Hier geht es jetzt um die fünfte von insgesamt sieben seelischen Urwunden, welche ich in dem einleitenden Überblickartikel zu dieser kleinen Serie angeführt hatte. Das Thema ist hier, auf eine fundamentale Weise betrogen zu werden. Wie immer in den Beiträgen zu dieser Serie geht es natürlich nicht um jede beliebige Unwahrheit, die auffliegt. Es wird kaum zu einer seelischen Urwunde kommen, wenn ein etwas älter werdendes Kind feststellt, dass es den Weihnachtsmann gar nicht gibt, dass es nur ein Schauspiel war. Nein, hier sind Geschehnisse gemeint, welche die Seele des kleinen (und manchmal auch nicht so kleinen) Kindes in den Grundfesten erschüttert. Es muss die Qualität eines schweren Vertrauensbruchs haben.
Was kann das sein? Zum Beispiel, wenn das Kind über die wesentlichste Grundlage seiner Existenz überhaupt im Unklaren gelassen oder direkt belogen wird, nämlich die Frage, wer die Eltern dieses Kindes sind. Das passiert mitunter im Rahmen der Adoption von noch sehr kleinen Kindern, wenn die Pflegeltern – meist durchaus aus guter Absicht heraus – dem Kind gegenüber sich als die biologischen Eltern ausgeben. Oder wenn eine Mutter einem Kind den wirklichen Vater verschweigt, weil es in einer außerehelichen Beziehung gezeugt wurde, was dann aber keiner wissen darf, eben auch das Kind nicht.
Eine andere Form wäre, wenn die Grundannahme des Kindes, dass die wichtigen Erwachsenen in seinem Leben zu seinem Wohle handeln, scheinbar gegeben ist – bis sich dann irgendwann herausstellt, dass die Erwachsenen das Kind hier bewusst getäuscht und gegen das Kinde gehandelt haben. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn das Kind Erbe eine größeren Vermögens ist, welches den Eltern bis zur Volljährigkeit treuhänderisch anvertraut wurde und dann stellt sich heraus, dass dieses Vermögen unterschlagen wurde.
Es gibt noch eine andere Erscheinungsform, die inzwischen auch im Deutschen meist mit dem englischen Begriff „Gaslighting“ bezeichnet wird. Hiermit ist eine Manipulationstechnik gemeint, die sich innerhalb vertrauter und enger Beziehungen abspielt und welche darauf abzielt, eine Person in ihrer Realitätswahrnehmung oder ihrer Selbstwahrnehmung nachhaltig zu verunsichern. Meist geht es darum, dass bestimmte Wahrnehmung oder Erlebnisse des Kindes einfach abgestritten oder lächerlich gemacht werden. Dies kann etwa vorkommen, wenn ein Kind z.B. durch den Stiefvater mit (mehr oder weniger implizitem) Wissen der Mutter oder Duldung durch die Mutter sexuell missbraucht wird. Wenn dann das Kind der Mutter, den Vorfall erzählt, streitet sie dies als unmöglich ab oder sagt, das Kind bilde sich das nur ein.
Die Folgen des Vertrauensbruchs
Die seelischen Folgen dieser Urwunde sind in erster Linie darin zu sehen, dass das Urvertrauen nachhaltig beschädigt ist. Die Verlässlichkeit der persönlichen Welt ist in Frage gestellt. Es stellt sich dagegen eine tiefe, existenzielle und übergreifende Verunsicherung ein. Wie sich das konkret ausspielen kann, da ist die Palette recht breit gefächert. Depression, Angstzustände oder Panikattacken können die Folge sein, dissoziative Phänomene aber auch im extremen Fall psychotische Phänomene des Wirklichkeitsverlustes. Es muss aber nicht immer so auffällig sein, manchmal fällt es einfach schwer, wieder Vertrauen zu anderen Menschen zu fassen und eine engere Bindung einzugehen. Oder es stellen sich chronische Selbstzweifel ein. Auch eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung kann hier ihre Ursache haben, was es schwer macht, in die Tat zu kommen.
Was hier helfen kann
Wesentlich ist natürlich, eine neue, eine andere Erfahrung zu machen, die Erfahrung des „Vertrauen-Könnens“ zu machen. Dazu braucht man natürlich eine andere Person, auf die man auch vertrauen kann. Sehr empfehlenswert ist für den Prozess, den ich gleich grob umreißen will, eine professionelle Begleitung.
Wesentlich scheint mir, einerseits den Vertrauensbruch und wie stark es einen im Grundvertrauen erschüttert hat, noch einmal deutlich wahrzunehmen, also nicht zu verharmlosen, zu leugnen oder zu bagatellisieren. Aber diese Rückerinnerung sollte immer im Modus des „Dort und damals“ erfolgen. Also, ich erinnere mich, durchaus möglichst genau, aber im klaren Bewusstsein der Rückschau. Ich, als inzwischen erwachsener Mensch, erinnere mich, wie es damals war, was ich damals empfunden habe. Und gleichzeitig bleibe ich mir bewusst, dass es jetzt anders ist, dass ich jetzt ein anderer Mensch, ein erwachsener Mensch, bin. Das ich jetzt mehr Handlungs- und Bewältigungsmöglichkeiten habe als damals als Kind. Ich kann jetzt auch die Gefühle von damals noch einmal erleben, ohne dass es mich überfordert und hinwegschwemmt. Und: Heute ist jemand bei mir, der mir wohlgesonnen ist und mich durch diesen Prozess mit Anteilnahme und Einfühlung begleitet, jemand, dem ich vertrauen kann.
Es ist nicht ganz unwichtig, auch die emotionale Qualität von damals noch einmal zu durchfühlen, wenn auch in verminderter Intensität. Die damalige Prägung des Vertrauensverlustes hat sich ja mit genau dieser Emotionsqualität in hoher Intensität eingeprägt. Eine „Umprägung“ mit einer neuen Erfahrung in die Richtung, jetzt ist es anders als damals, jetzt bin ich nicht allein, jetzt ist jemand bei mir, der auf mein Wohl bedacht ist, braucht eben nicht nur die neue Erfahrung, hier kann ich vertrauen, sondern diese neue Erfahrung eben in Anwesenheit genau der ursprünglichen Emotionsqualität. Die wichtigen Erfahrungen werden in unserem Leben dauerhaft durch spezifische Emotionen, so werden sie in dem Teil des Nervensystems, der für unser grundlegendes Lebensgefühl zuständig ist, kodiert und gespeichert, als spezifische emotionale Erfahrungen.