Die seelischen Urwunden – Teil 1: Der Betrachtungsrahmen

Dieser Beitrag ist der erste in einer kleinen Serie von Beiträgen, in denen es um seelische Urwunden gehen soll. In den folgenden Beiträgen soll es um jeweils eine dieser Urwunden gehen, ich meine davon insgesamt sieben verschiedene in der Arbeit mit Menschen bislang beobachtet zu haben. Aber wie gesagt: Mehr dazu in den folgenden Beiträgen.

In diesem ersten Beitrag wird es dagegen um den Bezugsrahmen der Betrachtung der Urwunden gehen. Was genau rechtfertigt diese Bezeichnung „Ur-Wunde“ in Abgrenzung zu weniger schwerwiegenden, wenn man so will, kleineren Verletzungen in der Psyche und auf der seelischen Ebene?

Wir können in einer ersten Annährung sagen: Eine Urwunde entsteht und ein Urschmerz wird empfunden, wenn ein Kind, besonders ein kleines Kind, eine Verletzung von existenzerschütternder Tragweite erfährt. Beispielsweise: Ein neugeborenes Kind wird von seiner Mutter getrennt. Das ist als Erfahrung im Wortsinne markerschütternd. Und alle späteren Enttäuschungen im Leben, die eine ähnliche Qualität habe, also z.B. von jemandem verlassen zu werden, rühren dann im Erleben an diesen Ur-Schmerz, der buchstäblich damals die Welt des kleinen Kindes erschütterte. Die Erinnerung an die Urwunde macht es, dass dieses Thema bei mir ein wunder Punkt ist. Während andere mit ähnlichen Lebensvorfällen im Erwachsenenalter anscheinend gut klar kommen. Aber in mir ist es anders. In mir wirkt in jedem Lebensereignis mit diesem Thema und dieser Qualität nicht nur das gerade aktuelle Geschehen, sondern die damals erschütternde Urwunde. Die schwingt bei mir eben mit und das macht dann das gerade aktuelle Ereignis zu einem „Trigger“, das aktuelle Ereignis wird mit der Emotion von damals, mit der Emotion des Urschmerzes erlebt.

Eine – zugegebenermaßen idealisierte – Vorstellung davon, wie wir in diese Welt eintreten sollten

Ich bediene mich jetzt einer Vorstellung und zwar einer idealisierten Vorstellung. Es geht darum, wie ein kleines Kind, ein Baby, am besten mit der Geburt in diese Welt eintreten kann. Und es geht darum, was ein Mensch in diesem Moment, wo er aus dem Körper der Mutter in das Leben eines getrennten Individuums einritt, am meisten benötigt. Die Vorstellung handelt also davon, wie dieser Nachwuchsmensch – im Trainee-Programm für die nächsten etwa zwei Jahrzehnte – diese Lebensreise unter möglichst guten Umständen starten kann, wie dieser Mensch am besten begrüßt wird. Diese Vorstellung bildet den Kontrast, gegen den die Urwunden, so hoffe ich, deutlich beschrieben werden können.

Die Kontrastfolie, die ich im Folgenden beschreiben möchte, stammt allerdings nicht von mir. Ich bediene mich hier verschiedener Ideen und Formulierungen des bekannten und vor zwei Jahren verstorbenen Arztes und Psychotherapeuten Wolf Büntig.

Stellen wir uns einmal vor, ein Baby durchlebt den Geburtsprozess, der ja auch ein sehr existenzieller Kampf um das Leben ist, und kommt auf diese Welt. Dieses Baby wird nun mit einer völlig anderen, völlig neuen Welt konfrontiert. Diese Welt ist ganz anders als die – im günstigen Fall – Geborgenheit im Mutterleib.

Was sollte dieses Baby nach Möglichkeit in den Augen der bei der Geburt anwesenden Menschen als erstes lesen? Wäre es nicht schön, wenn die Menschen um die Geburt herum, natürlich in erster Linie die Mutter und der Vater, aber eben auch andere Personen wie Hebammen oder weiteres medizinisches Personal, dieses Wesen mit einem Blick begrüßten, des sagt: „Willkommen!“.

Der Blick könnte sagen:

„Hallo, Du! Sei willkommen! Wir sind neugierig auf dich, wer du bist, wie du bist. Du bist jemand, ein Mensch, wie es noch nie einen gegeben hat und nie wieder einen geben wird. Du bist einzigartig. So wie du ist kein anderer Mensch, kein einziger von den etwa ach Milliarden Menschen, die derzeit leben. So wie du, genau so wie du, war noch nie ein Mensch in der ganzen Menschheitsgeschichte. So wie du, genau so wie du, wird auch nie mehr ein anderer Mensch in der Zukunft sein.

Wir freuen uns, dich kennen zu lernen! Wir freuen uns an deinen Besonderheiten und an deiner Entwicklung. Du fügst dem großen Konzert des menschlichen Lebens deinen ganz eigenen Ton hinzu. Ohne dich würde ein Ton fehlen in der großen Symphonie und diesen Ton würden wir schmerzlich vermissen. Wir sind sehr gespannt auf deine ganz eigene Lebensmelodie. Und solltest du sie einmal vergessen, diese eigene Lebensmelodie, werden wir sie die gerne vorsummen, damit du dich wieder an sie erinnerst.

Wir lieben dich ganz unbedingt! Du bereicherst unser Dasein um genau dein Dasein, so wie du bist und so wie du dich entwickeln wirst. Ohne dich wäre die Welt ärmer. Und wir wollen erfahren, wer du wirklich bist.“

Liebe Leserin, lieber Leser, vielleicht verbleibst du noch einen Moment in der Vorstellung, wie es wäre, wenn jeder neue Erdenbürger so empfangen würde. Und ja, all dies können Babys nur aus einem Blick herauslesen und herausspüren, sie sind in dieser Phase noch sehr offen, ohne Filter und extrem empathiebegabt. Vielleicht erscheint dir die Vorstellung übertrieben harmonisch, ja geradezu kitschig? Oder du findest sie zumindest unrealistisch? Da könntest du durchaus Recht haben. Und doch brauchen wir diesen Vergleich, um uns dem Thema der Urwunden zuwenden zu können.

Was alles so dazwischen kommen kann

Natürlich sieht die Realität der Geburt, insbesondere in den Krankenhäusern, oft anders aus. So ist das Licht der Welt, welches das Baby erblickt, oft erst einmal geradezu schmerzhaft hell nach der langen Dunkelheit. Und oft wird die Nabelschnur unnötig schnell durchtrennt, so dass der eigene Atem sich nicht sanft entfalten kann, sondern durch einen Erstickungsreflex ausgelöst wird. Dies sind nur zwei Aspekte, die Liste ließe sich verlängern.

Aber ich will ja hier gar nicht so auf die biologischen Gegebenheiten hinaus, sondern auf die psychischen und seelischen Urwunden, die wunden Punkte, die psychischen Achillesfersen, die sich aus der Abweichung vom Idealbild einer Begrüßung im Leben ergeben (können).

Nach meinen Beobachtungen und Erfahrungen sowohl bei mir selbst wie auch bei den Menschen, mit denen ich arbeiten durfte, sehe ich sieben verschiedene mögliche Urwunden, sieben verschiedene Färbungen oder sieben verschieden Tonarten, welche eine Urwunde annehmen kann. Es sind dies, ohne Wertung in der Reihenfolge der Nennung:

  • Verlassen werden / getrennt werden
  • Nicht gesehen werden, nicht beachtet werden
  • Verkannt oder verwechselt zu werden
  • Nicht oder nicht vollständig da sein dürfen (Du bist zuviel!)
  • Betrogen zu werden, hintergangen zu werden
  • Nicht oder nicht genug geliebt zu werden. Auch: Nicht oder nicht genug genährt zu werden. (Nährung sowohl körperlich wie auch emotional verstanden)
  • Gedemütigt werden oder eklatante Ungerechtigkeit zu erleben

Zu jeder dieser Ausprägungen oder Einfärbungen werden in den folgenden Teilen dieser Serie einen eigenen Beitrag schreiben.

Ich möchte aber hier noch etwas Allgemeines anmerken. Wenn wir uns die verschieden Urwunden in der Liste anschauen, dann bewerken wir, dass sie alle einen schmerzhaften Mangel oder eine schmerzhafte Enttäuschung beinhalten. Das Kind, insbesondere das kleine Kind, erfährt das Fehlen von etwas, was es erwartet hat (meist höchst unbewusst erwartet hat) und von etwas, was es für die gedeihliche Entwicklung und das Wachstum benötigt. Das ist der Ur-Schmerz in der Urwunde: Etwas fehlt, was bitter und dringend benötigt wurde.

Aber, bitte, eines ist noch sehr wichtig sich dabei vor Augen zu führen: Wir reden hier nicht über irgendwelche Enttäuschungen oder Frustrationen im Kinderleben, wie z.B. nein, ich darf keine Süßigkeiten vor dem Mittagessen haben, obwohl ich doch so möchte. Nein, das ist nicht gemeint. Es geht um den existentiellen Mangel, um Dinge, die buchstäblich an Sein oder Nicht-Sein anrühren. Es geht um die existenziellen Bedürfnisse gewollt zu sein, da sein zu dürfen, Verbundenheit und Verlässlichkeit zu erleben, geliebt zu werden, genährt zu werden, erkannt zu werden. Und eben auch: Nicht mutwillig verletzt zu werden, sei es körperlich oder emotional. Über diese Dinge reden wir hier, wenn wir Urwunden und die damit verbundenen Urschmerzen thematisieren.

Vielleicht wird so auch noch einmal deutlicher, warum wir erst die idealisierte Vorstellung einer in jeder Hinsicht vollständigen Entwicklungsumgebung für das neue Mitglied der Menschheitsfamilie benötigten. Nur, um sie als Folie zu verwenden, welche Verletzungen und welche Schmerzen auftreten können. Nicht als normativer Anspruch, so hätte es sein sollen.

Eine deutliche Warnung zur lebensfeindlichen Wirkung von Idealen

Wie gesagt, wir verwenden das Ideal nur, um im Kontrast besser benennen zu können, was gefehlt hat. Damit der Urschmerz einen Namen bekommen kann. Das Leben selber ist nicht ideal und kann es nicht sein. Die Reibung an einer nicht perfekten Welt ist genau das Merkmal des Lebendigen, ohne diese Reibung hätten wir nur Sterilität, und damit Leblosigkeit.

Dass wir solche Verletzungen erleiden, in der einen oder anderen Form und natürlich in unterschiedlichen Ausprägungen der Intensität, ist nicht vermeidbar. Menschen sind fehlbar. Das unterscheidet sie von Automaten oder Robotern. Das Leben selbst macht jede Menge Fehler und Irrtümer, könnte man sagen. Aber in der Fülle des Lebendigen, des geglückten Lebendigen, spielt das nicht wirklich eine Rolle.

Die Warnung vor der lebensfeindlichen Natur eines Ideals ergeht hier vor allem (auch) an die Eltern. Ja, du bist nicht die perfekt Mutter oder der perfekte Vater. Ja, du wirst Fehler machen oder gemacht haben in Bezug auf dein Kind. Auch das ist unvermeidbar. Das Ideal gibt es nicht, es ist nur eine Vorstellung, eine Fiktion, nichts wirklich Lebendiges, ein reines Gedankenkonstrukt. Es geht nicht darum, perfekt zu sein, als Elternteil. Es geht nur darum, sich ein offenes Herz, ein Mitfühlen zu bewahren, wenn es zu Verletzungen beim Kind in dem hier gemeintem Sinn kommt. Nur so bleiben wir Mensch, in unserer Unvollkommenheit (und gerade wegen unserer Unvollkommenheit).

Deswegen hat auch der Satz „Es tut mir leid!“ so eine große Wirkung, wenn er ehrlich und von Herzen so gemeint ist. Es braucht dann keine Rechtfertigungen mehr, keine Diskussion. Diskussion trennt, Mitgefühl und „es tut mir leid“ verbindet (wieder).

Aber auch für die Kinderperspektive, also der Perspektive des inneren Kindes in mir als Erwachsener gilt die Warnung vor dem Ideal! Es kann ja sein, dass du, liebe Leserin und lieber Leser, dich in der Beschreibung der einen oder anderen Urwunde wiederfindest. Du erinnerst die vielleicht, du kannst den Schmerz spüren. Auch, wenn du das konkrete Ereignis vielleicht nicht erinnerst, aber das Gefühl ist da und sehr präsent.

Hier gilt die Warnung in der Form: Jeder Gedanke in die Richtung, „dass hätte nicht passieren dürfen“ ist von zweischneidiger Wirkung. Ja, natürlich hast du Recht, es hätte nicht sein dürfen. Aber genauso ist die Realität: Es war aber so, es ist aber so passiert. Das Leben ist nicht perfekt, nicht ideal. Also: Ja, du hast da eine schwere Verletzung und einen intensiven Schmerz erlebt. Da gibt es nichts zu relativieren. Es war genau so wie es war.       
Und jetzt kommt die zweite Seite des Schwertes: Wenn du daran festhältst, es hätte nicht sein dürfen, hältst du den Schmerz von damals in der Gegenwart. Bitte, das soll kein Vorwurf sein. Es gibt aber auch die Möglichkeit, die Erinnerung zu bewahren aber den Schmerz in der Vergangenheit zu lassen. Damals tat es weh. Und zwar höllisch weh. Aber eben damals.

Wenn das gelingt, wird aus der Urwunde eine Narbe. Nennen wir sie ruhig Ur-Narbe. Aber das ist der Unterschied zwischen einer offenen Wunde und einer Narbe: Wenn du dir irgendeine Narbe an deinem Körper anschaust, kannst du dich erinnern. Ja, das war damals, als ich mit dem Roller gestürzt bin und der große Stein mit der scharfen Ecke mein Schienenbein aufgerissen hat. (Es hat fürchterlich geblutet und der Knochen war zu sehen. Und es tat höllisch weg. Und wegen dem vielen Blut dachte ich damals, ich muss sterben.) Aber wie gesagt, das war alles damals. Du kannst dich erinnern, die Narbe erinnert dich, aber die Narbe schmerzt nicht, wenn du sie ansiehst.

Kurz: Es gilt, aus den Urwunden in der Seele Narben zu machen. Dann sind sie auch kein „wunder Punkt“ mehr, kein Trigger. Es ist nur eine Erfahrung.

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