen – einleuchtend verknüpft werden. Auch hier sei wieder nur stellvertretend und als Beispiel auf das Buch „Trauma, Bindung und Familienstellen“ verwiesen.

[2] Für eine Übersicht bezüglich wissenschaftlicher Studien: http://www.familienaufstellung.org/studien
Beispielhaft für eine Studie  mit einem in der Wirkungsforschung geradezu klassischen Kontrollgruppendesign und mit im Ergebnis bemerkenswerten Effektstärken sei auf die Forschungsarbeit am Institut für medizinische Psychologie der Universität Heidelberg verwiesen. Der in der Zeitschrift "Family Process" veröffentlichte Forschungs- und Ergebnisbericht in englischer Sprache findet sich hier. Eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse in deutscher Sprache ist hier zu finden.

[3] Was meistens einfach heißt, das Schicksal der Vorhergehenden zu achten und zu würdigen. Und die tiefe Verbundenheit und Liebe zu spüren, die sich im Symptom ausdrückt.

[4] Die konkreten Akzentuierungen waren recht unterschiedlich, aber darauf kommt es für diese Darstellung nicht an.

Bewegungen der Seele und das klassische Familienstellen

Bei Familienaufstellungen (und auch bei anderen Formen der Aufstellungsarbeit, die sich nicht im engeren Sinne nur auf Familien beziehen) werden bislang verborgene seelische Dynamiken deutlich – mit dem Ziel, einer seelische Problemlage oder auch einem körperlichen Symptom Erleichterung zu verschaffen. Man benutzt dazu Stellvertreter für die realen Personen in der Familie und zunächst auch für den realen Klienten. Und man arbeitet mit den Empfindungen und Impulsen, welche die Stellvertreter mitteilen und welche sie aus einem Raum erhalten, der erst durch die Aufstellung entsteht und den wir im Rahmen der Aufstellungsarbeit das „wissende Feld“ nennen. (Mehr dazu hier und hier und hier.)

Das klassische Familienstellen

In den Familienaufstellungen haben sich dabei bestimmte Regelmäßigkeiten immer wieder gezeigt, die dann aus der Erfahrung heraus „kodifiziert“ wurden. Es zeigt sich, dass die ursprüngliche Liebe und die volle Kraft des Lebens nur dann fließen kann, wenn diese Regeln im Familiensystem geachtet und in der inneren Wahrnehmung nicht verletzt wurden. Die Basisregeln sind:

  • Zugehörigkeit:
    In einem Familiensystem gehört jedes Mitglied der Familie dazu und hat ein Recht auf Zugehörigkeit und Würdigung der Rolle, die sie als Mitglied spielt.
  • Rangfolge:
    Innerhalb der Zugehörigkeit gibt es eine Rangfolge, deren wichtigste Regel ist: Das Frühere steht in der Rangfolge vor dem Späteren.
  • Austausch:
    Innerhalb der Struktur von Zugehörigkeit und Rangfolge ergibt sich ein Austausch von Geben und Nehmen. Jeder Akt des Nehmens erzeugt eine empfundene Verpflichtung, in ähnlicher Größenordnung zurückzugeben.

Aus diesen Grundregeln ergibt sich dann eine Ordnung im Familiensystem, die mit einem populären Buchttitel als „Ordnungen der Liebe“ bezeichnet werden. Und im klassischen Familienstellen geht es darum, durch die Aufstellung sichtbar zu machen, wo und wie genau im konkreten Fall diese Ordnungen verletzt wurden und dann durch eine neue Anordnung der Stellvertreter in einem „Lösungsbild“ diese Ordnungen wieder herzustellen, so dass die Liebe und die Lebenskraft wieder ungehindert fließen kann.

Das Vorgehen beim klassischen Familienstellen

Beim klassischen Familienstellen wird zunächst erfragt, wer alles zum Familiensystem dazu gehört. Dies sind in erster Linie natürlich die Eltern und die Kinder/Geschwister inklusive aller Halbgeschwister, neue Partnerschaften und Ehen usw. Und Mitglieder der Herkunftsfamilien der Eltern, soweit sie für die Probleme oder Symptome eine besondere Rolle spielen, also vielleicht ein ähnliches Schicksal hatten oder überhaupt schwere, schicksalshafte Ereignisse mit Ihnen verbunden sind.

Dann stellt der Protagonist oder die Protagonistin (die Person mit dem Anliegen an die Aufstellung) die Stellvertreter im Raum auf. Die Aufstellung erfolgt nach dem empfundenen inneren Bild, wie die Teile des Familiensystems zueinander stehen. Oft stellt sich die Person mit dem Anliegen hinter die Stellvertreter, legt den Stellvertretern die Hände auf den Rücken und „lotst“ so die Stellvertreter – oft mit geschlossenen Augen – an eine bestimmte Stelle im Raum. Wenn alle Stellvertreter so in der Anfangsaufstellung platziert sind, setzt sich die Person mit dem Anliegen wieder und schaut zunächst zu, wie sich die Aufstellung entwickelt. (Später wird der Stellvertreter dann gegen die reale Person ausgetauscht).

Die Aufstellungsleitung fragt dann zunächst jede einzelne Stellvertreterin und jeden Stellvertreter, wie es ihr an diesem Platz geht. Ob es Gefühle gibt, einen körperlichen Impuls, ob zu bestimmten Stellvertretern starke Beziehungen bestehen usw.
Aus diesen stellvertretenden Wahrnehmungen heraus entnimmt die Aufstellungsleiterin oder der Aufstellungsleiter Informationen, wo die Ordnungen im System gestört sind und beginnt, die Stellvertreter umzustellen. Dabei werden die Stellvertreter in vielen Fällen auch aufgefordert, zu anderen Stellvertretern bestimmte einfache Sätze zu sagen wie z.B. „Du bist meine Mutter. Von dir habe ich mein Leben.“ oder „Du bist mein Großvater und ich achte dein schweres Schicksal“. Nach einiger Zeit ergibt sich ein „Lösungsbild“, also eine Aufstellung, in der alle Familienmitglieder ihren gemäßen Platz haben. Über die Stellvertreter (und an dieser Stelle dann auch die Person mit dem Anliegen, die für ihre Stellvertreterperson eingewechselt wurde) wird geprüft ob sich alle an ihrem richtigen Platz fühlen und ob die Gefühle und Bindungen der Mitglieder im Familiensystem den genannten Ordnungsprinzipien entsprechen. Wenn ja, wird die Aufstellung beendet.

Bewegungen der Seele

Im Laufe der Zeit, wie es so oft mit solchen Methoden und Ansätzen ist, haben sich aus der Anwendung der Methode und den dabei gemachten Erfahrungen und Beobachtungen heraus Veränderungen ergeben. Wie beim klassischen Familienstellen geht auch in der Fortentwicklung vieles auf die Arbeit und die Beobachtungen von Bert Hellinger zurück. Und Bert Hellinger nannte die Weiterentwicklung „Bewegungen der Seele“.

Bei dieser Form der liegt der Akzent nicht so sehr auf der Einhaltung oder der Wiederherstellung einer ursprünglichen Ordnung im Familiensystem, sondern die Aufmerksamkeit verlagert sich mehr auf den Prozess, auf dass, was die Stellvertreter empfinden in einer Aufstellung, wohin es sie zieht, welche seelischen Kräfte sich zeigen. Und in der Aufstellung geht man dann mit diesen Kräften mit, wo immer das auch hinführen mag.

Das Vorgehen bei Aufstellungen zu den Bewegungen der Seele

Wie beim klassischen Familienstellen wird mit Stellvertretern gearbeitet, die im Raum zueinander aufgestellt werden. Und es werden bei den Stellvertretern die Gefühle, Impulse, Orientierungen (Blickrichtungen) und körperlichen Sensation erfragt. Und ebenso werden dann die Stellvertreter aufgefordert, Veränderungen in der Position durchzuführen und zu berichten, welche Veränderungen sich dann ergeben.

Die Unterschiede[1] sind dagegen:

  • Bei den Bewegungen der Seele startet man oft mit einer deutlich kleineren Besetzung an Stellvertretern, nur wenige für das Anliegen zentrale Personen werden als Stellvertreter aufgestellt. Wenn sich im Rahmen der Aufstellung an den Stellvertretern im Aufstellungsfeld zeigt, dass noch andere Personen wichtig sind, werden diese anderen Personen in die laufende Aufstellung hineingenommen.
    Es kann zum Beispiel sein, dass man Anfang erst einmal nur die Person mit dem Anliegen, die Mutter und den Vater aufstellt mit Stellvertretern. Ob und in wie weit dann noch Geschwister, Mitglieder der Herkunftsfamilie der Eltern, abgetriebene oder totgeborene Kinder usw. aufgestellt werden, entscheidet sich erst im Rahmen der Aufstellung. Es ist meist nicht nötig, ein Familiensystem komplett mit allen, die gemäß dem Prinzip der Zugehörigkeit dazugehören, auch aufzustellen. Es reicht, diejenigen Personen (oder manchmal auch Prinzipien oder Archetypen) aufzustellen, die für die gerade vorliegende Fragestellung relevant sind. Und was oder wer, relevant ist, zeigt sich oft genug erst im Rahmen der Aufstellung und kann nicht im Vorhinein entschieden werden.
  • Die Auswahl der wesentlichen Akteure für die Aufstellung ist wichtiger als ihre Positionierung im „Ausgangsbild“. Es hat sich gezeigt, dass es für eine Aufstellung meist nicht wesentlich ist, wie die Stellvertreter am Anfang genau zueinander stehen, wenn man sich der Eigendynamik der seelischen Bewegung anvertraut.
  • Die Bewegungen der Seele, wie sie durch die Stellvertreter im „wissenden Feld“ durch Hinweisreize erfahren werden, bestimmen der Fortgang der Aufstellung. Niemand – nicht die Aufstellungsleitung, nicht der „Klient“, nicht die Stellvertreter – wissen, worauf es hinauslaufen wird. Ja, mitunter weiß am Anfang niemand im Raum am Anfang, worum es eigentlich wirklich geht, dies zeigt sich dann erst im Laufe der Aufstellung. Und es kann sich mitunter auch merklich von dem unterscheiden, was die Person mit dem Anliegen als Anliegen formuliert[2].
    Wir sehen so weite wie möglich von allen Vorannahmen oder dem, was wir zu wissen glauben, ab und verlassen uns so vollständig wie mögliche dem Wissenden Feld.
  • Es wird darauf verzichtet, zwingend ein „Lösungsbild“ erreichen zu wollen, eine „gute Ordnung“ zu erzielen oder überhaupt etwas bestimmtes herstellen zu wollen in einer Aufstellung, was einer vorab ausgedachten Ordnung, Struktur oder Lösung entspricht.
    Oft reicht es, wenn die Bewegungen der Seele sich zeigen, die in der Seele wirksamen Gestalten und Archetypen sichtbar werden – und sich eine Richtung zeigt, in welche sich die seelische Dynamik bewegt. Dann braucht es nicht einmal eine Lösung im engeren Sinn. Es reicht, wenn deutlich wird, wohin die seelische Bewegung möchte und was die nächsten Schritte sind, die anstehen.

Aufstellungen als Form, die Bewegungen der Seele zu erkennen, in man mit diesen Bewegungen geht, ist also im Vergleich mit den klassischen Familienaufstellungen eine freiere Form.

Es ist gleichzeitig eine Form, die weniger vorhersehbar ist. Metaphorisch: Es ist mehr Kunst als Handwerk. Und es ist eine Form, die deutlich weniger bewusste „Steuerung“ durch die Aufstellungsleitung erfordert sowie verträgt. Auch die Aufstellungsleitung vertraut sich – so weit wie sie es vermag – den seelischen Bewegungen an, wie sie sich zeigen. Ohne Absicht und ohne zu wissen, wohin die Bewegung führen mag.

Dies macht die Rolle der Leitung kleiner und, so möchte man sagen, demütiger. Gleichzeitig verlangt es der Aufstellungsleitung mehr ab. Der Verzicht auf Kontrolle und Absicht fordert die Leitung einer Aufstellung mehr. Und wenn es gelingt, ist es nicht „gemacht“ worden. Sondern alle Beteiligten, Klienten, Stellvertreter und Aufstellungsleitung werden geführt und „in Dienst genommen“, um hier eine Formulierung von Hellinger zu verwenden.

In Dienst genommen von was? Wir wissen es nicht! Zumindest nicht allgemein. Es wird uns nur zugänglich, so weit es sich in einer konkreten Aufstellung zeigt. Und so weit es zu diesem Zeitpunkt wichtig ist.

[1] Manchmal sind die Unterschiede zum klassischen Familienstellen sehr subtil, so dass es auf den ersten Blick sich nicht von einer klassischen Familienaufstellung unterscheidet. Manchmal sind die Unterschiede sofort offensichtlich.

[2] Was nicht bedeuten soll, dass eine möglichst sorgfältige Formulierung des Anliegens unwichtig wäre. Es soll nur sagen, bildlich gesprochen: Das vorgetragene Anliegen, worum es in der Aufstellung gehen soll, ist der Punkt, an dem das Kanu in Wasser gesetzt wird. Wohin es das Kanu trägt, hängt dann aber vom Verlauf der Gewässer und Strömung (und der Unterströmungen!) ab und kann vom Einstiegspunkt aus nicht vorausgesehen werden.

Nebenwirkungen einer Aufstellung

 Effekte bei Stellvertretern und Zuschauern

Familienaufstellungen und andere Formen der Aufstellungsarbeit werden für eine Person mit einem Anliegen durchgeführt. Das Ziel ist es, eine Klärung und auch eine Entlastung im seelischen Bereich zu erfahren. In einer Aufstellung stellen sich Stellvertreter zur Verfügung und wirken über ihre stellvertretende Wahrnehmung an der Einsicht oder der Lösung mit.

Nun ergibt sich eine auf den ersten Blick etwas merkwürdige Situation: Ein Stellvertreter in einer Aufstellung wird gewissermaßen „in Dienst genommen“ zum Nutzen einer anderen Person. Aber der Stellvertreter wird dafür nicht bezahlt. Im Gegenteil: Stellvertreter oder auch nur Zuschauer einer Aufstellung zahlen selber auch dafür einen, meist kleineren, Beitrag. Was haben also Teilnehmer einer Aufstellungsveranstaltung davon, wenn es nicht um ein eigenes Anliegen geht?

Die allgemeine Antwort auf diese Frage wäre: Als Beobachter oder Stellvertreter einer Aufstellung werde auch ich von einer seelischen Bewegung erfasst. Wenn das seelische Thema der Aufstellung auch – zumindest zum Teil – mein Thema ist, arbeitet auch in meiner Seele etwas. Aber selbst wenn dies nicht so ist, bleibt oft eine sehr lebendige und eindrückliche Erfahrung. Mitunter auch das Gefühl, an etwas Großem teilgehabt zu haben.

Wenn man es etwas genau betrachtet, gibt es verschiedene Arten von Wirkungen bei Stellvertretern und Beobachtern:

  • Verstehen:
    Manchmal wirkt eine Aufstellung für (teilnehmende) Beobachter vor allem so, dass sich ein Verständnis für seelische Kräfte und Wirkungen einstellt, dass rein intellektuell schwer zu gewinnen wäre.
    Beispiel: In manchen Aufstellungen spielt das Herkunftsland oder Heimatland eine wichtige Rolle. Es kann sein, dass es für einen Menschen, der aus seiner Heimat vertrieben wurde oder ausgewandert ist, sich als wichtig erweist, den Segen des Herkunftslandes zu erhalten[1]. In einer Aufstellung wirkt ein Land oft wie eine sehr, sehr große Mutter. Und die schaut auf ihre Töchter und Söhne. Und manchmal trauert sie auch um die verlorenen Töchter und Söhne, die in die Fremde gegangen sind.
    Wer es einmal in einer Aufstellung erlebt hat, welche Wirkung die Herkunft in der Seele haben kann (nicht muss!), hat danach ein anderes Verständnis für und einen anderen Blick auf etwa die Wichtigkeit, die manche Symbole der Verbundenheit mit der Herkunft für Menschen haben können, die ansonsten nur irrational erscheinen.
    Blindtext
  • Bewegt-Sein:
    Manche Aufstellungen sind sehr bewegend. Es geht einem sozusagen „das Herz auf“. Viele Aufstellungen haben etwas damit zu tun, dass wieder eine ursprüngliche Liebe ins Fließen kommt, die vorher blockiert war. Dies mitzuerleben ist auch für Unbeteiligte ein besonderes Erleben – und es lässt einen auch als Beobachter nicht unberührt und unverändert zurück.
    Blindtext
  • Das eigene Thema wird „mitbehandelt“
    Mitunter kommt es auch vor, dass eine Person als Stellvertreter (oder auch nur Zuschauer) sozusagen „versehentlich mitbehandelt“ wird.
    Auch dazu ein Beispiel: Eine Frau nahm an einer Aufstellungsveranstaltung teil. Bei einer Aufstellung, an der sie nicht einmal als Stellvertreterin beteiligt war, ging es für eine Protagonistin in der Aufstellung um eine unterbrochene Hinbewegung zur Mutter. Die unbeteiligte Beobachterin berichtete einige Tage später:
    „In der Nacht nach der Aufstellung hatte ich einen Klartraum. Ich träumte – und ich wusste im Traum, dass ich träume – dass ich genau die in der Aufstellung erfolgte ursprüngliche Hinbewegung zu meiner Mutter vollzog. Und als ich aufwachte und an meine Mutter dachte, was das zum ersten mal ein unbelastetes Gefühl. Ich war einfach nur dankbar für mein Leben. In mehreren Psychotherapien zu diesem Thema habe ich nicht an diesen Punkt gelangen können. Und ich denke, jetzt ist es endlich wirklich gelöst.“
    In wie weit dieses, durchaus euphorische Gefühl anhält und von Dauer sein mag, ist natürlich offen. Es zeigt aber, dass auch Beobachter mitunter mit den Themen einer Aufstellung in Resonanz gehen, wenn die Seele sich im Thema angesprochen fühlt.

Bert Hellinger hat einmal beschrieben, wie er in einer Aufstellung zur Lösung kommt. Und die Aussage lautet sinngemäß: Ich setzte mit dem Geschehen in der Aufstellung vollständig aus. Ohne Erwartung und ohne Einwand. Und dann warte ich, bis mich aus der Tiefe ein Satz erreicht. Und wenn das geschieht, dann ist der Satz für Alle.

Einschließlich der Aufstellungsleiterin oder des Aufstellungsleiters, möchte man hinzufügen.

[1] Es soll hier ausdrücklich betont werden, dass ein Land etwas anderes ist als ein Staat. Die Loyalität in der Seele geht immer zum Land, aus dem man stammt und in dessen Erde die Vorfahren begraben sind. Das hat mit Staaten oder Politik oder Gesellschaftsformen zunächst einmal wenig bis gar nichts zu tun.

„Einmal im Leben“ – oder: Wie oft aufstellen?

Sind nach einer Familienaufstellung alle Probleme im Leben gelöst?

Im Familienstellen ist eine zentrale Annahme, dass viele seelische und auch körperliche Leiden entstehen, weil wir in der Seele „verstrickt“ oder „identifiziert“ sind mit schweren Schicksalen in unserer Herkunftsfamilie. Oder auch, dass wir das Leben nicht richtig „nehmen“ können, wenn wir diejenigen, von denen wir es erhalten haben – unsere Eltern und deren familiäre Wurzeln – innerlich ablehnen.

Wie auch immer das im Einzelfall sei, es gab insbesondere in der Anfangszeit des Familienstellens die Vorstellung: Wenn diese Prozesse einmal „am Licht sind“ (wie es Bert Hellinger oft formuliert hat), dann ist auch die Lösung offensichtlich.
Bei einer Verstrickung mit einem schweren Schicksal aus meiner Herkunftsfamilie ist die Lösung vielleicht, in einer Aufstellung dieser Person (ihrem Stellvertreter) zu sagen: „Ich achte dein schweres Schicksal“. Oder auch: „Ich gebe dir die Ehre“. Oder wenn ein Elternteil abgelehnt wird, diesem dann zu sagen: „Ich verdanke dir mein Leben. Ich nehme es jetzt mit allem, was an Kosten und Belastungen dazu gehört – und mache etwas daraus“.

Damit wird der Protagonist einer Aufstellung frei für das eigene Leben. Er oder sie muss nicht mehr wie unter Zwang ein fremdes Schicksal wiederholen oder sich in seinem Lebensvollzug unnötig einschränken.

Nehmen wir den Fall eines Mannes, der eine Aufstellung seiner Herkunftsfamilie macht, weil er schon seit langer Zeit immer wieder mit Depressivität, Lebensunlust und auch Suizidgedanken zu tun hat. In der Aufstellung zeigt sich: Er steht in enger innerer Verbindung mit einem Onkel, einem Bruder seines Vaters. Dieser Onkel hat sich umgebracht, während er zu Besuch war. Der damals 7-jährige Protagonist war derjenige, der den Onkel nach dem Suizid in seinem Elternhaus tot aufgefunden hat.
Die Lösung war, dass der Mann in der Aufstellung zu seinem Onkel sagt: „Ich achte dein schweres Schicksal.“ Und: „Wenn ich mein Leben jetzt vollständig lebe und genieße, dann tue ich dies auch ein wenig dir zu Ehren! Und in deinem Angedenken“.

Vergleicht man dies mit dem Vorgehen in psychotherapeutischen Behandlungen, die sich auch bei kurzzeittherapeutischen Ansätzen vielleicht über 10 Sitzungen erstrecken und in anderen therapeutischen Ansätzen auch über Jahre andauern können, ist dies faszinierend. Es bedeutet, dass eine einzige Intervention ausreicht, um ein vielleicht schon jahre- oder jahrzentelang bestehendes Problem dauerhaft zu lösen[1].

Voraussetzung einer solchen heilsamen Wirkung einer einzelnen Intervention ist natürlich, dass der Klient in der Aufstellung den „inneren Vollzug“ der Lösung wirklich leistet. Was nicht ganz einfach ist. Weil es sein kann, dass sich zwar die Lösung zwar besser und freier anfühlt, aber auch sehr ungewohnt ist. Außerdem geht mit einer Lösung aus einer Verstrickung auch ein anderes Maß an persönlicher Verantwortung einher.

Jedenfalls gibt es im Familienstellen die (manchmal ausdrückliche, manchmal unterschwellige) Annahme, dass eine Intervention reicht, um ein seelisches Anliegen oder Leiden zu lösen. Die Annahme ist nicht, dass damit alle Probleme des betreffenden Menschen gelöst sind und dieser Mensch in einen Zustand andauernder Glückseligkeit verfällt ab diesem Moment[2]. Die Annahme ist aber, dass die aus der Verstrickung gelöste Seele dann in der Lage ist, die Probleme des Lebensvollzuges anzugehen und auf eine „erwachsene“ Art zu bewältigen. Was durchaus Arbeit bedeutet, mitunter jahrelange Arbeit.
Kurz gesagt: Die Aufstellung bewirkt eine andere innere Haltung beim Klienten. Und dieses innere Haltung macht ihm, dem Klienten, die produktive Lebensbewältigung mit allen Problemen, die dazu gehören, dann möglich. Wie er das im Einzelnen macht, liegt in der persönlichen Verantwortung des Klienten.

Es gibt im Familienstellen sogar die Annahme, dass es einer weiteren beratenden oder therapeutischen Begleitung nach der Aufstellung nicht bedarf. Noch zugespitzter: Eine „Nachbetreuung“ des Klienten ist nicht nur nicht nötig, sondern auch schädlich und verbietet sich somit. Weil der Therapeut / Aufstellungsleiter sich damit etwas anmaßt, was ihm nicht zukommt. Er möchte seinen „therapeutischen Erfolg“ gesichert sehen – was ein durchaus egoistisches, ego-getriebenes Motiv wäre – zu Lasten der Autonomie und damit der Würde des Klienten.

Im Extrem mag diese Einstellung etwas „puristisch“ sein. Im Einzelfall kann aus meiner Sicht eine nachfolgende beratende oder therapeutische Begleitung sinnvoll sein. Jedoch sollte jeder Berater und jeder Therapeut sich zurück ziehen, wenn der Eindruck entsteht, der Klient sucht nach einer begleitenden Unterstützung um den eigenen Vollzug einer einmal gewonnenen Lösung zu vermeiden. In diesem Fall würde eine intensive Nachbetreuung tatsächlich mehr Schaden als Nutzen anrichten und den Nutzen der Aufstellung im Nachhinein beschädigen.

Mehrfach Aufstellen – Indikatoren und Kontraindikatoren

Kehren wir zurück zur Frage: Wie sinnvoll ist es, als Klient etliche Aufstellungen zu machen? Nun, jeder Mensch hat seelisch und psychologisch „Baustellen“. Ich spreche hier bewusst in der Mehrzahl. Es kann z.B. sein, dass

  • es eine seelische Verstrickung in der Herkunftsfamilie gibt und daneben noch seelische Themen, die mit der Gegenwartsfamilie, also der Partnerschaft und dem Verhältnis zu den eigenen Kindern zu tun hat
  • es in der Herkunftsfamilie Belastungen und Gefährdungen für die seelische Gesundheit gibt, die einmal aus der mütterlichen Linie und einmal aus der väterlichen Linie herrühren und unterschiedlich gelagert sind
  • es „Baustellen“ in unterschiedlichen Lebensbereichen wie Arbeit, Partnerschaft, Gesundheit gibt, die nicht direkt miteinander verbunden sind in dem Sinne, dass sie Ausfluss derselben Verhaltenstendenz oder desselben Persönlichkeitsmuster sind

In solchen Fällen kann es sehr sinnvoll sein, diese in getrennten Aufstellungen auf ihre verborgene seelische Dynamik hin zu beleuchten. Allerdings ist es in den meisten Fällen ebenso sinnvoll, zwischen den Aufstellungen einige Zeit verstreichen zu lassen, vielleicht einige Monate oder ein Jahr. So dass sich die Lösung aus der einen Aufstellung überhaupt erst entfalten kann im persönlichen Lebensvollzug, bevor das nächste Thema in Angriff genommen wird.

Es kann auch sein, dass sich im Lebensverlauf unterschiedliche Themen sozusagen „einstellen“. Ein Mensch hat vielleicht irgendwann ein Thema in einer Aufstellung angeschaut und gelöst, zum Beispiel eine ursprüngliche „unterbrochene Hinbewegung“ zur Mutter. Es ergibt sich, als ein Resultat, nach einiger Zeit eine erfüllende Partnerschaft, die vorher so nicht möglich gewesen wäre. Und jetzt, in dieser stabilen Partnerschaft, entsteht die Situation, dass die Partnerschaft trotz beiderseitigem Kinderwunsch kinderlos bleibt. Das ist ein neues seelisches Problem von erheblicher Tragweite – dass aber ohne die Lösung der unterbrochenen Hinbewegung zur Mutter und der dadurch bedingten Partnerlosigkeit gar nicht erst entstanden wäre. Hier spricht natürlich überhaupt nichts dagegen, dass biografisch später entstandene Problem in einer neuen Aufstellung zu beleuchten.

Vorsicht geboten ist allerdings, wenn ein Klient zeitnah schon andere Aufstellungen gemacht hat und jetzt aufstellen möchte, weil

  • die sich zeigende Lösung in der vorherigen Aufstellung nicht den Wünschen oder Erwartungen entsprach
  • weil es die in einer vorherigen Aufstellung sich zeigende Lösung dem Klienten zu schwierig im Vollzug erscheint und er oder sie sich eine einfachere Lösung erhofft
  • das immer wieder neu Aufstellen dazu dienen soll, die eigentlich gebotene Lösung zu vermeiden

Aber auch hier kommt es sehr auf die genauen Umstände des Einzelfalls an. Eine zeitnahe Wiederholung einer Aufstellung auch mit exakt demselben Thema kann im Einzelfall trotzdem angezeigt sein. Etwa, wenn sich in der Zwischenzeit neue Informationen über schicksalshafte Ereignisse in der Herkunftsfamilie ergeben haben. So etwas wird ja oft lange im Familiensystem als Geheimnis gehütet.
Oder auch, wenn eine frühere Aufstellung ergebnislos abgebrochen wurde. Auch eine „gescheiterte“ Aufstellung wirkt in der Seele – und kann bewirken, dass jemand jetzt bereit ist für eine Lösung, für die er vorgestern oder vor zwei Monaten noch nicht bereit war.

 

[1] Das wäre schon allein gesundheitsökonomisch bemerkenswert, wenn man an die Kosten denkt, die psychotherapeutische Behandlungen im Gesundheitssystem produzieren.

[2] Solche Versprechungen überlassen wir innerhalb der Psychoszene gerne den „Erfolgstrainern“, Erweckungspredigern und religiösen Gurus.

Das wissende Feld – Teil 3

Im ersten Teil ging es um die stellvertretende Wahrnehmung im "wissenden Feld", im zweiten Teil um den Teil "Feld" im wissenden Feld. Im dritten und abschließenden Teil des Artikels wird es um das "Wissen" im wissenden Feld gehen.

Das „Wissen“ im wissenden Feld

Nehmen wir also einmal an, es gäbe eine Art von Feld, das irgendwie – auf eine im Detail noch nicht geklärte Weise – Informationen über seelische Dynamiken bereit stellt. Welcher Art sind diese Informationen? Hier wäre zunächst zu unterscheiden zwischen den unmittelbaren Wahrnehmungen der Stellvertreter und dem, worauf diese Wahrnehmungen deuten und verweisen.

Die unmittelbaren und spontanen Wahrnehmungen der Stellvertreter sind meistens von einer der folgenden Qualitäten:

  • Eine Körperempfindung (z.B. „Mir ist ganz kalt an der rechten Schulter“)
  • Eine Empfindung über das Sein einer Person (z.B. „Ich fühle mich hier schwach und nicht wirklich im Leben“)
  • Eine Orientierung bezüglich der Wahrnehmung (z.B. „Meinen Blick zieht es zu dem Fenster hier und zu dem Baum dort draußen“ oder „Ich sehe nur Ihn“ mit Bezug auf einen anderen Stellvertreter im Feld)
  • Ein Handlungsimpuls (z.B. „Ich möchte auf Sie zugehen“ mit Bezug auf eine andere Stellvertreterin)
  • Die Wahrnehmung einer Emotion (z.B. „Ich fühle eine große Trauer“)

So unterschiedlich dies auch sein mag, am Anfang einer Aufstellung ist es oft unklar, was die einzelnen Wahrnehmung der Stellvertreter bedeuten mögen. Dies wird meist erst im Fortschreiten der Aufstellung offenbar.

So kann etwa in einer Aufstellung eine Stellvertreterin für eine Frau, als erstes auf die Frage „Wie geht es dir?“ sagen: „Ich möchte mich verhüllen. Ich möchte nicht gesehen werden. Besonders von Männern nicht gesehen werden“ und deutet dabei auf einen anderen Stellvertreter in der Aufstellung. Gleichzeitig schaut sie auf einen bestimmten anderen Punkt im Raum, wo niemand steht. Angeregt durch Informationen im Vorgespräch zur Aufstellung stellt die Aufstellungsleiterin die Großtante, zunächst einmal probeweise, in die Aufstellung an genau diese Stelle. Sofort verändert sich die ganze Atmosphäre in der Aufstellung. Die Großtante was als junge Frau von ihrer Familie gezwungen wurde, in ein Kloster einzutreten und sie blieb somit ohne Beziehung zu einem Mann und kinderlos. Und das zentrale Thema der Aufstellung verdichtete sich letztlich in dem Satz der Anliegengeberin zu ihrer Großtante, die unfreiwillig im Kloster war: „Im Andenken an dein Schicksal und dir zu Ehren bleibe ich auch unverheiratet und kinderlos“.

Hier führt also die anfängliche Empfindung „ich möchte mich verhüllen“, gegen männliche Blicke verhüllen, zu dem eigentlichen Thema hin, ohne dass es am Anfang direkt klar ist, was das Thema ist, um das es geht.

Die Inhalte im wissenden Feld starten also zunächst einmal mit Eindrücken oder Empfindungen der Stellvertreter. Und das dahinter liegende Thema, auf das diese stellvertretenden Wahrnehmungen verweisen und das sich oft als Bild erst zeigt, wenn man die einzelnen stellvertretenden Wahrnehmungen wie Steine in einem Mosaik auffasst, hat zumindest im Bereich der Familienaufstellungen meist mit einem der folgenden drei Gegebenheiten zu tun:

1. Ausschluss aus dem System
Menschen, die zum Familiensystem gehören, wurden ausgeschlossen, im System behandelt wie nicht existent[1]. Und die Systemdynamik in Familiensystem drängt darauf, die Ausgeschlossenen wieder sichtbar zu machen.

2. Gestörte Ordnung im System
Wenn kleine Kinder einem Elternteil gegenüber in eine Erwachsenenrolle geraten, z.B. als Partnerersatz oder wenn bei Erbfragen etwa Kinder aus einer früheren Familie gegenüber den Kindern einer späteren Familie benachteiligt werden, dann liegt eine Störung der Ordnung im System vor und das Familiensystem versucht mit allerlei Symptomatiken auf diese Störung aufmerksam zu machen.

3. Nicht erfolgter Austausch und Ausgleich im System
Wenn Teile eines Familiensystems z.B. etwas besonderes leisten für das System, ohne dass diese besondere Leistung geachtet würde, dafür gedankt würde oder mit kleinen „Privilegien“ im System belohnt würde, dann liegt eine Störung im Gleichgewicht von Geben und Nehmen vor.

Das Wissen im wissenden Feld verweist oft auf Tatbestände, die über die autonomen Handlungsfelder des einzelnen Individuums hinausgehen. Es nimmt oft Verstrickungen, Identifizierungen, unbewusste Nachfolge in den Blick – um so etwas im System, also z.B. dem System der Herkunftsfamilie, zu heilen. Gemeint sind hiermit Phänomene, dass Nachgeborene im Verhalten oder im Schicksal unbewusst früheren Mitgliedern der Familie nachfolgen, ohne um diese Vorfahren und ihr Leben überhaupt zu wissen. Wenn etwa ein Nachfahre suizidale Tendenzen aufweist, die aus der eigenen Biografie nicht recht erklärbar sind, und er hierin einem Vorfahren nachfolgt, der sich umgebracht hat, dieses Ereignis aber in der Familie nie erwähnt wurde.

Das Wissen im Feld verweist auf die Dinge, wo uns das Leben „in den Dienst“ nimmt (wie es Bert Hellinger oft genannt hat) für etwas, was weit über die eigene Individualität und über das eigene Bewusstsein hinaus geht.
Und das macht uns natürlich erst einmal scheu. Wollen wir das? Wollen wir uns als „in den Dienst genommen“ erleben? Und: Wo bleibt denn da die Freiheit? Es gibt einen guten Grund dafür, dass Menschen sich dem, was in Aufstellungen geschieht, oft nur vorsichtig nähern.

Aber: Es gibt hier auch eine gute Nachricht. Dies „in den Dienst genommen“ werden ist keine Fronarbeit. Genau genommen ist es meist gar keine Arbeit. Es muss oft gar nichts Besonderes getan werden. Meist reicht es, zu wissen: So ist es. Oder: So war es. Da kommt es her. Damit bin ich verbunden. In dieser Einflusssphäre stehe ich. Wenn dieses Wissen nicht als intellektueller Inhalt im Kopf bleibt, sondern „zu Herzen genommen“ wird, ist dies meist der lösende Schritt im inneren Vollzug. Wenn es mehr zu einem Lebensgefühl denn einem rationalen Argument der Welterklärung wird. Erkennen, was ist und Anerkennen, was ist. Und innerlich „Ja!“ sagen zu dem, was ist. Mehr will das wissende Feld meist nicht von uns – wenn man überhaupt so reden darf, dass das wissende Feld etwas wolle, so als sei es eine Person.

Was man immer wieder beobachten kann: Das Anerkennen dessen, was ist, fühlt sich leicht an. Die Bürde, die mit dem Leben auch verbunden sein mag, wird leichter, nicht schwerer. Und der Mensch ist in aller Regel mehr „in seiner Kraft“. Er gewinnt ein Mehr an Spielraum für eigenständiges Handeln, wenn das Vergangene gesehen und gewürdigt wird. Es braucht dann das Vergangene nicht mehr blind und unbewusst wiederholt zu werden. Dieses "Mehr" an Freiheit ist zwar keine absolute Freiheit, wo gibt es die schon? Aber ist ist – immerhin – ein Zugewinn an Freiheit.

Die Grenzen des wissenden Feldes

Ist „das Feld“ allwissend? Das ist eigentlich eine sinnlose Frage. Es gibt aber manchmal – in der Anfangseuphorie – die Bestrebung, alles Mögliche aufzustellen. In der Hoffnung, hier etwas zu erfahren, was mit sonst so nicht zugänglich ist als Information. Und manchmal mit der heimlichen Hoffnung, das Feld möge mir mit seiner Antwort die Ver-Antwortung für eigenes Handeln und eigene Entscheidungen abnehmen. Und das wird eher nicht „funktionieren“. Um einmal akzentuierend einige absurde Anliegen für Aufstellungen zu skizzieren:

  • Kann ich die Lottozahlen für das nächste Wochenende aufstellen?
  • Wenn ich mich nicht entscheiden kann, wohin ich dieses Jahr in den Urlaub fahren will – kann ich das aufstellen?
  • Ich werde öfter bestohlen und habe jemand Bestimmten in Verdacht – kann ich das aufstellen, ob mein Verdacht wirklich stimmt?
  • Kann ich durch eine Aufstellung bewirken, dass beruflicher Erfolg (oder Geld, oder der „Traumpartner“ oder was auch immer) zu mir kommt?
  • Kann ich mein Verhältnis zu meinem Ex-Partner aufstellen, um zu zeigen, dass er Schuld ist an der Trennung und an meinen nachfolgenden Problemen?

Das ist es alles etwas überspitzt und bewusst absurd formuliert als Anliegen und wird natürlich nicht exakt so vorgetragen als Anliegen – wiewohl es manchmal in eine ähnliche Richtung geht. Aber ich möchte daran einige Aspekte des wissenden Feldes verdeutlichen.

Zum Lottogewinn: Erstens ist das Aufstellen im wissenden Feld kein Wahrsagen und keine Hellsichtigkeit. Aber wichtiger ist: Es geht bei den Informationen aus dem wissenden Feld (vermittelt über stellvertretende Wahrnehmung) um die Bewegungen der Seele. Der Seele der Person mit dem Anliegen. Und dabei darum, etwas zu sich zu nehmen, was zu mir gehört. Und somit „heiler“ im Sinne von vollständiger, „ganzer“ zu werden. Und der Lottogewinn gehört sicherlich nicht zu einer vollständigeren Seele. Eher im Gegenteil, er kann einen eher davon abhalten. Auf solche Fragen erhält man im Feld schlicht keine Antworten und man sollte das auch gar nicht erst versuchen.
Die Frage, die man sinnvoll an das Feld stellen könnte, wäre eher: Warum hakt es mit dem Erfolg – im weitesten Sinne – in meinem Leben? Das wäre eine zielführende Frage für eine Aufstellung.

Zur Urlaubsentscheidung: Der Versuch, eine Aufstellung für die „kleineren“ Anforderungen und Entscheidungssituationen im Leben zu instrumentalisieren, mit der Intention, die Entscheidung nicht selber treffen zu müssen, sie also an das Feld oder die Stellvertreter zu delegieren, ist aus meiner Sicht der versuchte Missbrauch der Methode. Auch hier wird sich das Feld – was immer das sein mag – verweigern. Anliegen für eine Aufstellung sollten schon ein gewisses „seelisches Gewicht“ haben, es sollte eine persönliche Dringlichkeit damit verbunden sein. Eine empfundene Not-Wendigkeit, also eine seelisch Not, die gewendet werden soll.
Sehr wohl aber könnte man hier z.B. die Frage aufstellen, warum habe ich generell Schwierigkeiten mit zu entscheiden? Wenn dies tatsächlich der Fall wäre. Und wenn dies eine bedeutsame Einschränkung der Lebensvollzüge der Person darstellen würde.[2]

Zur Diebstahlssituation mit Verdacht auf einen konkreten Täter: Ich denke grundsätzlich nicht, dass man mit Aufstellungen forensische Anliegen behandeln kann oder dies versuchen sollte. Dafür gibt es andere gesellschaftliche Instanzen, die dafür zuständig sind und die als solche auch gewürdigt gehören. Viel schlimmer ist aber aus meiner Sicht, dass dies der Versuch einer unzulässigen Einwirkung in das seelische Geschehen einer anderen Person (hier: des Verdächtigen) ist, aus einer egozentrischen Motivation heraus. Und: Es ist letztlich auch der Versuch, sich aus der unangenehmen Verantwortung zu stehlen, die verdächtigte Person mit dem Verdacht und den Hinweisen für den Verdacht (so es sie denn gibt) zu konfrontieren und bei noch deutlicherem Tatverdacht eben einfach Anzeige zu erstatten. Ich habe es noch nie erlebt, dass das Feld den Versuch unterstützten würde, sich aus der eigenen Verantwortung herauszustehlen. Eher im Gegenteil: Die Informationen aus dem Feld akzentuieren eher die Eigenverantwortung, stellen aber auch die entsprechende inneren Kraft zur Verfügung, diese Verantwortung zu tragen. Das ist der Entwicklungsweg, der andere Weg führt in die Irre.

Zum Anziehen von erwünschten Lebensumständen: Eine Aufstellung ist kein magisches Ritual, das mir erwünschte Lebensumstände heraufbeschwört. Gesetzt den Fall, so etwas ginge, wäre es eher ein Pakt mit dem Teufel, den man ja, wie wir seit Dr. Faust wissen, mit der Seele bezahlt. So zumindest erzählen es die mythologischen Geschichten.[3]
Auch hier wäre, wie schon im Beispiel mit dem Lottogewinn, die Frage zu transformieren. Und oft steht hinter solchen Anliegen die Frage: Kann ich mein Leben vollständig nehmen? So wie es ist, mit allem, was es mich und andere kostet und gekostet hat? Und wenn wir die Frage so stellen, landen wir meist direkt beim Kernthema der klassischen Familienaufstellung, dem Nehmen des Lebens von den Eltern, so wie sie waren. (Und nicht so, wie ich sie gerne gehabt hätte). In diesem Sinne gewendet: Ja, das wäre dann ein sinnvolles Thema für eine Aufstellung. Aber in der Ausgangsform? Eher nicht!

Zum schuldigen Ex-Partner: Generell ist höchste Vorsicht geboten, wenn ein Anliegen formuliert wird, bei dem eine bestimmte Sicht, ein Vor-Urteil der Person, bestätigt werden soll.
Tatsächlich wäre eine sinnvolle Frage für eine Aufstellung eher: Wie genau bin ich mit meinem Ex-Partner seelisch noch verbunden? Und was bin ich ihm oder er mir noch schuldig? Und nebenbei: Wenn ich meinem Ex-Partner innerlich noch etwas nachtrage, dann bin ich mit Sicherheit noch mit ihm seelisch verbunden. Und welche Rechnungen hier in der Seele noch offen sind und wie sie beglichen werden können, das kann tatsächlich durch eine Aufstellung geklärt werden. Aber: Die Bilanz kann sich als ganz anders gelagert herausstellen, als vermutet. Zu einem solchen Anliegen kann man als Aufstellungsleiter also nur sagen: Wir können uns das anschauen. Aber: Be prepared to be surprised! Ohne diese Bereitschaft, sich überraschen zu lassen, sollte man eine Aufstellung nicht durchführen.

Ein Fazit?

Wenn wir ganz ehrlich sind, müssen wir sagen: Wir wissen nicht wirklich, was genau das wissende Feld ist und warum es sich durch die stellvertretende Wahrnehmung mitteilen kann.

Wir können aber trotzdem damit arbeiten, weil wir inzwischen über einiges an Erfahrungswerten verfügen, welche Art von Anliegen hier sinnvoll gestellt werden können und welchen Rahmen es braucht, damit die stellvertretende Wahrnehmung im wissenden Feld wirken kann.

Und diese Wirkung ist das Kriterium. Bin ich nach einer Aufstellung vollständiger in meiner Seele? Bin ich mehr in meiner Kraft? Und das kann man – meist – unmittelbar wahrnehmen.

Fußnoten:

[1] In diesem Zusammenhang ist der Ausdruck „totschweigen“ sehr beredt, wenn man dem sprachlich einmal wirklich „nachschmeckt“.
[2] Nebenbei bemerkt: Wenn es darum geht, die eigene unbewusste Einstellung zu einer Entscheidung deutlich werden zu lassen im Vergleich zu dem, was mein Verstand darüber denkt, dann gibt es dafür andere und einfach Methoden wie z.B. den Muskeltest.
[3]Eine andere Variante dieses Themas findet sich in der Harry Potter Saga von J.K. Rowling. Tom Riddle, der spätere Lord Voldemort, spaltet hier insgesamt sieben mal einen Teil seiner Seele ab im Tauschgeschäft für einen Zugewinn an (schwarzmagischer) Macht. Wer die Saga kennt, weiß, wie attraktiv das resultierende Seelenleben des dunklen Lords sich dann gestaltete.

Das wissende Feld – Teil 2

Nachdem im ersten Teil dieses dreiteiligen Artikels zum "wissenden Feld" die stellvertretende Wahrnehmung als Ausdruck des wissenden Feldes beleuchtet wurde, geht es hier jetzt um das Feld selber. Nämlich um den Feld-Teil in der Bezeichnung "wissendes Feld". Im dritten und letzten Teil wird es dann um den Wissens-Teil in dem Begriff gehen.

Das „Feld“ im wissenden Feld

Damit die Wahrnehmung von seelischen Dynamiken durch Stellvertreter sich entfalten kann, werden die Stellvertreter "aufgestellt" und somit in einer bestimmten Weise zueinander angeordnet, oft inmitten eines Kreises von beobachteten Zuschauern. Und dieses aufgestellt werden von Personen, die für etwas ihnen fremdes stehen, von dem sie nur wenig wissen, kreiert im Zusammenwirken mit der Aufstellungsleitung ein psycho-soziales Feld, das wir im Rahmen der Aufstellungsarbeit das "wissende Feld" nennen. Hier beziehen die Stellvertreter ihre Informationen und Eindrücke und letztlich bezieht die Aufstellungsleitung hier ihre Fragen an die Stellvertreter oder ihre Vorschläge für "lösende Sätze" an die Stellvertreter.
Was hat es nun mit dem Feld im Begriff des „wissenden Feldes“ auf sich? Der Ausdruck geht auf Dr. Albrecht Mahr zurück, der aber immer wieder betont hat, dass es sich hier nicht wirklich um einen wissenschaftlichen, sondern eher um einen poetischen Ausdruck handelt.

Wenn wir von einem „wissenden Feld“ reden, dann erinnert der Feld-Teil in der Bezeichnung an andere Felder. Magnetische Felder zum Beispiel sind in der Lage, Eisenspäne auf einem Blatt Papier in Richtung der magnetischen Feldlinien auszurichten. Daran erkennen wir überhaupt erst das magnetische Feld und die Richtung der Feldlinien, entlang derer dann messbare Kräfte wirken. Ohne das Medium von Eisenspänen auf Papier wäre das magnetische Feld für uns nicht sinnlich warhnehmbar. Ähnlich bewegen elektrische Felder geladene Teilchen entlang der Feldlinien. Gravitationsfelder beeinflussen Körper und ihre Bewegungen, sorgen also zum Beispiel für die gekrümmten Bahnen, auf denen Himmelskörper sich bewegen. Und in elektromagnetischen Feldern passiert es, dass geeignete Schwingkreise in Resonanz geraten – und es entsteht Sprache oder Musik in der Form eines empfangenen Radioprogramms.
Allgemein spricht man in der Schulphysik von Feldern als Trägern von Energie, die Wechselwirkungen zwischen Teilchen und Körpern übertragen und vermitteln ohne direkten Kontakt wie etwa Stoß oder Reibung.
Auch physikalischen Feldern ist es also eigentümlich, dass wir die Felder selber nicht sinnlich wahrnehmen können, sondern nur die Kräfte und Wirkungen, welche diese Felder ausüben auf etwas, was in dieses Feld gerät. Dann sagen wir: Da wirkt etwas als Kraft auf eine Materie – also muss es ein Feld geben, welches dieses Kraft bereit stellt und vermittelt.

All dies sind erst einmal nur Analogien. Die Analogien besagen: Es ist kein so ungewöhnliches Phänomen, dass eine Wirkung auf etwas von etwas anderem ausgewirkt wird, ohne dass ein direkter Kontakt besteht. Und das wäre die Annahme, die in der Redeweise vom wissenden Feld enthalten ist: Es gibt seelische Kräfte und Bewegungen in jedem von uns, die wirken, ohne dass wir etwas über ihre tatsächliche Struktur und innere Natur wissen müssen. Die Wirkungen dieser Kräfte, wie wir sie über die stellvertretende Wahrnehmung erfahren, zeigen etwas über das Feld, dass hier wirkt. Es wird etwas sichtbar, was sonst verborgen bliebe – weil wir keine unmittelbare sinnliche Wahrnehmung dafür haben. Wenn es aber einmal sichtbar ist, können wir die Information nutzen, so wie in der Seefahrt ein Kompass zu Navigation benutzt werden kann, auch wenn der nutzende Seefahrer wenig über die physikalischen Gesetze des Magnetismus oder die Eigenheiten des Erdmagentfeldes, das hier genutzt wird, weiß.
(Allerdings, dazu mahnt das zuletzt benutzte Bild eben auch: Sehr wohl muss der Seemann zur Navigation etwas über Ausmaß und Richtungen der Missweisung einer Kompassnadel wissen, die sich daraus ergibt, dass magnetischer und geografischer Nordpol nicht zusammenfallen, dieser Unterschied auch nicht stabil in der Zeit ist und je nach Position und Kurs höchst unterschiedlich bedeutsam sein kann. Und ebenso muss er sein Handwerk, die Seefahrt selber, das Manövrieren von Wasserfahrzeugen, die Einflüsse von Wetter und Strömungen, die Regeln der Navigation usw. beherrschen.)

Bleiben wir mit Albrecht Mahr dabei, dass es sich hier um eine poetische (bildhafte, assoziative) Beschreibung handelt, so kann die Redeweise vom wissenden Feld über die Analogien und Vergleiche zu anderen Feldern es für den Verstand leichter machen, anzuerkennen, dass Menschen fremde seelische Impulse empfinden und ausdrücken können, ohne viel über diese Menschen oder die tatsächlichen Geschehnisse z.B. in deren Herkunftsfamilie zu wissen.

Das wäre also das Wichtige an dem Feldbegriff im wissenden Feld: Es wird leichter vorstellbar, dass die stellvertretende Wahrnehmung, die „Besetzung“ durch fremde Impulse oder Emotionen, vielleicht ein wirklich natürlicher Vorgang sein könnte. Und das vielleicht daran wenig Spukhaftes oder „Magisches“ anhaftet. So wie wir es auch nicht als „magisch“ Empfinden, das die Klangproduktion eines ganzen Symphonieorchesters aus einem kleinen technischen Gerät heraus ertönt, obwohl kein Orchester am Ort zugegen ist und es sicherlich nicht in das Gerät hineinpassen würde.
Für einen Menschen aus einer anderen Zeit oder Kultur, der nie mit Radioempfang in Berührung kam, aber schon Musikorchester kennt, müsste es dagegen zwangsläufig als eine Form von Magie erscheinen.

Tatsächlich ist es meistens so, dass das Erleben als Stellvertreter im Feld sich normal, fast alltäglich, anfühlt. Es ist meist nichts Besonderes, geschweige denn Dramatisches dabei. Und im Erleben meist auch nicht viel „Geheimnisvolles“. Im Gegenteil: Viele Eindrücke als Stellvertreter sind eher beiläufig. Also: Während man als Stellvertreter agiert, gibt es keinen Anlass zum Wundern. Das Wundern – und auch das Zweifeln – passiert erst im Nachhinein, wenn ich anfange, darüber nachzudenken. Wenn ich mich frage: Wie kann das sein?

Und hier ist es dann wirklich ähnlich, wie beim Radioempfang: Die alltägliche Nutzung geschieht in der Regel beiläufig und mit größtmöglicher Selbstverständlichkeit. Erst wenn ich anfange, mir das WIE genauer vorzustellen, all die vielen Transistoren und Schaltkreise, die Bewegungsformen von Elektronen in Leiterbahnen, die Transformation dieser Bewegungen von Elementarteilchen in für menschlicher Ohren wahrnehmbare Schallfrequenzen, die dann auch noch in Form von Sprache oder Musik Bedeutung tragen – DIES kann einen dann schon wieder zum Staunen und zu ein wenig Ehrfurcht vor den Leistungen des menschlichen Geistes und der Technik bringen. Aber wie gesagt: Solange ich nicht darüber nachdenke, ist hier kein Staunen, sondern größte Selbstverständlichkeit und Beiläufigkeit in der Nutzung.

Das wissende Feld – Teil 1

Stellvertretende Wahrnehmung im wissenden Feld

Projektive Fremdwahrnehmungen, höhere Weisheit, spukhafte Fernwirkungen – oder einfach Einbildungen naiv Gläubiger?

In einer Aufstellung, sei es in einer klassischen Familienaufstellung oder auch in anderen Varianten der Aufstellungsarbeit, nutzen wir die sogenannte „stellvertretende Wahrnehmung“. In einem einfachen Fall bedeutet dies z.B. : Eine Teilnehmerin in einer Gruppe wird im Raum an einen bestimmten Platz gestellt und ihr wird gesagt: „Du bist die Stellvertreterin für die Mutter von Jutta“. Jutta ist hier ein – frei erfundener – Name für eine andere Gruppenteilnehmerin, die ihre Herkunftsfamilie aufstellen möchte. Im Raum stehen vielleicht noch andere Stellvertreter, etwa eine Stellvertreterin für Jutta selber und für ihren Vater, vielleicht auch noch für ihre Geschwister. Und nach einer gewissen Zeit sagt die Stellvertreterin für Juttas Mutter: „Ich habe eine Stinkwut auf meinen Mann!“. Und man kann sehen, dass die Stellvertreterin diese Emotion tatsächlich erlebt, die Körperhaltung und die Gesichtszüge drückte Wut aus. Wir nehmen weiter an: Es hat vorher keinerlei Information darüber gegeben, ob und in welcher Weise Juttas Mutter guten Grund hätte, auf Juttas Vater wütend zu sein.

Ein solches Phänomen ist der Normalfall in Aufstellungen. Jemand steht stellvertretend für eine ihm fremde und völlig unbekannte Person – und nach eine kurzen Zeit stellt sich beim Stellvertreter ein Emotion oder eine körperliche Reaktion oder ein Bewegungsimpuls oder allgemeiner eine Empfindung ein. Und zwar ohne dass diese Erlebnisse beim Stellvertreter durch vorausgegangene Informationen erklärlich wären. Und oft tauchen im Nachhinein Informationen auf, welche die Reaktion der Stellvertreter einleuchtend erscheinen lassen.
Natürlich ist das nur der Ausgangspunkt einer Aufstellung – aber es liefert das Material, mit dem in der Aufstellung gearbeitet wird.

Die Frage, die sich hier stellt, ist natürlich: Wie ist das möglich? Wie kann eine Stellvertreterin in einer sehr lebendigen Form eine sehr real erlebte Empfindung haben, die zu einer ihr völlig fremden Person gehört, über die sie nichts weiß? Eine offensichtliche Erklärung wäre natürlich: Die Stellvertreterin in der Aufstellung möchte irgendwie „brav“ mitspielen und sie spürt den Erwartungsdruck der Gruppe und nicht zuletzt von Jutta, der Teilnehmerin mit dem Anliegen, etwas Eindrückliches zu produzieren. Also spekuliert ein innerer Teil der Stellvertreterin, welches Gefühl diese Ehefrau und Mutter haben könnte und wem gegenüber. Und Wut gegen den Ehemann ist eine nicht so fern liegende Spekulation. Danach produziert die Psyche der Stellvertreterin ein authentische Erleben von Wut (jeder von uns war schon einmal wütend und weiß daher, wie das geht) in einem Prozess einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Und dann werden im Nachhinein Fakten aus der realen Person und realen Familie gefunden (oder zur Not auch erfunden), welch zu dieser Emotion Wut passen.
Eine solche Erklärung wird jeder Skeptiker der Aufstellungsmethode gegenüber leicht finden können. Und diese Erklärung wäre im geschilderten Fall auch nicht ganz von der Hand zu weisen.

Drei Beispiele für stellvertretende Wahrnehmung

Wie gesagt: Die „Null-Hypothese“ von Aufstellungs-Skeptikern, die sogenannte „stellvertretende Wahrnehmung“ sei im Wesentlichen auf Prozesse der Selbstsuggestion bei den Stellvertretern zurückzuführen, soll hier erst einmal als durchaus mögliche Erklärung gültig bleiben. Das die Stellvertreter tatsächlich etwas empfinden und ausdrücken, was in den Erlebensbereich der vertretenen Person gehört, wäre dann die „Alternativhypothese“.

Bevor wir hier weiter fortschreiten in den Überlegungen zur stellvertretenden Wahrnehmung und dann zum eigentlichen Thema, dem Begriff des „wissenden Feldes“ kommen, seien drei Erlebnisse der Autors im Rahmen von Aufstellungen geschildert, um es etwas plastischer zu machen:

Der verlorene Arm

Vor etlichen Jahren nahm ich als Stellvertreter an einer Familienaufstellung teil. Ich stand für den Großvater der Frau, die ihre Herkunftsfamilie aufstellte. Und um es gleich zu sagen: Der Großvater spielte keine Rolle bei dem Geschehen, um das für die Frau mit dem Anliegen ging. Er war schlicht nicht wichtig für diese Aufstellung und hätte nicht Teil der Aufstellung sein müssen[1].

In der Aufstellung selber passiert auch bei mir als Stellvertreter nichts Bemerkenswertes. Mir ging es gut an meinem Platz. Ich hatte natürlich zu manchen Familienmitgliedern engeren Kontakt als zu anderen, manche schaute ich häufiger an als andere. Wenn ich befragt wurde von der Aufstellungsleiterin, wie es mir denn ginge, antwortete ich entsprechend. Und was auch immer ich sagte, spielte für die Aufstellung keine Rolle, das Drama spielte sich an anderen Stellen und in anderen Stellvertretern ab.

Aber gegen Ende der Aufstellung geschah etwas – zunächst nur unterschwellig, dann etwas stärker werdend: Ich bekam ein leicht taubes Gefühl in meinem rechten Arm. Ich spürte ihn nicht mehr – wie wenn ich ihn nicht hätte. Und dies Taubheit im rechten Arm hielt auch noch nach der Aufstellung an. In der anschließenden Besprechung der Aufstellung äußerte ich dies, worauf die Frau mit dem Anliegen sehr aufgeregt sagte: „Ach, das habe ich vorhin gar nicht erwähnt, mein Großvater war im 2. Weltkrieg an der Ostfront und hat dort seinen rechten Arm verloren“.

Zwischen uns ist Mord

In einer anderen Aufstellung war ich Stellvertreter und ich wusste nicht, für wen ich eigentlich stehe. Die Aufstellungsleiterin hatte es angekündigt als „verdeckte Aufstellung“, also ohne irgendwelche Information. Und sie stellt mich und einen weiteren Stellvertreter auf, wir standen uns im Raum im Abstand von ca. 3 m gegenüber. Wir wussten beide sonst nichts.
Relativ schnell passierte etwas: Wir starrten uns beide an mit einer großen Intensität. Und in mir entstand der Satz – es war wirklich mehr ein gesprochner Satz denn ein Gedanke – „zwischen uns ist Mord“. Und im Erleben war dies eine Bindung zwischen uns zwei Personen von einer enormen Intensität. Aber eben mit dem ganz klaren Gefühl: Das was uns verbindet, ist Mord. Ich wusste nicht, ob ich als Stellvertreter der Mörder oder der Ermordete war. Es war aber für mich in der Stellvertreterrolle auch völlig gleichgültig. Alles war bestimmt von dem überwältigendem Erleben, mit diesem Menschen für alle Zeiten auf das intensivste verbunden zu sein.
Nach Beendigung der Aufstellung wurde die Information gegeben: Die Person, für die ich stand, war ein Rechtsanwalt in der Frühphase des Nationalsozialismus, der versuchte, die in den GeStaPo-Kellern Verschwundenen rechtlich zu vertreten. Die andere Person war sein Vetter, ein frühes NSDAP-Mitglied und Mitglied der GeStaPo. Und in der Familie ging – obwohl nie offen ausgesprochen, aber immer mal wieder angedeutet – das Gerücht, dieser Vetter habe seinen Vetter (den Anwalt) anlässlich eines der Besuche bei der GeStaPo selbe in einem der Keller festgesetzt und dort ermordet. Gesichert war nur, dass der Anwalt eines Morgens wie schon häufiger zu einer Dienststelle der GeStaPo mit einer Aktentasche aufgebrochen war, um sich nach dem Verbleib eines Verschwundenen aus der Nachbarschaft zu erkundigen und nach Möglichkeit diesen anwaltlich zu vertreten. Er kehrte nie zurück und was seit diesem Tag verschwunden, sein Verbleib oder sein Schicksal wurden nie offiziell geklärt.

Atemnot

In einer anderen Aufstellung waren u.A. Stellvertreter für die Mutter, eine Tante und die Großmutter des Anliegengebers vertreten, die Anfang 1945 auf der Flucht aus Ostpreußen waren. Die Großmutter war in den Wirren der Flucht vom Rest der Familie getrennt worden und seit dem verschollen, vermutlich tot.
Die Stellvertreterin der Großmutter brach in der Aufstellung recht schnell zusammen und lag dann am Boden. Dort, am Boden liegend erlitt sie einen dramatischen Anfall von Atemnot – und der war nicht „gespielt“. Ich erinnere mich noch, dass ich dachte, sie hätten einen akuten und bedrohlichen Asthmaanfall.
Spätere Nachforschungen in der Familie durch den Anliegengeber ergaben, dass es Hinweise (wenn auch nicht exakte Sicherheit) gab, dass die Großmutter es vermutlich als eine der Letzten auf die „Wilhelm Gustloff“ geschafft hatte. Die Wilhelm Gustloff war ein von der Kriegsmarine eingesetztes ehemaliges Kreuzfahrtschiff, dass Ende Januar 1945 mit geschätzt 10.500 Menschen (Verwundete und Flüchtlinge) an Bord versenkt wurde, wobei nur 1.200 Menschen gerettet werden konnten. Dieser Aspekt, dass seine Großmutter vermutlich beim Untergang der Wilhelm Gustloff ertrunken ist, war dem Anliegengeber zum Zeitpunkt der Aufstellung nicht bekannt und war bis dahin in der Familie ihm gegenüber nie erwähnt worden.

Zur Normalität und Alltäglichkeit von stellvertretenden Wahrnehmungen

Die drei geschilderten Beispiele sind mehr oder weniger dramatisch. Die meisten stellvertretenden Wahrnehmungen im Feld sind es nicht. Oder besser: Sollten es nicht sein. Die typische stellvertretende Wahrnehmung ist eher subtil. Es sind leichte Empfindungen von z.B. „ich stehe hier etwas schwankend“ oder „wenn ich da hinschaue, empfinde ich etwas wie Wut“ oder „meinen Blick zieht es immer zum Fenster“. Solche stellvertretenden Wahrnehmungen werden oft recht unbeteiligt geäußert, ohne große innere emotionale Beteiligung. Es ist so, wie wenn man sagt: „Mir fällt gerade auf, dass du rote Schuhe an hast. Bislang habe ich das gar nicht (bewusst) bemerkt“. Was für sich genommen in den meisten Kontexten bedeutungslos ist.

Ich schrieb: Im Normalfall sollten stellvertretende Wahrnehmungen zumindest erst einmal diese eher beiläufige Qualität haben. Warum? Weil es in der Aufstellungsarbeit nicht darum geht, dass die Stellvertreter solche Empfindungen dramatisch ausleben. Das wäre Psychodrama, eine ganz andere Art psychologischer Intervention. Für die Aufstellungsarbeit reicht die Mitteilung. Hier gibt es etwas, und das ist so-und-so beschaffen. Kurz, sachlich, ohne Wertung, ohne Spekulation über die Hintergründe.

Von der inneren Haltung der Stellvertreter gleicht es eher dem, was man auch aus der Meditation kennt: Man kommt zur Ruhe – und beobachtet seine Gedanken. Und jetzt haben wir zwei Prozesse gleichzeitig: Einerseits die Gedanken, die aufsteigen („Ich muss aber ganz dringend noch Herrn Kellermann anrufen“ oder „Ich habe jetzt eigentlich gar keine Zeit dafür, ich muss unbedingt und ganz dringend die lange versäumte Steuerklärung abgeben“) – und gleichzeitig haben wir einen inneren Beobachter, der einfach nur feststellt: Aha, hier steigt jetzt dieser Gedanke oder jenes Gefühl auf, und es hat bestimmte Qualitäten, und nach einer Weile vergeht es auch wieder und wird durch andere Gedanken und Gefühle abgelöst. Und der innere Beobachter der Gedanken und Gefühle wahrt einen gewisse Distanz, ist nicht emotional involviert – sonst ist er kein innerer Beobachter, sondern ein ganz anderer innerer Teil von mir.

Zurück zur Aufstellungsarbeit: Viele stellvertretende Wahrnehmungen sind also für sich genommen nicht dramatisch, sondern eher beiläufig. Und wenn es zu sehr oder zu schnell dramatisch wird, ist es für die Aufstellungsleitung eher ein Hinweis, dass es sich nicht um stellvertretende Wahrnehmung handelt, sondern um das Ausagieren von Themen der Stellvertreter – in diesem Fall müsste man die Stellvertreter entweder bremsen oder austauschen.

Aber wie wirkt nun diese stellvertretende Wahrnehmung tatsächlich oder besser: Wie kann man es beschreiben? Nun: Wir könnten sagen, es handelt sich um eine milde Form der Besetzung. Vielleicht sogar: Eine milde Form der Besessenheit. Als Stellvertreter im Feld „befällt“ mich etwas von außen, etwas was erst einmal nicht zu mir gehört, und über das ich nichts weiß. Aber ich kann es spüren, habe eine sinnliche Wahrnehmung dazu und kann es als einfachen Aussagesatz ausdrücken.

Nun hört sich das Wort "Fremdbesetzung" oder gar "Besessenheit" erst einmal erschreckend an. Man könnte Gedanken an bizarre Exorzismusrituale bekommen oder an naive Geistergläubigkeit, die manchmal durchaus psychotische Züge annehmen kann. Und wem ist schon wirklich wohl bei der Vorstellung, von einer fremden geistigen Kraft befallen zu sein? Tatsächlich ist der Prozess aber viel alltäglicher und undramatischer.
Beschreibend könnten wir sagen: Als Stellvertreter in einer Aufstellung stehen wir im Feld und nach einer gewissen Zeit, vielleicht nach 30 Sekunden oder nach zwei Minuten (oder vielleicht auch schon praktisch unmittelbar, das variiert) überkommt uns etwas. Eine körperliche Empfindung, ein Gefühl, ein in der Wahrnehmung auf einen bestimmten Punkt ausgerichtet werden – was auch immer. Und dieses „etwas“ sitzt sozusagen locker auf mir drauf. Ich kann mich jederzeit wieder davon lösen, es abschütteln, wenn die Aufstellung zu ihrem Ende gelangt. Das ist zumindest der Regelfall.

Und der Prozess ist nicht anders, als wenn wir in ein Buch oder in einem Film vertieft sind. In dem Moment leben wir im Wortsinne in der Geschichte. Wir leiden mit den Protagonisten, erleben ihre Erfolge und Kämpfe als die unseren, teilen ihre Erwartungen und Enttäuschungen usw. Kurz: Wir gehen in Resonanz mit einer – erst einmal – fremden Geschichte. Wir sind von ihr „gefangen genommen“, sie hat uns gepackt. Aber: Wir können jederzeit aussteigen. Wenn das Telefon läutet, während wir ein im Wortsinne „fesselndes“ Buch lesen, können wir jederzeit die Lektüre unterbrechen, uns in unsere „normale“ Realität reorientieren, den Anruf entgegennehmen und mit unserem üblichen Ich agieren. Der Wechsel der Erlebensrealitäten erfordert nur wenige Sekunden uns ist Normalfall mühelos zu bewältigen.

Natürlich gibt es Fälle, wo die Re-Orientierung etwas länger dauert, bestimmte Stimmungen und Motive noch nachschwingen und wir „noch nicht so ganz“ wieder „da“ sind, während wir in den Alltagskontext wechseln. Aber das ist so, wie wenn ein Besucher einer Operettenaufführung auf dem Nachhauseweg ein prominentes musikalische Motiv dieser Operette vor sich hinpfeift. Und vielleicht pfeift er es auch am nächsten Morgen unter der Dusche. Auch hier schwingt etwas innerlich nach. Aber das ist ebenso unproblematisch wie letztlich banal. Es lässt nicht die Vorstellung aufkommen, hier wäre jetzt eine „Teufelsaustreibung“ oder ein Geisterbeschwörungsritual nötig.

So weit erst einmal zur stellvertretenden Wahrnehmung in der Aufstellungsarbeit. Die stellvertretende Wahrnehmung ist der gemeinsame Kern der Aufstellungsarbeit, egal welche unterschiedliche Methodik man innerhalb dessen haben mag und in welchen Kontexten und mit welchen Themen man diese Arbeit verwendet.Wir schließen hiermit den ersten Teil ab.
Es stellt sich natürlich die Frage: In welchem Rahmen tritt denn diese stellvertretende Wahrnehmung überhaupt auf? Offensichtlich normalerweise nicht im Rahmen unserer normalen Alltagsaktivitäten. Sondern dazu verwenden wir eben das Aufstellen von Stellvertretern, die allein durch das aufgestellt werden ein Feld kreieren, in dem dann die stellvertretende Wahrnehmung sich mitteilt. Im Rahmen der Aufstellungsarbeit hat sich eingebürgert, hier vom "wissenden Feld zu reden". In beiden nächsten Teilen geht es um genau dieses "wissende Feld".

  • In Teil 2 geht es um das Feld im wissenden Feld
  • In Teil 3 geht es um das Wissen im wissenden Feld

[1] Als Anmerkung: Die Aufstellung war eine – wie ich es heute nennen würde – „klassische“ Familienaufstellung in der Form, wie sie von Bert Hellinger im Rahmen der „Ordnungen der Liebe“ in Familiensystemen entwickelt wurde. Dabei stellt man immer alle zur Familie gehörenden Mitglieder mit Stellvertretern auf – unabhängig davon, ob sie wichtig für das zu klärende Anliegen waren oder nicht.