Die Hinbewegung der Kinder zu den Eltern

Mit der häufigsten Bewegung, die sich in Familienaufstellungen ereignet, ist die Bewegung der Kinder auf die Eltern zu. Oft geschieht diese Bewegung unter erkennbaren Widerständen oder zumindest mit gemischten Gefühlen. Aber wenn diese Bewegung, die Hinbewegung eines Kindes zu den Eltern, gelingt, dann ist dies oft der Wendepunkt in einer Aufstellung. Es ist der Punkt, an dem sich die Lösung ergibt und die ursprüngliche Liebe wieder in Fluss gerät. Mitunter entstehen hier sehr bewegende Momente.

Warum ist diese Bewegung so bedeutsam? Und warum nicht andersherum? Warum ist es nicht eine Bewegung der Eltern zu den Kindern? Die letzte Frage stellt sich oft. Gerade, wenn es gute Gründe gibt, warum die Bewegung des Kindes zu den Eltern schwer ist. Wenn es Missbrauch oder Vernachlässigung gegeben hat oder wenn Elternteile – was recht häufig ist – schwer erreichbar erscheinen oder eine emotionale Kälte ausstrahlen. Man könnte dann denken: Ist es nicht an den Eltern, eine Befriedung des Verhältnisses einzuleiten? Schließlich sind sie es doch, die scheinbar dem Kind gegenüber „in der Schuld“ stehen. In dem sie dem Kind nicht das gaben oder geben konnten, was jedes Kind braucht: Geborgenheit und bedingungslose Liebe. Müsste dann nicht der Impuls zu einer „Bereinigung“ des Verhältnisses dann von den Eltern ausgehen?

Und doch ist es so, dass in Aufstellungen deutlich spürbar ist: Der Weg zur Lösung geht nur anders herum. Das Kind muss zu den Eltern gehen. Oft sagen dies auch die Stellvertreter von Müttern oder Vätern so: „Ich möchte gerne zu ihr/ihm gehen. Aber es geht nicht.“ Und sie stehen dann in der Aufstellung an ihrem Platz als Eltern und das Kind steht etwas entfernt- und alles in der Körpersprache des Elternteils sagt: „Komm!“. Und das ist für die Kinder oft ein schwerer Weg.

Das Ursprüngliche in der Hinbewegung

Wenn ein Kind auf die Welt kommt, sucht es als allererstes die Mutter, die Mutterbrust. Dies ist ein Reflex – und eben die erste und vielleicht bedeutsamste Hinbewegung in der neuen Welt. Obwohl der Säugling sich noch nicht alleine bewegen kann und der Unterstützung in dieser Bewegung bedarf, trägt diese Suche nach der Mutterbrust doch schon alle Anzeichen eines aktiven Impulses. Und wenn das „Andocken“ gelingt, ist dies der erste Erfolg in diesem noch ganz jungen Leben. Man darf annehmen, dass in diesen Momenten wesentliche Grundlagen und Verknüpfungen im Nervensystem geprägt werden, die im späteren Leben das Thema „Erfolg“ wesentlich mit beeinflussen.

Wir haben also hier ganz am Beginn eine Suchbewegung und eine Hinbewegung. Und auch später ereignet sich diese Hinbewegung des Kindes zu einem Elternteil mannigfach. Man denke nur an die Szenen, wenn ein Kind, dass gerade laufen lernt, sich aufrichtet und unsicher, staksig aber voller Freude einige aufrechte Schritte auf Mutter oder Vater zu macht, um sich dann in die geöffneten Arme fallen zu lassen.

Die Störung der ursprünglichen Hinbewegung

Es gibt viele Anlässe, warum die ursprüngliche Hinbewegung gestört oder unterbrochen sein kann. Das kann ein früher Krankenhausaufenthalt sein, dass kann sich daraus ergeben, dass Eltern physisch oder psychisch „nicht verfügbar“ waren. Wie immer die Umstände im Einzelnen gewesen sein mögen, es bleibt, dass das Kind nicht zur Mutter oder dem Vater konnte, wonach es sich doch so sehr sehnte. Und dann schlägt diese unerfüllte Sehnsucht oft um in Wut, Trauer, Trotz oder Verzweiflung. Die Sehnsucht aber bleibt. Und das Kind zieht sich zurück von dem, wonach es sich sehnt.

Familienaufstellungen können dann ein Weg sein, wie die Folgen dieser unterbrochenen Hinbewegung überwunden werden können. Die ursprüngliche Hinbewegung wird wieder aufgenommen und an ihr Ziel gebracht, sozusagen in ihrer symbolischen Form. Das ist eine Form der „Nachreifung“ oder „Nachnährung“, die auch lange Zeit nach der ursprünglich unterbrochenen Hinbewegung möglich ist und als heilend erlebt wird.

Noch einmal: Wer muss zu wem?

Aber noch einmal zurück zur Ausgangsfrage: Warum muss das Kind zu den Eltern gehen und nicht umgekehrt? Wenn ein Kind ein Defizit erfährt in der Geborgenheit und der Annahme seitens der Eltern, müssten dann in einer Familienaufstellung nicht die Eltern auf das Kind zugehen? Und dann vielleicht Sätze sagen wie: „Es tut mir leid. Ich habe dich nicht wirklich gesehen.“? Oft werden solche Sätze tatsächlich gesagt von Stellvertretern für Eltern in einer Aufstellung. Aber erst, wenn das Kind auf die Eltern zugegangen ist und bei Ihnen angekommen ist.

Man könnte meinen, die Eltern sind hier „in der Schuld“ wenn es Defizite gab. Und somit muss auch die Bewegung des nachträglichen Ausgleichs von Ihnen ausgehen. Was dabei übersehen wird: Das Kind verdankt seinen Eltern sein Leben! Wie auch immer die sonstigen Umstände im Aufwachsen gewesen sein mögen: Dies ist die größere „Schuld“. Zu den Eltern zu gehen, auch innerlich, und sie zu nehmen, so wie sie sind und waren, vorbehaltlos mit allem was dazu gehört – das ist gleichzeitig auch der Prozess, dass Leben vollständig zu nehmen, mit allem was dazugehört. Das Kind nimmt das Leben von den Eltern. Und dieses Nehmen setzt die Hinbewegung voraus. Ohne die Hinbewegung kann es kein wirkliches Nehmen geben.

Der Verstand mag oft meinen, das, was die Eltern gegeben haben und geben konnten, war nicht genug. Aber auch dieser Vorbehalt erscheint zweitrangig gegenüber der Tatsache, dass das Leben selber über die Eltern kommt. Hier steht das Kind fundamental „in der Schuld“ gegenüber den Eltern. Und das aktive Nehmen des Lebens – darum geht es bei der Hinbewegung zu den Eltern – kann man dem Kind nicht abnehmen. Auch wenn es schwer ist. Daher muss das Kind im inneren Vollzug zu den Eltern gehen – und nicht umgekehrt[1].

Es ist aber selten, dass das eigene Leben gelingt, wenn das Leben nicht vollständig von den Eltern genommen werden kann. Wie gesagt: Mit allem, was dazu gehört, im Guten und im weniger Guten.

 

[1] Natürlich ist es auch so, dass das Kind sich auch wieder lösen muss von den Eltern. Wenn es etwa (innerlich) sagt: „Ich nehme jetzt das Leben von euch, so wie ich es bekommen habe. Und ich mache etwas Eigenes daraus“.