Die Toten und wir

Dieser Blogbeitrag erscheint am 25. November 2018. In den evangelischen Kirchen ist dies der Totensonntag, der in besonderer Weise dem Gedenken und der Erinnerung an die Verstorbenen dient. Außerdem ist dies der Novemberbeitrag im Blog und der November ist in besonderer Weise der „Totenmonat“. Auf der katholischen Seite haben wir am Beginn des Novembers die Feiertage Allerheiligen und Allerseelen, am Ende eben den schon erwähnten Totensonntag und am Wochenende davor den Volkstrauertag, ursprünglich zum Gedenken an die gefallenen Soldaten im ersten Weltkrieg.

Gedenkstein am Grundewald in Berlin-Zehlendorf

In diesem Blogbeitrag soll es also um die Toten gehen und darum, wie sich unser Verhältnis zu den Toten in der Aufstellungsarbeit zeigt.

Die Toten können in das Leben der Lebenden hineinwirken – im Guten wie im Schlimmen

Ziemlich am Beginn der Familienaufstellungen stand bereits die Erfahrung, dass es Menschen gibt, die insbesondere schwere Schicksale in ihrer Familiengeschichte in gewisser Weise „nachahmen“ oder „reinszenieren“. Wir sprechen dann von einer Verstrickung. Meist handelt es sich um Tote in dem Familiensystem und zwar besonders um Mitglieder des Systems, die keinen oder keinen guten Platz in diesem Familiensystem hatten. Die vergessen wurden, die verschwiegen wurden oder in Gedächtnis der Lebenden entweder an den Rand gedrängt oder sogar ganz verdrängt wurden. Und wenn wir mit diesen Vergessenen oder Ausgeschlossenen Familienmitgliedern identifiziert sind, dann wirken diese Toten wie eine Belastung. Sie schränken die volle Annahme und den vollen Vollzug des eigenen Lebens ein.
Manchmal zieht es dann einen Menschen selber noch zu Lebzeiten zu den Toten, manchmal führt es dazu, sich Teilen des Lebens zu versagen, den diese andere Person in meinem Familiensystem auch nicht hatten haben können, etwa Erfolg oder eine eigene Familie.

Auf der anderen Seite kann aber von den Toten im Familiensystem eine besondere Kraft wirken. Das ist immer dann der Fall, wenn die Toten geachtet und geehrt werden auch mit ihren schweren Schicksalen. Dann wirken die Toten sich stärkend und heilsam auf die Seele und den eigenen Lebensvollzug aus.

Die Toten wirken also in das Leben der Lebenden hinein – sowohl Guten wie im Schlimmen. Im Rahmen der Aufstellungsarbeit haben wir es meist zunächst einmal meist mit Letzterem zu tun. Wo der Mensch im Einklang mit den Schicksalen der Toten seiner Sippe lebt, gibt es keinen Anlass für eine Aufstellung. Aber auch in den Aufstellungen zeigt sich die zweite Seite der Wirkungen der Toten: Meist in der Lösung. Wenn wir dem Schicksal der Toten zustimmen, wie es war, dann erhalten wir von den Toten oft einen Segen für das eigene Leben. Ein typischer Satz, der dann in Aufstellung mitunter verwendet wird, lautet etwas: „Bitte schau freundlich auf mich, wenn ich jetzt in meinem Leben lebe, was dir verwehrt war“. Diese Segnung der Nachgeborenen wird in den Aufstellungen in aller Regel von den Toten gerne gegeben und hat oft eine fundamental erleichternde Wirkung auf die Nachgeborenen.

Die toten Täter

Besonders schwer tun wir uns aber mit dieser seelischen Bewegung, wenn die Toten in unserem Familiensystem auch Täter waren. Dazu ein Beispiel:

In einer Aufstellung ging es um das Anliegen einer Frau, die keine dauerhafte Partnerschaft eingehen konnte. In der Aufstellung entwickelte sich der Fokus auf ihre Großmutter. Diese hatte fünf Ehemänner – und alle wurden (vermutlich) von ihr vergiftet. Und doch war es in der Aufstellung evident, dass es entscheidend war, dass sie, die Frau mit dem Anliegen in der Aufstellung, den Segen von ihrer Großmutter erhielt. Der lösende Satz lautete sinngemäß: „Bitte, segne mich, wenn ich bei einem Mann bleibe. Auch wenn du das nicht getan hast.“

Wie gesagt: In der Aufstellung war es unmittelbar evident, dass hier die Lösung lag: Im Segen der Großmutter, die – wahrscheinlich – eine fünffache Mörderin war.

Das fordert uns einiges ab und es ist sehr verständlich, dass beim Lesen oder erzählt Bekommen einer solchen Geschichte sich innerer Widerstand regt. Mit den Tätern, mit Mördern gar, sollen wir uns gemein machen? Und doch ist es – zumindest für mich, der ich diese Aufstellung miterlebte – ein eindrückliches Beispiel dafür, wie die Toten, auch die toten Täter und Täterinnen, heilend im Familiensystem der Nachgeborenen wirken können. Auch wenn dieses Wirken oberflächlich betrachtet jeglicher Logik entbehrt.

Aber kommen wir noch einmal auf den Ausgangspunkt zurück: Dem Andenken und auch der Ehrung der Toten. Ich hatte eingangs vom Totensonntag und dem davor liegendem Volkstrauertag geschrieben. Auch hier tun wir uns naturwüchsig nicht so leicht, auch diese Toten, die Soldaten der Weltkriege, die in aller Regel auch Täter waren und getötet haben, in unserer ehrendes Angedenken mit einzubeziehen.

Ich fand dazu auf der Webseite des MDR ein Zitat aus einer Rede des SPD-Politikers und damaligen Reichstagspräsidenten Paul Löbe[1] zum Volkstrauertag 1922:

„Leiden zu lindern, Wunden zu heilen, aber auch Toten zu ehren, Verlorene zu beklagen, bedeutet die Abkehr vom Hass, bedeutet die Hinkehr zur Liebe, und unsere Welt hat Liebe not.“

Quelle: https://www.mdr.de/religion/religion/volkstrauertag116.html

Über den Umgang mit den Toten

Wenn man im Rahmen von Aufstellungen Tote aufstellt – eigentlich werden sie nicht „aufgestellt“, sondern meist hingelegt, d.h., sie liegen auf dem Boden – ergibt sich oft die folgende Bewegung:

Zunächst bewegen sich Stellvertreter der Lebenden auf die Toten zu. Manchmal stehen sie dann vor den Toten. Manchmal knien Sie vor Ihnen und halten vielleicht eine Hand. Manchmal legen Sie sich auch eine Zeit lang zu Ihnen.

Und nach einiger Zeit erheben sich die Lebenden wieder, drehen den Toten den Rücken und lassen Sie hinter sich. Und die Gesichter der Lebenden, welche die Toten so hinter sich lassen, wirken geklärt. Und die Toten sind in ihrem Frieden.

Noch etwas anderes kann man in den Aufstellungen beobachten: Die Toten, insbesondere auch wenn Sie Täter waren, fühlen sich den anderen Toten und besonders innig ihren toten Opfern zugehörig und mit ihnen auf eine besondere Art verbunden. So entsteht Frieden im Bereich der Toten. Wenn wir sagten: Die Toten wirken auf das Leben der Lebenden hinein so können Sie auch auf diese Weise in das Leben der Lebenden hinein wirken: Sie stiften inneren Frieden.
Wenn die toten Täter bei ihren toten Opfern liegen und wenn von den Nachgeborenen beide gleichermaßen in den Blick und in das Herz genommen werden – mit ihren Taten, ihren Verstrickungen und ihren Schicksalen – und wenn beiden in dieser Weise gedacht wird, dann entsteht Frieden. Bei den Toten und bei den Lebenden.

Totengebet für Hitler

Ich las kürzlich etwas – die genaue Quelle habe ich leider nicht mehr präsent – über ein Seminar, dass ein chassidischer Rabbi gehalten hat. Und da hat er an einem Abend abschließend gemeint, das jüdische Volk würde erst dann seinen Frieden mit sich selbst und mit den arabischen Nachbarn finden, wenn auch der letzte Jude das Totengebet für Adolf Hitler gesprochen hat. Es wird geschildert, dass die Teilnehmer, überwiegend Juden, an diesem Abend das Seminar einigermaßen sprachlos verließen.
Am nächsten Morgen geschah etwas Besonderes: Ein Psychoanalytiker aus New York, dessen ganze Familie von den Nationalsozialisten ermordet wurde, betrat den Raum. Und es veränderte sich sofort die Atmosphäre. Sein Gesicht war gezeichnet von den inneren Kämpfen einer schlaflosen Nacht, aber alle spürten, dass er in dieser Nacht genau dies getan hatte: Das Totengebet für Adolf Hitler gesprochen. Und sein Gesicht soll, durch all die Erschöpfung hindurch, Frieden und Heil ausgestrahlt haben.

Da liegt eine Größe darin. Und wir betreten damit ein Gebiet jenseits von Gut und Böse.

Kann man eine solche Haltung verlangen? Sicherlich nicht. Kann man sie gewinnen? Ja, aber es ist nicht leicht.

Für uns Deutsche aber scheint mir, es wäre schon etwas gewonnen, wenn es uns gelingt, auf die Toten zu schauen, auf die Täter gleichermaßen wie die Opfer. Und sie zusammen im Reich der Toten liegen zu sehen. In Frieden. Es könnte sein, dass damit mehr bewirkt wird in der Seele als mit allem demonstrativem Aktionismus „gegen Rechts“. Und die tatsächlichen rechtsradikalen Erscheinungen könnten so zumindest gemildert werden.

Auch dies, so scheint mir, bedeutet „bedeutet die Abkehr vom Hass, bedeutet die Hinkehr zur Liebe, und unsere Welt hat Liebe not“ – um es mit Paul Löbe zu sagen.

 

[1] Das Paul-Löbe-Haus in Berlin, ein Funktionsgebäude mit Abgeordnetenbüros und Sitzungssälen des deutschen Bundestages, ist nach ihm benannt, der auch der Alterspräsident des ersten deutschen Bundestages 1949 war.