In der Familienaufstellung als Methode verzichten wir – weitgehend, nicht absolut vollständig – auf Theorien und Modelle. Von Kritikern der Familienaufstellungen wird daher, wie ich meine zu Recht, eingewandt, dass Familienaufstellungen schon alleine deshalb nicht als Therapieform, als Psychotherapie anzusehen sind. (Mehr dazu hier.) Es gibt in der Familienaufstellung keine ausgearbeiteten ätiologischen Modelle und auch keine Klassifikation von Erkrankungen oder Störungen.
Man hat also keine Lehre von den psychischen oder seelischen Ursachen von Erkrankungen, keine Beschreibungen der exakten Wirkungspfade und Entwicklungsprozesse oder dergleichen. Etwas, was zum Beispiel die Psychoanalyse oder auch allgemeiner die medizinische Psychopathologie für die Einteilung von Krankheitsformen, die Erklärung ihrer Entwicklung und daraus abgeleitete Leitlinien für die Behandlung durchaus besitzt.
Die Familienaufstellung wurde dagegen von ihrem Begründer Bert Hellinger immer als rein „phänomenologische“ Vorgehensweise bezeichnet. Gemeint ist damit: Wir schauen auf die Wirklichkeit oder einen Teilausschnitt der Wirklichkeit – und versuchen dabei, uns von allen Annahmen, Bewertungen, Theorien und Klassifikationssystemen frei zu machen. Wir schauen und lauschen und spüren auf das, was gerade ist und was sich zeigt. Was sich in erster Linie über die Reaktionen der Stellvertreter zeigt. Und mit den Bewegungen, die sich hier zeigen, gehen wir mit. Ohne zu wissen, wohin sie uns führen werden. Ja, genau genommen sogar ohne Ziel und ohne Absicht.
Aber eine Vorstellung ist mit dieser Art des Schauens und Lauschens und Spürens schon verbunden: Es ist die Vorstellung oder vielmehr die Ahnung, dass hinter den beobachtbaren und spürbaren Phänomen etwas Größeres wirkt. Dass es so etwas wie einen „Urgrund“ gibt, aus dem alles kommt und den alles auch wieder zurück fällt. Und dieser „Urgrund“ selber bleibt aber unauslotbar und verborgen.
Es gibt also tatsächlich doch eine Idee. Und jede Idee ist ein gedankliches Konzept. So ganz kommen wir offenbar doch nicht ohne aus.
Eine Formulierung dieser Idee könnte lauten: Es gibt einen Bereich des Verborgenen, aus dem für einen Moment etwas auftaucht. Und was auftaucht, ist dann erfahrbar als eine Einsicht oder eine Wahrheit. (Was die Wahrheit angeht, sollten wir vielleicht lieber sagen: Ein Teil der Wahrheit.) Und was auch immer auftaucht aus diesem Verborgenen wird von dem größeren Ganzen getragen und gestützt. Wir nehmen das, was sich zeigt, was auftaucht aus dem Verborgenen, soweit wir es für unser Leben und unser Handeln brauchen. Und nach einer gewissen Zeit sinkt es wieder in diesen größeren Urgrund, der aber selber verborgen bleibt, zurück.
Der Verzicht besteht nun darin, dieses Größere und Verborgene nicht ergründen zu wollen. Sondern nur mit dem zu gehen, was sich unmittelbar und in diesem Moment zeigt und was erfahrbar ist. Wohl wissend: Was auftaucht an Erfahrung oder Einsicht ist begrenzt und nicht von Dauer. Aber wir vertrauen darauf, dass dieser ständige Austausch mit dem Verborgenen, genügt. Wir nehmen, was sich von sich aus zeigt und verzichten darauf, das Ganze erfahren oder verstehen oder gar kontrollieren zu wollen. Diese Haltung ist eine Haltung des Verzichts, die aber eine beruhigende Wirkung hat. Diese Haltung ist auch jenseits von Neugierde.
Aber wie gesagt: Selbst das ist erst einmal nur eine Idee (und somit ein Konzept) und selbst diese Vorstellung muss man dann wieder hinter sich lassen, wenn man sich ganz auf den gegenwärtigen Moment einlassen will. Das wirkliche Gewahrsein dessen, was sich zeigt, entsteht nur jenseits der Benennung. Nur beim darüber reden oder darüber schreiben kommen wir eben nicht ganz ohne eine Beschreibung aus …
Die meditative Haltung
Etwas Ähnliches zeigt sich auch in der Meditation. Das Wesentliche in jeder Meditation, wie unterschiedlich die einzelnen Meditationsformen auch sonst sein mögen, ist: Wir werden still und gesammelt, verzichten auf jegliche Absicht und Bewertung – und lassen aus der Stille aufsteigen, was immer aufsteigen mag. Ohne Anhaftung und ohne den Versuch, etwas fest zu halten, lassen wir es dann ziehen. Und beobachten still, was als nächstes aufsteigen mag. Meist sind es Gedanken oder innere Bilder. Und dazwischen ist ein kurzer Moment des Nichts und der Leere. Und in dieser Leere, in diesen kurzen Momenten, sind wir mit Allem verbunden. Aber darüber haben wir keine Kontrolle.
Und noch etwas ist ähnlich in der Meditation. Alan Watts, der viel zur Popularisierung von östlicher Philosophie und Meditation im Westen beitrug, hat einmal gemeint: Wenn man meditiert mit einem Ziel, etwa sich besser zu entspannen und dadurch leistungsfähiger zu werden, dann würde man nicht meditieren. Ein Ziel mit Meditation erreichen zu wollen – egal, welches Ziel, sei der Meditation wesensfremd. Und doch oder vielleicht gerade deshalb hat eine regelmäßige Meditationspraxis eine beruhigende Wirkung. Richtig angewendet wird fast jeder entspannter und gelassener. Entsprechende Veränderungen in der Hirnphysiologie sind inzwischen vielfach wissenschaftlich nach gewiesen. Nur: Wenn man Meditation um dieser Zwecke willen betreibt, wird man die Effekte nicht oder nur langsam erreichen. Für einen zielorientierten Geist ist dies eine sehr irritierende Tatsache.
Eine poetische Annäherung
Das Größere und Verborgene, aus dem unsere begrenzten Momente der Einsicht in der Aufstellungsarbeit entspringen, können wir nicht wirklich erfassen. Und wir sollten auch darauf verzichten, es verstehen zu wollen oder uns Theorien darüber zurecht zu legen. Wir haben eben nur vage die Anmutung, dass es eine Quelle geben müsste für das begrenzt Erfahrbare. Eine Quelle, die vielleicht nicht außerhalb von uns liegt, aber die doch größer ist als unser kleines Ich. Das war die Aussage bisher. Und doch benennen wir es in der Aufstellungsarbeit. Wir nennen es das „wissende Feld“. (Mehr dazu hier und hier und hier.) Und allein die Benennung birgt bereits die Gefahr, aus einer lebendigen Erfahrung ein gedankliches Konzept zu machen.
Der Urheber des Begriffs „wissendes Feld“, Albrecht Mahr, hat immer darauf hingewiesen, dass es sich hier nicht um einen wissenschaftlichen Begriff handelt. Auch wenn man natürlich Bezüge zu anderen Feldern, die wissenschaftlich definiert werden, herstellen kann. Im Kern bleibt es trotzdem eine bildhafte, eher poetische denn wissenschaftliche Beschreibung. Und vielleicht nähern wir uns dem Bedeutungsgehalt des Größeren im Verborgenen daher auch besser poetisch.
Es gibt ein Geicht mit dem Titel „Über die Geduld“ von Rainer Maria Rilke, in welchem das Verborgene, aus dem alles entsteht und das alles trägt und hält, thematisiert wird:
Man muss den Dingen
die eigene, stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist austragen – und
dann gebären…
Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit
vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit…
Man muss Geduld haben
Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.