Unsere Gefühle – Unsere Kinder

Meist ist es ja so, dass wir uns gedanklich eher mit den unangenehmen Gefühlen beschäftigen. Die angenehmen Gefühle genießen wir einfach im günstigsten Fall, aber wir würden sie nicht problematisieren oder gar versuchen, sie zu verändern.

Ich hatte kürzlich eine Aufstellung, bei der neben der Protagonistin drei Gefühle aufgestellt wurden, nämlich die Angst, die Wut und die Ohnmacht. Die Zusammenstellung genau dieser drei Gefühle ist für sich schon interessant. Sie repräsentieren drei grundlegenden Reaktionsformen auf eine anhaltende und überfordernde Stressbelastung, nämlich Flucht, Kampf oder Depression (Flight, Fight, Freeze).

Bemerkenswert an dieser Aufstellung war, dass die Stellvertreterin gegen Ende der Aufstellung, als es sich in Richtung Lösungsbild entwickelte, mit Blick auf die drei Gefühle sagte: „Es fühlt sich an, als ob ich die Mutter bin. Und dies sind meine Kinder. Ich möchte sie am liebsten in den Arm nehmen.“ Und das ist ja nun wirklich nicht der erste Impuls, der einem käme, die eigene Angst und Wut und Ohnmacht umarmen zu wollen.

Mich bringt dies zu dem Gedanken, ob es nicht wirklich so ist, dass diese Gefühle, auch die unangenehmen und belastenden, unsere Kinder sind.

Gefühle als Kinder

Es ist mit den Gefühlen ja tatsächlich so wie mit den Kindern. Wir bringen sie in die Welt, sie entstehen durch unser Leben und durch unsere körperlichen Prozesse. Und einmal auf der Welt, entwickeln sie aber ein Eigenleben, eine gewisse Autonomie, sind nur begrenzt durch uns kontrollierbar. Gefühle wie Kinder sind letztendlich Ausdruck des Lebens. Und das Leben kann nicht kontrolliert, sondern nur gelebt werden. In einem bekannten Gedicht von Khalil Gibran heißt es über die Kinder: „Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.“ Und weiter gibt es die Zeile: „Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.“ Wie gesagt, Gibran redet hier in Versform an die Eltern und er redet über die Kinder dieser Eltern. Aber könnte man dasselbe nicht auch über unsere Gefühle sagen?

Gefühle und die inneren Kinder

Aber noch in einem anderen Sinne trägt die Analogie, welche die Stellvertreterin in der Aufstellung fand. Intensive Gefühle, besonders die sog. „negativen“, erwecken eine Erinnerungsspur in uns, auch wenn das nicht immer bewusst wird. Aus dieser Erinnerungsspur gewinnen sie ihre Ladung.

In jeder aktuellen Angst schwingen als die Situationen mit, in denen wir als Kind (berechtigte) Angst hatten. In jeder Wut aktualisiert sich die Situation des abhängigen Kindes, das wir einmal waren, dessen Grenzen nicht gewahrt wurden oder dessen grundlegende Bedürfnisse missachtet wurden. In jedem Ohnmachtsgefühl spiegelt sich die Hilflosigkeit des kleinen Kindes den Größeren und Stärkeren gegenüber.

Kurz: In jedem dieser Gefühle meldet sich das innere Kind. Manchmal ist dieses innere Kind vier Jahre als, manchmal sieben oder manchmal auch nur ein halbes Jahr alt. Aber immer spielen die Spuren der damaligen Erlebnisse in unsere heutigen Reaktionen hinein, gerade bei den unerwünschten Gefühlen. Das innere Kind meldet sich dann, in aller Intensität, zu der gerade Kinder im Ausdruck ihrer unmittelbaren Gefühle noch fähig sind.

Beide Aspekte führen aber zu derselben Schlussfolgerung. Es wäre ratsam, gerade die unangenehmen Gefühle so zu behandeln, wie wir als Erwachsene ein verschrecktes oder wütendes oder hilfloses Kind behandeln würden: Mit aufmerksamer Zuwendung und in dem wir dem Gefühl (und damit dem inneren Kind) ein Zuhause geben, indem es sein darf.