Vieles in politischen oder gesellschaftlichen Debatten und in ihrer Darstellung in den Medien zielt darauf, dass das Publikum empört oder entrüstet reagiert. Ganz aktuell zum Beispiel anlässlich der Vorstellung der Studie zu sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirchen in den vergangen Jahrzehnten. Aber auch viele Beiträge in den sozialen Medien, etwa zu „#metoo“ oder zur Flüchtlingssituation, leben von dem aufmerksamkeitserheischenden Effekten einer solchen Empörungskultur. Manche, wie der Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, sprechen sogar von einer „Empörungsbewirtschaftung“[1] und der Begriff verweist noch stärker auf ein wirtschaftliches Kalkül dahinter.
In diesem Beitrag soll es darum gehen, was Empörung und Entrüstung bewirkt. Was sie nutzt und was sie verhindert.
Empörung der Guten gegen die Bösen
Zunächst einmal dient die Empörung einer moralischen Bewertung. Es empören sich die „Guten“ gegen die „Bösen“. Es ist eine Parteinahme der Unbeteiligten für die Opfer und gegen die Täter, so scheint es. Und der Impuls geht in Richtung Verurteilung und Ausgrenzung der Täter.
Die Frage stellt sich: Nützt diese Empörung den Opfern? Und auch: Trägt sie zum inneren und Äußeren Frieden bei? Kommt durch die Empörung etwas Hilfreiches in den Seelen den Beteiligten zustande? Wird dadurch etwas geheilt?
Diese Art der Fragestellung deutet schon eine gehörige Portion Skepsis an, ob Empörung – so verständlich und nachvollziehbar sie ist und als Durchgangsphase vielleicht sogar notwendig sein mag – wirklich dazu beiträgt, in der Seele in Einklang zu kommen. In Einklang mit dem Geschehen und seine Folgen.
Bert Hellinger und die Empörung über die Verweigerung der Empörung
In einem Seminar zur Supervision für Therapeutinnen und Therapeuten berichtet eine Therapeutin über eine ihrer Klientinnen. Die 37-jährige Frau ist jahrelang von ihrem Vater sexuell missbraucht worden. Mit Wissen und implizitem Einverständnis der Mutter, die nichts dagegen unternommen hat. Nach dieser Falldarlegung sagt Bert Hellinger, sie, die Therapeutin, könne der Klientin da gar nicht helfen. Und an die Therapeutin gewandt:
“Weißt du auch, warum?“
Therapeutin: „Nein“.
Hellinger: „Weil du entrüstet bist. Spürst du das?“
Teilnehmerin: „Ja.“
Und in einem ähnlich gelagerten Fall sagt Hellinger nach der Fallschilderung zur Gruppe:
“Wer hat einen Platz in meinem Herzen? Und wer hat keinen Platz in ihrem Herzen?“
Therapeutin (seufzt tief): „Wahrscheinlich der Vater“
Hellinger: „Helfen kannst du nur, wenn er einen Platz bekommt in deinem Herzen. Und wer ist ausgeklammert? Wer wird nicht erwähnt?“
Therapeutin: „Die Mutter.“
Hellinger: „Genau.“
Solche Interventionen in Aufstellungen bzw. noch vor der eigentlichen Aufstellungen haben Bert Hellinger viel Kritik eingetragen. Es könnte so wirken, als ginge es um Entlastung und Entschuldigung der Täter. Insbesondere manche Frauen waren empört: Wie kann man so etwas sagen? Und noch dazu als Mann!
Hier gab es also noch eine Empörung. Diesmal als Empörung über die mangelnde Empörung bezüglich der Täter. Aber die Frage bleibt: Ist mit der Verdammung der Täter ein Frieden in der Seele der Opfer erreichbar? Die Erfahrungen mit Aufstellungen bei solchen Themen legen nahe, dass es nicht so ist.
Natürlich bleibt ein Täter ein Täter. Und er hat die Folgen seines Tuns, auch die Schuld, zu tragen. Und die Opfer müssen angeschaut werden, gerade auch von den Tätern. Und natürlich müssen Opfer, insbesondere Kinder und Jugendliche, auch vor den Tätern geschützt werden. Aber, wenn eine Lösung in der Seele der Opfer erreicht werden sollen, nützen die Instrumente der moralischen Verdammung alleine herzlich wenig. Man ist dann zwar auf der moralisch „richtigen“ Seite – aber nicht im Einklang mit dem tatsächlichen Geschehen und den seelischen Wirkungen.
Die Leistung von Therapeuten und Aufstellungsleitern
Im Nachhinein, nach geschehener Tat (sei es nun Missbrauch oder auch Mord oder andere Tötungsdelikte in einer Familie) erweist sich die Empörung und die Ausgrenzung der Täter als nicht wirklich nützlich für die Heilung der seelischen Wunden, die durch die Tat entstanden sind und fortwirken.
Therapeuten und Aufstellungsleitern wird hier etwas anderes abverlangt. Nämlich: Auf das System insgesamt zu schauen, mit Allen und Allem, was dazu gehört. Und die Täter, ihre Taten und ihre Schuld, auch ihre Verstrickungen, gehören eben dazu. Und dem muss man – zunächst einmal – innerlich zustimmen. Zustimmen in dem, wie es war. Nicht als Zustimmung zur Tat, sondern als Zustimmung zu den seelischen Kräften, die in der Tat und den Folgen wirken.
Und dieses auch den Tätern „einen Platz im eigenen Herzen“ zu geben, wie Hellinger es formuliert hat, gehört oft zu dem Schwersten, was hier von Therapeuten oder Aufstellungsleitern zu leisten ist.
Die bloße moralische Empörung erweist sich hier als zu klein und wird der Wucht des Geschehens nicht gerecht.
Eine Anregung zur Selbsterfahrung
Wenn du, liebe Leserin und lieber Leser, dir ein Geschehen vergegenwärtigst, welches dich in die Empörung führt oder führen könnte: Überprüfe einmal, die beiden nachfolgenden inneren Bewegungen:
1. Du schaust auf die Täter mit dem Blick der moralischen Verurteilung, vielleicht auch mit der Überlegung, welche Strafe hier angemessen wäre
2. Du schaust mit weichem Blick auf das gesamte Geschehen, die Taten der Täter mit ihrer Schuld und Verstrickung, das Schicksal der Opfer mit seinem ganzen Gewicht – und die größere Seele, die durch alle Beteiligten hindurch wirkt
In der ersten inneren Bewegung:
Wie schaust du auf die Täter? Wie schaust du auf die Opfer? Welche Würde haben Täter und Opfer in deinem Blick? Was empfindest du, den Opfern gegenüber? Bewegt dich ihr Schicksal? Ergreift dich da etwas?
In der zweiten inneren Bewegung:
Wie schaust du auf die Täter? Wie schaust du auf die Opfer? Welche Würde haben Täter und Opfer in deinem Blick? Was empfindest du, den Opfern gegenüber? Bewegt dich ihr Schicksal? Ergreift dich da etwas?
[1] https://www.heise.de/tp/features/Luegenpresse-Wieso-Luegenpresse-3278810.html?seite=all