Es war genau so wie es war – und jetzt darf es gut sein

Dies ist der Blogbeitrag für den November 2021. Der November ist in vielerlei Hinsicht der Totenmonat. Ich hatte dies im Beitrag vom November 2018 näher erläutert und im Beitrag vom November 2019 daran anknüpfend über den Umgang mit den Toten in unserem Leben geschrieben. Hier hatte ich angeführt, dass die Begegnung mit den Toten im Rahmen einer Aufstellung in den meisten Fällen sich in drei groben Schritten vollzieht:

  1. Die Hinwendung zu den Toten
  2. Der Kontakt mit den Toten
  3. Die Abwendung von den Toten und die Zuwendung zum eigenen Lebensvollzug

In gewisser Weise gilt diese Bewegungsform nicht nur Themen, die mit den Toten zu tun haben, sondern in den meisten Aufstellungen, unabhängig vom Thema.

Wenn es etwas Belastendes aus der Vergangenheit gibt, wenden wir uns zunächst dem – meist bislang Verdrängtem – mit gesammelter Aufmerksamkeit zu. Dann gehen wir in Kontakt mit dem, was schlimm war. Und dann lassen wir es hinter uns mit der Perspektive auf die Gegenwart und die nächsten Schritte in unserem Leben.

Die Hinwendung

Ein bekannter Psychotherapeut hat einmal gesagt, die Traumata in unserem Leben oder wo etwas gefehlt hat oder nicht genug vom Nährenden oder zuviel vom Zehrenden war, führen nicht deshalb zu Unglück oder Krankheit im jetzigen Leben, weil es so war, wie es war. Sondern weil wir in unserem jetzigen Leben an den damals gebahnten Reaktionsmustern festhalten, die damals sinnvoll und oft überlebenssichernd waren, in der Gegenwart aber dysfunktional sind. Und diese alten Reaktionsmuster dienen immer der Verdrängung, was einen großen Teil der Lebensenergie kostet. Dieser Verlust der Lebensenergie macht uns krank oder unglücklich, nicht das Ereignis selber.

In der Hinwendung zu dem, was zu wenig war in dem, was nährt und nützt oder zuviel war von dem, was zehrt und schadet, verlassen wir die Verdrängung als Bewältigungsstrategie. Wir bestätigen: Es war genau so wie es war!

Der Kontakt mit dem Schlimmen

Der zweite Schritt, der häufig mit dem ersten fast zusammen fällt, ist dann, dem Erkanntem und Anerkanntem eine Wertung zu geben. Wie war es damals für mich? Wir sagen nach dem „Es war genau so“ als Nachsatz vielleicht „Und es war schlimm für mich, damals“ wenn es eben um etwas Erlebtes geht, was schlimm erlebt wurde. Das „Anerkennen was ist“ bezieht sich also nicht nur auf Tatbestände, wie sie waren, sondern wie es für mich war. Damit wird ein Gefühl erinnert und wieder aktualisiert, ein damaliger bestimmter Erregungszustand im Nervensystem. Auch dies geschieht mit der Haltung „es war genau so wie es eben war“.

Die Abwendung von der Vergangenheit

Und in einem letzen Schritt orientieren wir uns wieder in der Gegenwart, im Hier und Jetzt. Wir nehmen unser Leben in den Blick und den hier fälligen nächsten Schritt. Wir bemerken dabei, dass wir jetzt andere Möglichkeiten haben als damals, in der Vergangenheit. Wenn etwa das Belastende aus dem Familiensystem kam und uns als kleines Kind betroffen hat, so hatten wir damals, als kleines Kind, wenig Möglichkeiten. Kinder sind sehr stark angewiesen auf Schutz und Versorgung, je kleiner, desto mehr. Als Erwachsene haben wir andere Möglichkeiten. Wir können das Verlassen, was uns schädigt und aktiv auf das zugehen, was und nährt und nützt oder auch gegen das angehen, was uns bedroht.

Die Heilung von Traumatisierungen

Es ist nun nicht so, dass die drei beschriebenen Schritte eine Art „Rezeptur“ für eine Aufstellung sind, dass man also für die Durchführung einer Aufstellung diese drei Schritte so planen könnte. Tatsächlich geht man ja in der Leitung einer Aufstellung so vor, dass man erst einmal abwartet, was sich zeigt und dann damit arbeitet mit der Frage: Was ist hier der nächste Schritt, der getan werden will oder was ist der Satz, der gesagt werden will? Erst in der Rückschau stellt sich heraus, dass sich viele Aufstellungen in ihrem Verlauf im Nachhinein als Abfolge dieser drei groben Schritte beschreiben ließen, auch wenn dies im Moment der Durchführung einer Aufstellung nicht im Bewusstsein war.

Wir hatten gesagt, dass schwierige Bedingungen in der Vergangenheit uns in der Gegenwart Probleme machen können, nicht weil die Vergangenheit so war wie sie war, sondern weil wir in unserem Nervensystem Reaktionsmuster gebahnt haben, die damals die vielleicht einzige Möglichkeit waren, die jetzt aber hinderlich sind. Das reine Verdrängen, wie es damals war, heilt nicht. Was heilt wäre, sich dem Damals noch einmal zuzuwenden, es noch einmal in seinem spezifischen Erregungsmuster zu erleben und dabei gleichzeitig zu erleben, dass die Situation sich geändert hat, jetzt nicht mehr dieselbe ist.

Warum brauchen wir aber diese Bewegungen, uns den alten Verletzungen von damals noch einmal – erkennend und anerkennend – zuzuwenden und das alte Erregungsmuster noch einmal neu zu fühlen? Es scheint so zu sein, dass ein Umlernen in der Reaktion der alten Erregungsmuster am besten gelingt, wenn genau dieses Erregungsmuster noch einmal neu erlebt wird, jetzt aber in einem geschützten und unterstützendem Kontext, in dem Ressourcen mobilisiert werden, die ich damals nicht hatte aber ja jetzt habe. Diese Gleichzeitigkeit beider Momente, der alten Erregung im Nervensystem und der Wahrnehmung der jetzt veränderten Situation mit anderen Möglichkeiten ist der Schlüssel. Ohne die Wahrnehmung des alten Erregungsmusters bleibt es entweder bei der Verdrängung oder bei einer rein kognitiven Erinnerung, die keine Kraft hat. Ohne den zweiten Teil, in der alten Erregung die jetzige Situation mit den neuen Möglichkeiten in einem unterstützenden Setting zu erleben, droht einen Retraumatisierung. Erst beides zusammen bringt die fundamentale Veränderung.

In der Traumatherapie geht man ähnliche Wege. Auch hier geht es darum, sich die Auslöser Ereignisse in der Vergangenheit noch einmal zu vergegenwärtigen, während man gleichzeitig in dem Gewahrsein bleibt, jetzt in einer geschützten, liebevoll unterstützenden und sicheren therapeutischen Umgebung zu sein. Die Erregung des Nervensystems aus dem Damals wird also nicht vermieden, sondern in einer bewältigbaren Intensität noch einmal neu aktiviert, aber gleichzeitig wird eine andere Art des Durchlaufes durch die Erregung und ihres Abbaus im Nervensystem gebahnt in dem Bewusstsein, dass ich jetzt sicher bin und andere Möglichkeiten der Bewältigung habe.

Auch hier könnte in einer Art Kurzformel sagen: Im Kern geht es darum, gleichzeitig zu sehen spüren, dass es genau so war wie es war (und dass es schlimm und überfordernd war) und dass es jetzt anders ist. Das Schlimme darf genau so wie es war gewesen sein. Und dann darf es gewesen sein. Und jetzt darf es gut sein.