Ich habe einmal gehört, dass es einen afrikanischen Stamm gibt, dessen übliche Begrüßungsformel, also das, was bei uns einem „Guten Tag“ oder ähnlichem entspricht, wörtlich übersetzt ins deutsche lauten würde: „Ich sehe dich“. Und derjenige, der es mir erzählte, erläuterte dazu, in diesem Stamm gebe es die Vorstellung, wenn jemand von den anderen Stammesmitgliedern nicht gesehen wird, dann gibt es diese Person auch nicht wirklich. Daher ist diese Formel „Ich sehe dich“ auch eine Versicherung der Existenz des so Angesprochenen.
In diesem dritten Teil der kleinen Serie über seelische Urwunden geht es um das „nicht wirklich gesehen werden“ oder auch um das wenig beachtet werden. Die seelischen Urwunden, um die es in dieser Beitragsserie geht, entstehen meist in der frühen Kindheit. Es geht dabei um grundlegende Bedürfnisse für eine gedeihliche Entwicklung, die nicht oder nicht genügend Erfüllung erfahren.
Mir scheint, es ist nicht nur in dem eingangs erwähnten Stamm so: Als Menschen gibt es einen fundamentalen Bedarf danach, von anderen Menschen gesehen und wahrgenommen zu werden. Wir brauchen Menschen, die sich dafür interessieren, wie es uns geht, die Anteil nehmen an unseren Freuden wie auch an unseren Enttäuschungen und Misserfolgen. Das gilt für Erwachsene aber in besonderem Maße für Kinder.
Das Phänomen, welches der hier zu beschreibenden Urwunde zugrunde liegt, ist recht einfach zu beschreiben. Es gibt manchmal Eltern(teile), die zwar wesentliche Dinge für ihre Kinder leisten wie sie zu nähren, sie zu kleiden, einen Platz zum Wohnen und vielleicht auch zum Spielen zur Verfügung zu stellen. Aber es wirkt von außen betrachte seltsam unbeteiligt, fast unpersönlich. Die Dinge, die für die Kinder getan werden, werden sozusagen mechanisch erledigt, ohne wirkliche Herzlichkeit oder mit wenig Präsenz seitens der Erwachsenen. Die Kinder laufen sozusagen „nebenher“ im Leben der Eltern oder Elternteile. Die Kinder werden versorgt, aber nicht wirklich bestätigt oder wertgeschätzt.
Kinder, gerade auch sehr kleine Kinder, haben ein stark ausgeprägtes Gefühl dafür, ob sie von ihren Eltern gesehen werden oder nicht. Wenn man etwa fragt „wurdest du als Kind von deiner Mutter (oder deinem Vater) gesehen?“ erhält man immer spontan eine Antwort, eben ein ja oder ein nein, ohne zögern. Die Frage wird sofort verstanden. Und wie so oft scheint auch hier – zumindest für noch sehr kleine Kinder – die Mutter etwas wichtiger zu sein als der Vater.
Die Folgen des nicht gesehen werden
Es ist wohl so, wie bei dem eingangs erwähnten afrikanischem Stamm: Wenn wir nicht gesehen werden, wird unsere Identität, unser Identitätsgefühl, brüchig. Wir wissen dann nicht wirklich, wer wir sind oder sind diesbezüglich unsicher. Vielleicht werden wir dann auch unsicher, wo unsere Stärken und Talente liegen.
Es kann auch sein, das nicht gesehen werden führt zu Schwierigkeiten, sich in Gruppen oder Teams gut und verlässlich zu integrieren. In Partnerschaften kann es zu permanenten Zweifeln kommen, ob man wirklich gemeint ist.
Konflikte produktiv zu bewältigen kann ebenfalls sehr schwierig sein mit dieser Urwunde. In einem Konflikt meldet sich dann heimlich das verletzte innere Kind als Träger dieser Urwunde und für dieses innere Kind geht es gar nicht um das, wovon der Konflikt vielleicht auf der sogenannten Sachebene handelt, sondern es geht um den Kampf um das gesehen werden. Das macht Konflikte zäh und schwer auflösbar, zumal dieses Motiv, dass ich eigentlich nur gesehen und beachtet werden möchte, meist nicht bewusst ist.
Ein Kollege von mir, der für Unternehmen zum Thema Konflikte und Konfliktlösungen arbeitete, sagte mir einmal: Auch auf der Führungskräfteebene, wenn ich die Konflikte betrachte, sehe ich immer nur verletzte innere Kinder, die sich verstrickt haben. Mir scheint es so zu sein, dass hier die Urwunde des nicht wirklich gesehen Werdens eine besondere Rolle spielt.
Auch eine stark ausgeprägte Zurückhaltung und Schüchternheit kann mit dieser Urwunde in Beziehung zu stehen. Die frühe Erfahrung, nicht gesehen zu werden und daran nichts ändern zu können, kann zu der inneren Entscheidung führen, dann zeige ich mich auch nicht mehr.
Es kann natürlich auch sein, dass die Erfahrung des nicht gesehen Werdens zu einer Art Überkompensation führt. Das sind dann vielleicht Menschen, die wir alltagssprachlich manchmal als „Angeber“ oder „Prahlhans“ bezeichnen. Auch manche Formen von extrem ausgeprägter Eitelkeit, gerade was Aussehen und körperliches Erscheinungsbild angeht, können eine Überreaktion auf diese Urwunde darstellen. Die Angst, wieder nicht gesehen zu werden, bekämpfe ich mit der Maske der „Übersichtbarkeit“, die ruft: „Seht her, wie toll ich bin“.
Oder wir verlieren uns zu sehr in einer Rolle, besonders in einer beruflichen Rolle, und der Mensch hinter dieser Rolle ist dabei wenig sichtbar und erfahrbar. Wir sind dann vielleicht sichtbar über unsere Leistung und unsere Funktion aber die Gefahr ist dann, dass wir nur Funktionsträger sind. Und wer sind wir dann ohne diese Rolle oder über diese Rolle hinaus? Lauert da eine gähnende Leere?
Eine andere Folge kann auch die Neigung zu Resignation und Rückzug sein, wo es vielleicht darauf ankäme, kraftvoll seine Interessen zu vertreten.
Die nicht präsenten Eltern
Wenn wir uns fragen, wie es kommt, das manche Eltern ihr Kind oder ihre Kinder nicht wirklich sehen und vielleicht wenig beachten, nicht so wirklich innerlich anwesend sind für ihre Kinder, dann scheint es so zu sein, dass dieser Eltern gedanklich und in der Aufmerksamkeit von etwas anderem stark eingenommen sind.
Vordergründig wird dann manchmal gesagt, ja sie hatten viel zu tun, haben viel gearbeitet oder etwas in der Art.
Ich meine, in Familienaufstellungen beobachtet zu haben, dass die fraglichen Eltern auch in ihrem eigenem Leben nicht wirklich „da“ sind, nicht wirklich anwesend sind.
Und die Frage ist dann natürlich: Wo sind sie dann? Oft es ist es so, dass solche Eltern innerlich bei jemand anderem sind, oft einer toten oder einer totgeschwiegenen Person aus dem Familiensystem. Manchmal ist es ein Geschwisterkind, dass früh gestorben ist, manchmal ist es Vater, der sich umgebracht hat als man selbst sechs Jahre alt war, es kann aber manchmal auch eine frühere Partnerin oder ein früherer Partner sein, wo man über die Trennung nie wirklich hinweg gekommen ist. Es gibt hier viele unterschiedliche Möglichkeiten, wo das Elternteil innerlich leben kann, wenn es im Leben nicht wirklich anwesend ist.
Das tragische ist: Hier kann man nicht viel machen, insbesondere das Kind kann hier nichts ändern. Manchmal ist es möglich, dass im Familiensystem sozusagen ein „Bypass“ gelegt wird. Dann kann das Kind vielleicht die Aufmerksamkeit und Anteilnahme zum Beispiel von Großeltern bekommen. Das verhindert zwar nicht die Urwunde, es lindert aber den damit verbundenen Schmerz ein wenig.
Was kann man tun?
Was kann man als erwachsener Mensch tun, wenn es diese Urwunde des nicht gesehen Werdens aus der Kindheit gibt?
Ein wichtiger Punkt scheint mir zu sein, diese seelische Wunde bei mir selbst wirklich anzuerkennen, zu spüren, dass sie da ist.
Der nächste Schritt wäre: Selber zu sehen, und zwar die Eltern oder das Elternteil, was mich als Kind nicht wirklich gesehen hat. Ich schaue auf die Mutter oder den Vater und sehe sie in ihrer inneren Abwesenheit. Und ich erkenne: Sie haben getan, was sie konnten, was ich damals gebraucht hätte, konnten sie mir nicht geben. Und dann – und das ist ein schwerer Schritt – verabschiede ich mich von dem Anspruch, es hätte anders sein sollen. Das ist meist mit einem Gefühl von Trauer verbunden und auch diese Trauer will durchfühlt sein, wenn der Abschied vom Anspruch gelingen soll.
Und dann geht es darum, mir als erwachsene Person bewusst ein Umfeld zu erschaffen in persönlichen Beziehungen, wo ich gesehen werde. Und ich muss es dann auch wahrnehmen, wenn ich gesehen werde. Auch das ist mitunter nicht ganz einfach, wenn ich in der latenten Erwartungshaltung lebe, ich werde sowieso nie wirklich gesehen, dann sehe ich selber vielleicht nicht, wenn es einmal anders ist. Diese Wahrnehmung, wo und von wem werde ich gesehen, will auch gelernt sein.