Wenn die Hinbewegung zu den Eltern nicht möglich ist

Jeder Mensch und allgemein jedes Lebewesen ist bedürftig. Ein Lebewesen bedarf bestimmter Dinge, um Leben zu können. Diese Dinge müssen wir nehmen. Ohne dieses Nehmen haben wir auch nichts zu geben. Unser Körper benötigt zum Beispiel Flüssigkeit und Nahrung. Diese müssen wir nehmen, wir müssen sie in uns aufnehmen. Ohne dieses Nehmen können wir nicht Geben, sind wir nicht leistungsfähig.

Wenn immer ein Bedarf, ein Bedürfnis da ist, muss zu seiner Befriedigung etwas genommen werden. Und zum Nehmen, zur Aufnahme dessen, was unser Bedürfnis stillt, müssen wir uns dort hin bewegen, wo das Bedürfnis gestillt werden kann. Es bedarf einer Hinbewegung zur Quelle, um zu nehmen.

Eine Grundtatsache, die im Familienstellen immer wieder deutlich wird, ist: Die Kinder nehmen von den Eltern. Weil die Kinder bedürftig sind und die Eltern die Quelle sind. Das ungeborene Kind im Mutterleib nimmt aus dem Körper der Mutter, uns zwar auf Gedeih und Verderb. (Wenn z.B. bei der Mutter eine Intoxikation mit Alkohol besteht, erfährt auch das Ungeboren eine solche Intoxikation. Es gibt hier für das Kind keine Wahl.) Nach der Geburt setzt die aktive Hinbewegung zur Quelle ein, die ein Bedürfnis stillen kann. Die Bewegung des Säuglings zur Mutterbrust ist eine solche ursprüngliche Hinbewegung.

Bei der Hinbewegung der Kinder zu den Eltern geht es aber nicht nur um die körperlichen Bedürfnisse. Auch im geistig-seelischen Bereich muss das Kind, um sich entwickeln zu können, nehmen von den Eltern. Dazu muss es sich auf die Eltern, die Quelle, hin bewegen, um nehmen zu können. Das ist ein aktiver, kein passiver Prozess.

Oft ist diese ursprüngliche Hinbewegung der Kinder zu den Eltern gestört. Dafür gibt es vielerlei Gründe und Ursachen, das Resultat bleibt aber gleich: Das Leben kann nicht voll von den Eltern genommen werden, so wie es von ihnen kommt und ohne Abstriche. Und dies führt zu einem eingeschränktem eigenen Lebensvollzug und oft zu Krankheiten. Im Rahmen von Familienaufstellungen ist es daher eine Grundfigur in den Bewegungen der Seele, diese Hinbewegung der Kinder zu den Eltern nachzuholen und zu heilen, wo sie ursprünglich gehemmt oder unterbrochen war. Wichtig ist dabei der Grundsatz, dass die Kinder auf die Eltern zugehen und nicht umgekehrt.

Mitunter erweist sich aber in einer Aufstellung, dass selbst diese nachträgliche und in gewisser symbolische Hinbewegung zu den Eltern nicht möglich ist. Die Hinbewegung scheitert auch in der Aufstellung. Manchmal ist für die Person, die aufstellt, nicht möglich, auf die Eltern oder auf einen Elternteil zu zu gehen. Die innere Hürde ist zu groß. Manchmal sind die Eltern oder ein Elternteil einfach nicht erreichbar auf der seelischen Ebene, sie sind wie abwesend, oft wirken sie versteinert. Manchmal entziehen sich auch Eltern oder Elternteile aktiv der Hinbewegung der Kinder. Man sieht dies in Aufstellungen, wenn die Stellvertreter der Eltern vor der Annäherung der Kinder zurückweichen, wie es manchmal vorkommt, wenn Kinder verlassen wurden oder ohne Not weggegeben wurden oder auch wenn bei Geburt eines Kindes nach einem gescheiterten Abtreibungsversuches.

In dem letztgenannten Fall scheitert die Hinbewegung, weil Eltern oder ein Elternteil sich dem entzieht. Das Kind wird verlassen oder zurückgewiesen, weil es den Plänen zur Selbstverwirklichung der Eltern im Wege steht, es ist also eine willkürliche Entscheidung seitens des Elternteils.
Dies muss unterschieden werden von frühen Trennungen zwischen Eltern (und insbesondere Müttern) von kleinen Kindern aufgrund schicksalshafter Ereignisse wie Tod, medizinischen Notlagen oder Krieg und Vertreibung. Die Seele des Kindes weiß um diesen Unterschied zwischen Schicksal und willkürlichen Entscheidungen.[1] Dieser Beitrag befasst sich mit den Wirkungen solcher Trennungen, die auf Willkürentscheidungen ohne Not beruhen.

Was bleibt? Das Leben!

Was bleibt für ein Kind in einem solchen Fall dann noch? Im Rahmen von Aufstellungen haben wir es ja mit einem Kind zu tun, das erwachsen ist. Aber im Erwachsenen lebt eben immer noch das bedürftige Kind. Was also bleibt für dieses innere Kind, wenn die Hinbewegung – auch symbolisch – nicht möglich ist? Was tatsächlich bleibt ist: Das Leben selber.

Wir hatten gesagt: Das Kind muss nehmen von den Eltern, es hat hier keine Wahl. Und das aller elementarste im Leben ist: Von meinen Eltern habe ich mein Leben. Ohne sie wäre ich nicht. Das überstrahlt alle anderen Umstände, wie auch immer sie gewesen sein mögen. Aber auch dieses Nehmen ist ein aktiver, kein passiver Prozess. Es ist zwar faktisch, zumindest auf der körperlichen Ebene schon passiert. Wenn ich lebe, dann lebe ich, weil es meine Eltern gab, so wie sie waren und sie mich gezeugt haben und ich auf die Welt gekommen bin, mit genau den Umständen, wie sie eben waren.
Aber dieser Umstand, der faktisch so ist, muss auch in gewissem Sinne geistig noch nachvollzogen werden. Die Frage dahinter ist: Kann ich „JA“ sagen zu meinem Leben, so wie es ist und wie es sich entwickelt hat in den Umständen, die waren, wie sie eben waren? Oder noch anders gefragt: Wenn ich mein Leben betrachte mit allen Einschränkungen und Beschwernissen und emotionalen Wunden – sage ich dann, es ist gut das ich lebe, auch mit diesen besonderen Schwierigkeiten? Oder wäre es besser, wenn ich nicht leben würde, weil die Bedingungen für dieses Leben zu defizitär waren, sie hätten anders sein sollen? Es zeigt sich oft, dass ohne dieses bewusste Nehmen des Lebens, so wie es ist und wie es war, der Lebensvollzug eingeschränkt bleibt.

Was noch bleibt: Die Narben!

Die bisherige Antwort, auf die Frage, was bleibt für das Kind, wenn die liebevolle Hinbewegung zu den Eltern nicht möglich ist, es bleibe ja immer noch das Leben selber, ist aber unvollständig. Sie muss ergänzt werden um einen anderen Aspekt. Was nämlich noch bleibt, ist der Schmerz und die Erinnerung an den Schmerz ganz tief in der Psyche und auch in der Seele. Wenn z.B. ein neugeborenes Kind noch vor der Geburt von seinem Vater verlassen wird, der mit diesem Kind und dieser Familie nichts zu tun haben will, dann empfängt es eine Botschaft, die es ein Leben lang begleitet und die sich in vielfältiger Weise im späteren Leben auswirken kann, insbesondere wenn es um Vertrauen und Selbstliebe geht.

Und auch dieser fundamentale Schmerz der Verlassenheit und des Nich-Gewollt-Werdens, den das kleine Kind als Prägung erfährt (erneut: ohne eine Wahl dabei zu haben) muss gewürdigt werden.
Es kann sich als notwendig erweisen, im späteren Erwachsenenleben diesem Schmerz, der damit verbundenen Trauer oder auch Wut, einen Raum zu geben, in dem dieser empfunden werden kann.

Die Wunde, die hier entstanden ist, kann dadurch nicht ungeschehen gemacht werden. Aber sie kann heilen. Was zurückbleibt, ist eine Narbe. Und im besten Fall tragen wir diese Narbe dann mit Würde, ohne sie verstecken zu wollen vor der Welt. Das ist die andere Seite des Nehmens des Lebens von Eltern mit allem was dazugehört. Auch die Narben gehören dazu. Die entscheidende Frage ist hier: Ist es eine noch offene Wunde oder ist es eine Narbe aus der Vergangenheit, was bedeutet, was einmal war, ist eben vergangen. Es war so, dort und damals, und es hat mich geprägt. Und trotzdem nehme ich das Leben im Hier und Jetzt – auch mit dieser Narbe!

Noch etwas ist wichtig in diesem Zusammenhang. Die Reaktion der Seele auf die ursprüngliche Wunde ist häufig, dass ein innerer Teil von uns abgespalten wird. Dieser innere Teil wird sozusagen ins Exil geschickt. Das ist eine Überlebensstrategie. Aber irgendwann muss dieser innere Teil wieder heimgeholt werden. Sonst hindert das Überleben das Leben.

Genau dieser Heimholung dient der Prozess, die ursprüngliche Wunde und die damit verbundenen Emotionen noch einmal zu erleben. Wir sagen damit dem abgespaltenem inneren Teil in uns: Jetzt darfst du da sein! Jetzt wende ich mich dir zu. Was damals als Kind nicht möglich war, weil es zu schmerzhaft war, ist jetzt möglich, weil ich erwachsen bin. In dieser Zuwendung zur Wunde liegt die Verwandlung der offenen Wunde in die Narbe. Die Wunde muss ans Licht, im Dunklen ist die Heilung der Wunde schwer möglich.

Was hier angesprochen ist, ist das verletzte innere Kind in uns. Was ist hier die Aufgabe? Die Aufgabe ist, das verletzte innere Kind zunächst einmal heimzuholen, ihm einen sicheren Platz in meinem Inneren zu geben. Und dann kann der erwachsene Teil in mir das innere Kind sozusagen „nachnähren“. Dies geschieht, wenn ich als Erwachsener meinem inneren Kind all die Aufmerksamkeit, Liebe, Fürsorge und Anteilnahme gebe, die das Kind so schmerzhaft vermisst hat. Dann kann das innere Kind in mir, das durch die Abspaltung im Alter des Schmerzes stehen geblieben ist, wachsen und älter werden. Auf diesem Weg wird aus der Wunde die Narbe.

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[1] Ich kann mich nicht erinnern, dass bei einer schicksalshaften Trennung der Eltern vom Kind die Hinbewegung zu den Eltern in einer Aufstellung gescheitert wäre.