Kannst du Frieden machen?

Der vorletzte Blogbeitrag vom Februar 2022 handelte vom Krieg und seinen langen Folgen, auch Generationen später noch. Und er schloss mit der etwas spekulativen Überlegung, die Kriege, welche wir in der äußeren Welt erleben, könnten auch etwas mit einem Krieg – oder sagen wir besser: mit dem fehlenden Frieden – in uns selber zu tun haben. Ich möchte hier diesem Gedanken etwas näher nachgehen.

Der Wille zur Vernichtung

Ein wesentliches Merkmal des Krieges ist der Wille zur Vernichtung. Es werden Menschen, Landschaften, Gebäude, Infrastruktur usw. vernichtet. Das ist das Ziel. Woher speist sich der Vernichtungswille, der sich hier Bahn bricht? An seinem Urgrund steht (auch) unsere Biologie als Säugetiere. Der Wille zur Vernichtung hängt zusammen mit biologisch tief liegenden Reflexen, mit der unwillkürlichen Antwort auf eine unmittelbare Bedrohung des Lebens durch Flucht oder Angriff. In dieser Hinsicht dient der „Angriff oder Flucht“-Reflex dem Leben, dem Überleben. Durch Flucht entziehe ich mich dem Vernichtungswillen eines anderen Lebewesens (sei es der Säbelzahntiger oder die meinem Stamm gegenüber fremde Horde). Durch Angriff und Vernichtung des Angreifers beende ich die Gefahr für mein Leben.

Wir können also diesen Willen zur Vernichtung nicht einfach nur schlecht nennen. An der Basis dient er dem Leben. In höchster Not kann der Einzelne diesen Kräften kaum entrinnen.

In der Entwicklung der Menschheitsgeschichte wurde der Mensch sesshaft. Er entwickelte Kultur und Zivilisation, die ursprünglichen und archaischen Verhältnisse unmittelbarer Gewalt wurden durch Gesetze und Regelungen sowie das staatliche Gewaltmonopol eingehegt.
Ist der Wille zur Vernichtung damit verschwunden? Wir können beobachten, dass der Wille zur Vernichtung sich unter solchen Verhältnissen eher verschiebt auf andere Ebenen der Auseinandersetzung. Wir können hier an den Streit um politische, wissenschaftliche, religiöse oder allgemein ideologische Meinungen denken. Hier gibt es natürlich auch immer eine Ebene des Suchens nach der besten Lösung, des Austausches und Vergleichens von Ideen. Es passiert aber sehr schnell, dass diese Ebene verlassen wird und der ideologische Kampf über persönliche Diffamierung, Ausgrenzung, Verleumdung usw. geführt wird. Auch hier wirkt der Wille zur Vernichtung, wenn auch weniger blutig, weniger in der Form unmittelbarer Gewalt.

Das gute Gewissen, dass zu schlimmen Taten führt

Es wirkt hier auch noch etwas Anderes. Sowohl in den wirklichen Kriegen wie auch in den im übertragenen Sinne Kriegen der Ideologien wirkt bei den Beteiligten ein gutes Gewissen. Dieses Gewissen ist ein Gruppengewissen. Der Kampf gegen den Feind sichert mir meine Zugehörigkeit zu meiner Gruppe. Alles was meine Zugehörigkeit zu meiner Gruppe sichert, gibt mir das gute Gefühl, dazu gehören zu dürfen. Das ist der Kern des guten Gewissens.

In meiner Gruppe, sei es als Nation in einem Krieg, als Partei in einem Bürgerkrieg oder auch als Kombattant in einer ideologischen Auseinandersetzung fühle ich mich im Recht. Ich fühle mich der Gegenseite gegenüber überlegen. Ich bin besser als der Andere, wir sind besser als die andere Gruppe. Daher ist alles, was ich ihnen– individuell und kollektiv – antue, gerechtfertigt. Es ist gerecht. Ich tue es mit gutem Gewissen. So wird die Gerechtigkeit als Pferd vor den Karren des Vernichtungswillens gespannt, wie Bert Hellinger es einmal ausgedrückt hat. Mein gutes Gewissen (was eigentlich nur das Recht auf Zugehörigkeit bedeutet) ist heilig. Und so werden die heiligen Kriege geführt. Die Kriege auf den Schlachtfeldern und die Kriege auf den Feldern der Ideologien.

Kriegspropaganda

Jeder Krieg benötigt Propaganda. Sie weckt den Vernichtungswillen, stattet diesen mit einem guten Gewissen aus. Ohne dieses gute Gewissen könnten die schlimmen Taten nicht vollbracht werden, nicht in der Größenordnung, wie es in Kriegen oder auch in gewaltsamen Umstürzen und Revolutionen aber auch in ideologischen Auseinandersetzungen geschieht. Zu jedem Krieg muss die Bevölkerung erst mobilisiert werden.

Im ersten Weltkrieg spielte eine bestimmte „Erzählung“ in England eine große Rolle für diese Mobilisierung. Ja, die Armeen des damaligen deutschen Kaiserreiches sind auf dem Weg nach Frankreich in das neutrale Belgien eingefallen. Ein klarer Rechtsbruch. Aber das alleine hätte nicht ausgereicht. Es wurde in England die Meldung verbreitet, die deutschen Armeen hätten bei ihrem Durchzug durch Belgien den belgischen Kindern systematisch die Hände abgehackt. Ein Beispiel für Gräuelpropaganda. Eigentlich ist die Erzählung kaum glaubhaft. Was hätte die deutsche kaiserliche Armee davon gehabt? Welchen Vorteil in der Kriegsführung hätte sich ergeben, sich damit aufzuhalten, sinnlos und wahllos belgischen Kindern die Hände abzuhacken, wenn es darum ging, möglichst schnell nach Frankreich zu gelangen? Aus der Distanz betrachtet, wirkt die Erzählung absurd.
Aber sie wurde geglaubt, es erzielte die gewünschte Wirkung. Die Stimmung, die öffentliche Meinung in England kippte, nun war es da, das gute Gewissen, mit welchem dieser Krieg geführt werden konnte. Was kann schlecht daran sein, solche Barbaren vernichten zu wollen, die unschuldigen Kindern die Hände abhacken?

In neuerer Zeit erlebten wir etwas Ähnliches mit der sogenannten „Brutkastenlüge“. Sie ermöglichte in den USA die Zustimmung zum Krieg gegen den Irak 1991. Ohne sie wäre dieser Krieg innenpolitisch kaum durchsetzbar gewesen.

Aktuell erleben wir den Krieg in der Ukraine, in den wir zunehmend zu Beteiligten werden über Waffenlieferungen, finanzielle und logistische Unterstützung. Weil wir beteiligt sind, läuft dieser Krieg nicht so unterhalb der Wahrnehmungschwelle für uns ab wie z.B. der Krieg im Jemen, der seit Jahren tobt, von dem aber nur wenige überhaupt jemals gehört haben dürften.
Ich meine, wir tun gut daran, jegliche Meldung über das Kriegsgeschehen von jeglicher Seite erst einmal unter Propagandavorbehalt zu stellen. Wenn wir bei jeder Meldung denken, es könnte so sein, es könnte aber auch reine Propaganda sein, ist unser Empörungsbereitschaft vielleicht nicht so leicht zu bewirtschaften, unser Vernichtungswille nicht so leicht zu wecken.

Kannst du Frieden machen … mit dem Krieg?

Wir könnten aber auch in der Betrachtung von Krieg und Vernichtungswillen innerlich einen Schritt zurücktreten, sozusagen das größere Bild ins Auge fassen. Ich hatte ja eingangs schon erwähnt, dass der Vernichtungswille, seine biologischen Grundlagen im ältesten Teil unseres Nervensystems, durchaus lebensförderlich sind. Diese Impulse dienen, der ursprünglichen Intention nach, dem Leben, dem Überleben.

Es könnte sich der Gedanke einstellen, dass auch Krieg und Vernichtungswille sich aus einem größeren Feld speist, einer Art übergreifendem Feld, welches eher geistiger Natur ist. Im Familienstellen erleben wir immer wieder das wirksame Feld der Herkunft, der Familie und der Sippe, welches meist unbewusst durch uns wirkt, im Guten wie im nicht so Guten. Und hier ist die Erfahrung, dass wir die negativen Wirkungen nur wenden können, wenn wir die Kräfte, die hier wirken, anerkennen. Dann zeigt sich mitunter eine gute Lösung. Solange wir diese Kräfte oder überhaupt dieses Feld, in das wir eingebunden sind, entweder bekämpfen oder nicht wahrhaben wollen, ist die gute Lösung meist versperrt.

Könnte dies auch für den Krieg gelten? Das wir ihn anerkennen müssen, als wirksame Kraft in einem größeren Feld, damit Frieden entstehen kann? Betrachten wir einmal andere Bereiche, in denen oft von einem „Krieg“ in übertragenem Sinne geredet wird. Der US-Präsident Richard Nixon hat in seiner zweiten Amtszeit den „Krieg gegen die Drogen“ ausgerufen. Und seit dem wird dieser Krieg gegen die Drogen durch verschiedenste staatliche Instanzen geführt. Mit welcher Wirkung? Seite einigen Jahren gibt es in den USA einen Opiatemissbrauch in einer Größenordnung, die alles bisher Gekannte in den Schatten stellt. Seit Jahrzehenten befindet sich die westliche Medizin mit großem Aufwand im Kampf gegen Krebs, auch hier wird manchmal von einem Krieg gegen den Krebs gesprochen. Mit welchem Resultat? Die Krebserkrankungen nehmen zu.
Erlöst und hier der Vernichtungswille? Würde die Anerkennung des Feindes, dass es ihn gibt und dass er dazu gehört, andere und bessere Lösungen eröffnen?

Wie geht es mir mit dieser Frage, kann ich mit dem Krieg meinen Frieden machen? Die Antwort ist: Mir fällt es schwer. Aber was ich auch bemerke: Wenn es mir gelingt, die Kriegführenden, die Soldaten, die Befehlshaber, die Entscheider und Initiatoren der Kriege als Menschen zu sehen, die in einem größeren Feld sich bewegen, geführt von Kräften, um die sie allenfalls ansatzweise wissen – in diesen Momenten gelingt es mir, sie in mein Wohlwollen einzuschließen. Ich stelle mir diese Menschen vor – und will Ihnen wohl. Ich nehme sie in den Blick, in meiner Vorstellung, ich nehme sie in mein Herz, unabhängig von ihren Taten, egal auf welcher Seite. Und dann wird in mir etwas friedlicher. Diese Haltung gelingt mir nicht, solange ich denke, diesen Krieg sollte es nicht geben, dass es seine Betreiber nicht geben sollte.

Kannst du Frieden machen mit dem Krieg in dir?

Gehen wir vielleicht noch etwas weiter nach innen in der Betrachtung. Wie sieht es mit dem Krieg in meinem inneren aus, mit meinem inneren Feind?

Viele Menschen kämpfen mit Seiten und Anteilen von sich selbst. Manche bekämpfen mit Eifer und rigider Verhaltenskontrolle gegen jedes Gramm Bauchspeck. Andere bekämpfen in sich eine Sucht. Oder eine Erkrankung, beispielsweise eine Krebserkrankung. Wieder andere hadern mit ihrer Faulheit oder mit ihrem mangelnden Ehrgeiz. Was auch immer es im Einzelnen sein mag: Diese inneren Kämpfe, der „Kampf gegen den inneren Schweinehund“, tragen sie nicht auch die Insignien des Vernichtungswillens? Irgendetwas sollte es am besten nicht geben, es soll verschwinden, es soll „mit Stumpf und Stiel ausgerottet“ werden.

Welche Erfolge erzielen wir in diesen Kämpfen? Und welche Misserfolge? Macht es uns friedlicher, wenn wir diejenigen Anteile und Bestrebungen in uns, die wir gerne „weg machen“ würden, zumindest anerkennen? Wenn wir sehen, dass sie da sind? Wenn wir uns vielleicht diesen inneren Anteilen sogar aufmerksam zuwenden, mit Interesse? Mit dem Wunsch, sie wirklich kennen zu lernen, statt ihnen das Existenzrecht abzusprechen?

Wäre die Welt – und auch das geistige Feld, dem wir angehören – friedlicher, wenn wir den Krieg in uns selber befrieden könnten?