Bindung, Freiheit und Verstrickung

In diesem Beitrag möchte ich drei Begriffe ein wenig näher erläutern, die untereinander in einem gewissen Zusammenhang stehen, über die es aber mitunter etwas naive Vorstellungen gibt. Es geht einerseits um das Verhältnis von Freiheit und Bindung, welche auf den ersten Blick als Gegensätze erscheinen und andererseits um die sog. „Verstrickung“, die in Familienaufstellungen eine zentrale Rolle spielt, und die eine besondere Form der Bindung darstellt.

Freiheit

Freiheit erscheint zunächst als positiv, als unbedingt erstrebenswert. Allerdings ist dieses Wort neben seiner positiven emotionalen Aufladung auch ein wenig inhaltsleer. Es sei denn, wir machen nähere Angaben dazu, in welcher Situation wir genau was damit meinen. Wenn man unbefangen jemanden fragen würde „Möchtest du frei sein?“, dann werden die meisten Menschen das spontan bejahen. Wer ist schon gerne eingesperrt, das wäre etwas, was bei uns vielleicht als Gegenteil der Freiheit mitschwingt. Aber wie gesagt, die Rede von der Freiheit bleibt häufig etwas unbestimmt. Zumindest müsste man da einmal nachfragen, was genau gemeint ist. Freiheit wovon? Oder: Die Freiheit, was genau zu tun?

Nehmen wir gedanklich eine jugendliche Person. Hier kann sich, besonders in der Pubertät, ein Freiheitsstreben Bahn brechen, welches darauf zielt, unabhängiger vom Elternhaus zu werden. Vielleicht wird es so empfunden, man möchte der Bevormundung durch die Eltern entgehen. Und dieses Freiheitsstreben dient natürlich einem sinnvollen Entwicklungsschritt, nämlich der Abnabelung von den Eltern und dem Weg in die eigene Selbstständigkeit. Aber ist der erwachsene Mensch wirklich freier als das Kind? Mit der Selbständigkeit erwachsen neue Verpflichtungen, manchmal Zwänge. Ich muss mir jetzt meinen Lebensunterhalt verdienen, um nur einen Aspekt zu nennen. Und im Vergleich zum arbeitenden Menschen genießen Kinder durchaus eine größere Freiheit in Manchem, sie sind zumindest von der Sorge für Wohnung, Kleidung und Nahrung bis zu einem gewissen Grad „frei gestellt.“ Anders gesagt: Aus Streben nach Freiheit wachsen oft genug neue Einschränkungen und Abhängigkeiten, nur das sie etwas anders gelagert sind.

Ähnlich sieht es aus, wenn jemand seine Arbeitsstelle durch Kündigung verliert. In der Verwaltungssprache wird dann gesagt, diejenige Person sei „freigesetzt“. Das dürfte sich in vielen Fällen nicht als Befreiung anfühlen. Mit dem Verlust der Arbeitsstelle werde sofort eine ganze Reihe von neuen Zwängen gesetzt.

Aber wir merken an diesem Beispiel auch, dass Freiheit in einem gewissen Gegensatz zu Sicherheit steht. Die Arbeitsstelle hat ja immerhin meinen Lebensstandard gesichert. Ja, ich bin als Arbeitsloser freier in meiner Tagesgestaltung. Aber ich bin auch unsicherer. Der Verzicht auf ein gewisses Maß an Sicherheit ist oft der Preis, der für die Freiheit zu zahlen ist.

Es gibt mitunter auch so etwas wie Angst vor der Freiheit aus genau diesem Grund: Mit der Freiheit – allgemein gesprochen – ist immer auch ein Verzicht von Sicherheit verbunden. Je stärker die Restriktionen, je größer die Gleichförmigkeit, je rigider und präziser die Regeln, desto größer die Sicherheit. Nur was immer gleich bleibt, ohne Variation und Handlungsspielraum, ist zu 100% sicher und zu 100% vorhersagbar.       
Tatsächlich kann man mitunter beobachten, dass Menschen lieber in einem Leiden oder einer Abhängigkeit (besonders bei Süchten) verharren, als einen machbaren Ausweg zu beschreiten. Und es scheint oft so, als ob hier eine mögliche Triebkraft wäre: Mein Leiden ist zwar leidvoll, aber es ist eben bekannt, vertraut, sicher. In dem neuen Leben kenne ich mich nicht aus, es fühlt sich ungewohnt an.

Und noch etwas kommt mir zum Thema Freiheit in den Sinn:

In einem bekannten Pop-Song aus den späten 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts („Me And Bobby McGee“) gibt es im Refrain die Zeilen:

         Freedom’s just another word for nothin' left to lose,
         And nothin' ain’t worth nothin' but it’s free[1]

In dieser Ballade über eine verlorene Liebe (und eine nicht geglückte oder zumindest nicht dauerhafte Bindung) heißt es also, dass Freiheit lediglich bedeutet, nichts mehr zu verlieren zu haben. Das heißt auch: Das Wichtige, das Wesentliche ist bereits verloren. Welch eine Entzauberung des Mythos der Freiheit!

Wir merken: Freiheit alleine ist vielleicht nicht so rein positiv, wie wir zunächst denken mögen. Freiheit allein ist eben gar nichts, wie es in dem Song heißt, es scheint hier noch etwas Ergänzendes zu fehlen.

Bindung

Bei der Bindung geht es uns spontan eher andersherum. Dieser Begriff ist nicht so sehr positiv aufgeladen, manchmal versuchen wir auch, Bindungen zu vermeiden oder nicht zu fest werden zu lassen. Eine sehr starke Form einer Bindung wäre z.B. einen Fesselung. Und wer möchte schon gefesselt sein? Ein simples Beispiel wäre die Wahl eines Stromanbieters mit kurzer Vertragslaufzeit, ich möchte mich ja vielleicht um entscheiden können, wenn ich ein besseres Angebot finde, ich möchte mich also nicht lange binden an diesen Anbieter.

Auf der anderen Seite ist Bindung natürlich auch etwas sehr Grundlegendes. Im zwischenmenschlichen Bereich sind wir auf Bindung angewiesen. Die gesunde Entwicklung eines Kindes hat zur Voraussetzung eine sichere Bindung an die für das Kind wesentlichen Bezugspersonen. Bindung verspricht uns – im Gegensatz zur Freiheit – Sicherheit. Und ohne ein Mindestmaß an Bindung, sei es an Personen oder an Orte wie mein Heim oder auch an Interessen und Gewohnheiten kommen wir nicht aus. Ein zu großes Maß an Unsicherheit verkraften wir nicht gut, auch wenn das Ausmaß der Verträglichkeit von Unsicherheit natürlich von Person zu Person verschieden ist.

Freiheit und Bindung

Wenn wir das Verhältnis von Freiheit und Bindung betrachten, so erscheinen sie auf den ersten Blick Gegensätzen zu sein. Schauen wir genauer hin, ist es eher so, dass Freiheit und Bindung sich bedingen, es sind zwei Pole auf einer Achse. Und wie man bei einem Magneten nicht nur einen Nordpol oder einen Südpol haben kann, sondern nur einen Magneten mit diesen beiden Aspekten, die untrennbar zusammen gehören, ist für uns Freiheit nur möglich im Rahmen von stabilen Bindungen. Ebenso sind diejenigen Verbindungen die stabilsten, welche den Beteiligten genügend eigenen Freiraum erlauben.

Ich greife noch einmal das Grundthema der Entwicklungspsychologie auf, die stabile und sichere Bindung des Kindes an die Eltern als Basis für die gesunde Entwicklung. Eine Beobachtung, die man gemacht hat, war: Wenn ein Kind sicher und stabil gebunden ist, in erster Linie denken wir hier an die Mutter, dann ist es unbefangen und angstfrei im sogenannten „Explorationsverhalten“. Damit ist gemeint, wie Kinder eine ihnen fremde Umwelt erkunden, sich aneignen, sich dort ausprobieren. Man kann das manchmal auch auf Spielplätzen beobachten. Ein kleines Kind spielt oft in einem bestimmten Radius um die Mutter herum, der bekannt und vertraut ist. Und manchmal bricht sich der Entdeckerdrang Bahn, und das Kind wagt sich aus diesem Kreis des Vertrauten hinaus. Und was man dann fast immer beobachten kann: Das Kind tut das nicht, ohne sich vorher noch einmal umzuschauen. Und dieser Blick fragt: Ist sie noch da? Auch hier sehen wir, wie stark Freiheit – und der Schritt über die Grenze des Bekannten hinaus ist nichts anderes als das Wesen der Freiheit – und sichere Bindung sich in der Lebenspraxis bedingen.

Auch beim erwachsenen Menschen finden wir diesen Bezug von Freiheit und Bindung. Die Bindung an die Arbeitsstelle erlaubt mir über den damit verbundenen Verdienst einiges an Freiheit außerhalb der Arbeitszeit und auch beim Erwachsenen kann dies Exploration, Entdeckerfreude bedeuten. Die Bindung an bestimmte Gruppen und Gemeinschaften erlaubt uns im günstigen Fall, unseren Gestaltungsspielraum zu erweitern, Dinge zu erreichen, die wir alleine nicht bewerkstelligen könnten. Die Entwicklung von eigenen Talenten wird oft nur möglich über die Bindung an eine gewisse Disziplin. Man wird kein wirklich guter Geiger, auch bei viel Talent nicht, ohne täglich zu üben. Dann aber, wenn das Instrument gemeistert wird, erlaubt es ganz erstaunliche Ausdrucksmöglichkeiten, was auch eine Form der Freiheit ist.

Kurz: Freiheit und Bindung sind aufeinander bezogen, greifen ineinander wie das Einatmen und Ausatmen, wie Tag und Nacht, wie Sommer und Winter. Sie als Gegensätze einander gegenüber zu stellen, gelingt nur in Gedanken, nur in der begrifflichen Abstraktion, nicht im gelebten Leben.

Die Verstrickung als besondere Form der Bindung

In Familienaufstellungen haben wir es oft mit sog. „Verstrickungen“ zu tun, einer Form von Bindung, die im Effekt gegen das Leben, gegen den vollen Lebensvollzug wirken. Manchmal zieht es einen Menschen sogar in den Tod im Rahmen einer Verstrickung. Familienaufstellungen dienen zu einem nicht geringen Teil dazu, dass ein Mensch sich aus solchen Verstrickungen, die das gute und das volle Leben verhindern, lösen kann.

Was sind solche Verstrickungen? Eine Verstrickung bezieht sich immer auf etwas Schweres und meist auch auf etwas Schicksalhaftes in dem Familiensystem, dem ich angehöre und in das ich hineingeboren wurde. Und die Verstrickung geschieht, in dem ein Kind, meist ein sehr kleines Kind, dieses Schwere oder das Schicksal spürt und für jemand anders etwas übernehmen oder erleichtern möchte.

Verstrickungen resultieren aus Liebe, aus der großen und unmittelbaren Liebe des kleinen Kindes. Aber: Diese Liebe ist eine „blinde“ Liebe. Was das Kind nicht sieht und nicht sehen kann: Es kann durch sein „Opfer“ das Schwere und das Schicksal nicht wenden.

Es kann z.B. sein, eine Frau hat einen Mann, der ganz offen noch eine Beziehung zu einer anderen Frau oder gar mehreren anderen Frauen unterhält. Die Frau mache aber „gute Mine“, sagt nichts, beschwert sich nicht, ist äußerlich nicht verärgert oder wütend. Jetzt kann es sein, dass die Tochter, welche die unterdrückte Wut der Mutter spürt, sozusagen stellvertretend für die Mutter böse wird. Ihrem Vater böse wird, allen Männern gegenüber im späteren Leben böse wird, je nach dem. Das ist eine Verstrickung. Innerlich sagt die Tochter zu ihrer Mutter: „Ich übernehme das für dich“.

Eine andere Form der Verstrickung wäre, wenn die Tochter nicht den Männern böse wird, sondern sich später auch einen Mann sucht, mit zielsicherem Instinkt, welcher ebenfalls andere Frauen neben ihr hat. In diesem Fall sagt das (innere) Kind zu der Mutter sozusagen: „Ich mache es wie du!“. Auch das ist eine intensive Bindung.

Manchmal führt eine Verstrickung auch an den Rand des Todes oder darüber hinaus. Ich kenne eine Fallgeschichte von einem Psychotherapeuten, der eines Abends seine Fallakten durchging. Einer seiner Klienten war ein Mann, dessen Vater und auch dessen Vater, also der Großvater des Klienten, sich jeweils an ihrem 37. Geburtstag erschossen hatten. Dem Psychotherapeuten fiel auf, dass sein Klient an diesem Tag seinen 37. Geburtstat hatte. In Eile fuhr er zur Wohnung des Klienten. Dieser wollte in erst nicht einlassen, als er es dann doch tat fand der Therapeut auf dem Tisch eine geladene Pistole vor. Auch hier eine Verstrickung in der Form, wo der Mann seinen Vorfahren sagt: „Ich folge euch nach!“. Was auch heißt: Ich bin wie ihr, ich gehöre dazu.

Nicht immer ist es so dramatisch, aber Verstrickungen enthalten immer das Element der Treue. Irgendjemandem im System gegenüber bleibe ich treu. Aus großer, aber eben blinder Liebe heraus. Es kann z.B. sein, dass ein Mann sein Leben lang trotz bester Voraussetzungen und Ausbildungen beruflich erfolglos bleibt, weil sein Vater ebenfalls beruflich nicht erfolgreich war. Und wenn er jetzt erfolgreich wäre, würde er sozusagen seinem Vater untreu. So erklären sich mache Fälle von offensichtlicher Selbstsabotage.

Wichtig ist, dass diese Verstrickungen völlig unbewusst sind. Unser Verstand weiß nichts davon. Auch die Sätze wie „Ich folge dir nach“ oder „Ich trage das für dich“ oder „lieber ich als du“ werden nicht bewusst gedacht. Meist liegt der Ursprung der Verstrickung sowieso im vorsprachlichen Alter. Das noch sehr kleine Kind gerät durch die Dynamik des Familiensystems sozusagen in einen Sog. Es sind also nicht wirklich Sätze, die dann im inneren entstehen. Es ist wenn überhaupt ein Gefühl im kleinen Kind, ein Gefühl dafür, was sich richtig anfühlt. Und dieses Grundgefühl ist oft hoch wirksam, auch bis ins hohe Alter hinein, aber eben völlig unbewusst, weil vorsprachlich.

In Familienaufstellungen werden solche Verstrickungen deutlich, sie werden sichtbar. Und die Lösung besteht fast immer darin, das schwere Schicksal im Familiensystem zu sehen, zu achten und zu würdigen. Und dann darauf zu verzichten, das Schicksal wenden zu wollen. Wir lassen das Schicksal bei der Person, die es betrifft – in Liebe.     
So wird man frei von der Verstrickung, frei für das eigene Leben ohne damit die Liebe und die Verbundenheit aufzugeben. Auch in der geglückten Lösung aus einer Verstrickung zeigt sich, wie sehr Freiheit und Bindung hier Hand in Hand gehen. Und neben: Durch die Lösung aus einer Verstrickung wird aus der blinden Liebe eine wissende, eine verstehende Liebe. Diese Liebe steht dem vollen Leben nicht im Weg, im Gegenteil.


[1] Am bekanntesten ist sicherlich die Interpretation durch Janis Joplin, welche diesem an sich eher schlichtem Lied eine besondere Koloratur und auch Tiefe verleiht. Man vergleiche dazu das Original von Kris Kristofferson.