Der dritte Archetyp: Der Vermittler

Vorbemerkung: Dieser Text ist Teil einer 12-teiligen Serie über bestimmte Gestalten am Urgrund einer jeden menschlichen Seele, die wir in der Psychologie mit der Bezeichnung „Archetyp“ belegen. In jedem der 12 Teile wird jeweils einer der 12 wesentlichen Archetypen vorgestellt. Diese Gestalten gibt es bei jedem Menschen als innere Personen. Allerdings spielt nicht jede einzelne Gestalt in jedem Leben eine bedeutende Rolle. In Schauspiel meines Lebens gibt es natürlich Hauptrollen, aber eben auch Nebenrollen und Komparsen. Manche dieser kollektiven Urgestalten in mir kenne ich bis zu einem gewissen Grade. Andere sind mir völlig unbekannt und wenn sie dann doch einmal kurz in einer Szene auftauchen, bin ich überrascht.   

Manchmal erweist es sich in Familienaufstellungen als sinnvoll oder sogar notwendig, einen der Archetypen über Stellvertreter aufzustellen. Entweder, weil das Thema eng mit diesem Archetypus verbunden ist oder weil bei der Person, um die es geht, dieser Archetypus erkennbar dominant im Vordergrund steht. 
Die Beschreibungen des jeweiligen Archetyps sollen dich, liebe Leserin / lieber Leser, anregen, diese Gestalt in dir zu entdecken und vielleicht auch, mit ihr Kontakt aufzunehmen und in einen Austausch zu treten.

Einen Artikel darüber, was Archetypen allgemein sind und wie sie in unserer Seele wirken, findest du hier. Das dort gesagte gilt übergreifend für
alle Archetypen.

Widmung:

Diese Artikelserie ist meinem großen Lehrer Peter Orban gewidmet, der im Oktober des vergangenen Jahres verstorben ist. Lieber Peter, alles was ich über Archetypen meine verstanden zu haben, habe ich von dir. Wenn ich jetzt mein Verständnis der Archetypen beschreibe, möge dies ein Indiz dafür sein, dass deine Saat aufgegangen ist. Ein wenig lebst du weiter in denen, die von dir lernen durften.

Der dritte Archetyp verwaltet in mir den Bereich der Aufnahme, Verarbeitung und Weitergabe von Wissen. Diese innere Gestalt ist zuständig für intellektuelle Interessen, für den Austausch über gedankliche Konzepte und entsprechende Diskussionen. Interesse für fast alles, eine ausgeprägte Neugier und eine spielerische Offenheit für neue Informationen und Ansichten zeichnet diesen Archetyp aus. Er ist hochgradig kontaktfreudig und in jeder Hinsicht beweglich und anpassungsfähig, vor allem natürlich geistig beweglich. Überhaupt scheint diese innere Person, wenn sie im Drama meines Lebens eine tragende Rolle spielt, nie wirklich zur Ruhe zu kommen, sie ist immer unterwegs und stets auf der Suche nach neuen Informationen. Diesem Archetyp ist eine gewisse Leichtigkeit und Unbeschwertheit zu Eigen, man ist hier abgesehen von einem intellektuellen Interesse unbeteiligt, ja geradezu beliebig.

Es geht hier also um Wissen und Information und den Austausch derselben. Damit im Zusammenhang steht auch – neben der reinen Kommunikation auf der Sachebene – noch ein weiterer Zuständigkeitsbereich: Dieser Archetyp ist auch ein Botschafter, ein Vermittler zwischen verschiedenen Parteien, der aber selber keine Aktien in dem Spiel hat. Der Überbringer der Botschaften der jeweils anderen Partei ist selber parteilos. (Das es trotzdem in der menschlichen Geschichte nie unüblich war, diesen Botschafter einen Kopf kürzer zu machen, wenn die Botschaft unangenehm ist, ist nicht seine Schuld.)

In der Lebendigkeit und Offenheit für jede Information und für jeden Standpunkt hat dieser Archetyp etwas sehr junges an sich, er wirkt jugendlich, manchmal vielleicht sogar fast kindlich mit seiner unschuldigen Wissbegier. Es kann natürlich auch einmal vorkommen, dass die zu überbringende Information ein wenig ausgeschmückt wird. Es soll ja schließlich eine interessante Geschichte sein, die man zu erzählen hat. Wenn sich dies mit einer gehörigen Portion Phantasie paart, können die erzählten Geschichten auch recht phantastisch ausfallen.
Da dieser Archetyp im Medium der Information, des Verstandes und des Intellekts lebt, wirkt er sehr ätherisch und seltsam körperlos. Es geht von ihm eine feenhafte Aura aus.

Das Titelbild dieses Beitrages bildet diese Charakteristika dieses Archetyps ab. Die Welt dieses Archetyps ist bunt, vielfältig, phantasievoll bis fantastisch und vor allem leicht und luftig. Wenn wir uns diese seelische Gestalt in uns als Person, als Personifizierung vorstellen, dann kann man zu einem Bild wie dem unten stehenden gelangen. Wir sehen hier Hermes, den Götterboten in der griechischen Mythologie. Bei den antiken Römern war dieselbe Gestalt als Merkur bekannt. Die Gestalt ist unterwegs, hat die Stadt hinter sich gelassen. Sie hat eine Botschaft zu überbringen, die sie gesiegelt (versiegelt?) in der Hand hält. Der Götterbote ist mit Flügeln an den Füßen und an der Kopfbedeckung aufgerüstet, sie ist im Wortsinne "leichtfüßig". Man kann sich vorstellen, dass dieser Bote der Götter schnell unterwegs ist, aber er wirkt nicht angestrengt, alles ich spielerisch und er scheint auch eher zu schweben als zu laufen.

Der Archetyp „Der Vermittler“ als Personifizierung

Wie gesagt: Wir müssen uns dies Person als recht jung und auch als unbeschwert und optimistisch vorstellen. Diese Gestalt macht sich keine Sorgen. Es kümmert sie auch nicht, welche Folgen die überbrachte Botschaft vielleicht auslösen wird, das ist alles nicht seine Sache.

Die Personifizierung als "Der Vermittler"

Wir hatten schon darauf hingewiesen, dass dieser Archetyp kaum Körperlichkeit ausstrahlt.


Karte "Der Vermittler" gezeichnet von Thea Weller
Aus: Peter Orban, Ingrid Zinnel, Thea Weller: Symbolon. Das Spiel der Erinnerungen. [Kartenset und Erläuterungsbuch]. Kailash-Verlag 20063

Das bedeutet auch: Während die beiden ersten Archetypen jeweils eine zutiefst männliche (1. Archetyp – Der Krieger) bzw. eine zutiefst weibliche (2. Archetyp – Die Sinnliche) Qualität aufwiesen, ist diese innere Gestalt geschlechtlich neutral.

Überhaupt ist diese Gestalt, da sie ja vorwiegend im Verstand lebt, nicht wirklich geerdet, nicht wirklich verbunden. Sie ist zwar dabei, aber eben neutral, was auch bedeutet: Nie wirklich zugehörig.

Zugehörigkeit oder auch nur ein ausgeprägter eigener Standpunkt oder auch nur ein guter Kontakt zur eigenen Körperlichkeit, all dies würde Bindung bedeuten. Und mit der Bindung kommt die Schwere. Und genau dies muss diese innere Gestalt um jeden Preis vermeiden.
Diese innere Person braucht die Leichtigkeit, um mit allem und jedem Kontakt aufnehmen zu können, um jeden auch nur denkbaren Standpunkt zumindest gedanklich nachvollziehen zu können. Eine wirkliche Bindung an etwas oder an jemanden passt nicht zur ihrer Funktion, ihrer Rollenbeschreibung.

Die Regung der Seele, die hier ihre Verkörperung findet, möchte in Kontakt mit jedem, ja wirklich jedem, anderen Menschen treten können. Eigentlich möchte sie auch allen gefallen, aber das gesteht sie sich nicht ein. Aber ein wenig leidet sie schon darunter, dass letztlich alle immer nur an der Botschaft interessiert sind, nicht an dem Botschafter, hier liegt eine grundsätzliche Kränkung dieser inneren Gestalt.

Überhaupt wird diese innere Person von den Personen in der Außenwelt oft nicht so wirklich gewürdigt. Ja, es ist diese innere Gestalt, die Überhaupt die Kontakte knüpft mit anderen Menschen, die Menschen einander vorstellt. Allein: Das leichtfüßig-schwebende im Charakter wird oft als Oberflächlichkeit von den Menschen in der Außenwelt kritisiert. Die Neutralität wird oft als "Wurstigkeit" ausgelegt und das Verlangen nach Vielfalt und Abwechslung trägt dieser inneren Person den Ruf ein, keine Tiefe aufzuweisen. Eine schillernde Seifenblase, die kurz schwebt und dabei hübsch anzuschauen ist, aber sehr schnell platzt und dann einfach ein Nichts hinterlässt – so ist oft die Außenwahrnehmung.

"Mittendrin statt nur dabei" hieß es einmal in einer Werbebotschaft. Die Tragik dieses Archetypen ist: Er ist "irgendwie" überall mittendrin, aber nirgend wirklich dabei. Er ist unbeteiligt. Und er wird oft übersehen.

Die mit dem Archetyp verbundenen Wesenszüge und Energien

Wenden wir uns nun den Prinzipien und Energien zu, welche mit diesem Archetyp verbunden sind.

Wissen / Information

Wissen und Information sind das Medium, in welchem dieser Archetyp lebt, so wie der Fisch nur im Wasser leben kann. Wissen wird rasch und leicht aufgenommen und an passender Stelle wieder abgegeben. Botschaften werden von einer beteiligten Partei an eine andere beteiligte Partei übermittelt.
Dieser innere Anteil in mir kann sich für vieles interessieren, er ist wissensdurstig. Aber fragt man "wozu?", dann kommt dieser Archetyp in Erklärungsnot. "Ja, einfach um es zu wissen" könnte er sagen. Tatsächlich wird er eher sagen: "Ich finde es einfach interessant". Das Wissen ist keinem Zweck untergeordnet. Das Wissen ist Selbstzweck.

Neutralität

Die Aufgabe dieses Archetypen in mir ist es, verschiedene Informationen, Theorien und gedanklichen Konzepte aufzunehmen. Dieser Teil in mir kann dann auch verschiedene Theorien und Konzepte vergleichen, er kann darüber referieren, was die Wesenszüge der jeweiligen Theorien sind, worin sie sich ähneln und wo sie sich unterscheiden. Er kann sogar eine Theorie über diese anderen Theorien und Konzepte entwickeln. Nur eines kann er nicht: Er kann sich nicht für eine bestimmte Theorie entscheiden, einen Standpunkt einnehmen. Er ist kein Anhänger einer bestimmten Schule, die er fanatisch vertritt und verteidigt. (Dafür ist ein anderer Archetyp zuständig, nämlich der 8., auf den zu seiner Zeit einzugehen sein wird.)
Die Neutralität bedeutet eben auch: Keine (wirkliche) innere Beteiligung. Das kann durchaus als Identitätsproblem angesehen werden, welches diesem Archetyp eigen ist. Die identitätsstiftende Zugehörigkeit zu einer bestimmten Denkrichtung oder Theorieschule ist diesem Archetyp versagt. Positiv gewendet: Dieser Archetyp ist eines sicherlich nicht: Ein Dogmatiker.

Der Austausch

Dieser Archetyp kann sich über Wissen, Informationen und Standpunkte lebhaft austauschen. (Er spricht dann mit genau diesem Archetyp im Inneren seines Gegenübers.) Oder er kann Botschaften übermitteln zwischen zwei interessierten Parteien. Er kann bei Streit und Auseinandersetzungen zwischen zwei Parteien (nennen wir sie einmal A und B) vermitteln, in dem er B den Standpunkt von A erläutert und A den Standpunkt von B. Er kann als Makler den Austausch zweier Vertragsparteien befördern, er kann Käufer und Verkäufer zusammen führen und das Geschäft befördern, so dass es für beide Seiten einen Gewinn darstellt. Überhaupt vermittelt er Kontakte, bringt Menschen miteinander in Verbindung, trägt Botschaften von einem Mund zu einem anderen Ohr und andersherum.
Der Götterbote Hermes etwa war in der griechischen Mythologie dafür zuständig, den Menschen den Willen der Götter zu verkünden. Und bei den Göttern die Nöte und Sorgen der Menschen zu vertreten. Ebenso trug er Botschaften von einem Gott zu einem anderen Gott, wenn die Götter untereinander zerstritten waren und nicht mehr miteinander reden wollten, war in der Vorstellungswelt der antiken Griechen recht häufig der Fall war. Aber er war eben auch der Schutzpatron des Handels und der Kaufleute, jeder Handel ist ja auch ein Austausch. Allerdings war er nicht nur der Schutzpatron der Kaufleute, sondern auch der Diebe. Ja, auch der Diebstahl ist ein Austausch, etwas geht von der einen Hand in eine andere Hand über. Und wir merken wieder: Der Götterbote ist hier neutral, er wertet nicht.

Der Jahreszeitliche Bezug dieses Archetyps

Auch bei diesem Archetyp finden wir eine Entsprechung zu einem bestimmten Punkt im Zyklus der Jahreszeiten. Diesem Archetyp entspricht die Zeit von ca. 20. Mai bis ca. 20. Juni, also dem späten Frühling mit dem Übergang in den Sommer. Es ist die luftig-leichte Energie des frühen Sommers bzw. späten Frühlings, die diesem Archetyp besonders entspricht. Die Tage sind lang und hell und bieten viele Möglichkeiten für Aktivitäten und Gespräche, war der kontaktfreudigen Natur dieses Archetyps entgegen kommt.

Astrologische Entsprechung:

In der Astrologie entspricht dieser Archetypus dem 3. Haus, dem Tierkreiszeichen Zwilling und dem Planeten Merkur.

Fehlentwicklungen und reife Entwicklungsformen des Archetyps

Die Energie dieses Archetyps ist auf den Themen Kommunikation, Kontakte, flüssige Rede über Sachverhalte, lebendiger Austausch und schwunghafter Handel akzentuiert. Hier hat er seine Aufgabe, seine Rolle, seine Funktion.

Fehlentwicklungen der Energien dieses Archetyps

Bei einer Hemmung dieser archetypischen Energien wird alles angezweifelt. Ich vertraue dann nicht meinem eigenem Wissen oder zumindest nicht meiner Fähigkeiten, dieses Wissen effektiv in Worte zu kleiden. Aber ich vertraue diesbezüglich auch anderen nicht, dass sie echte Erkenntnisse oder wertvolle Informationen haben könnten. Im Extrem kann dies auch bedeuten, dass ich Angst habe, einen Gedanken zu Ende zu führen, was zu einer Konzentrationsschwäche und einer Zerfahrenheit im Denken und im Ausdruck führt.

Andere Formen der Fehlentwicklung dieser Energien kann sich etwa als gesteigerte Kritiksucht äußern oder auch als Geschwätzigkeit oder Rechthaberei. Ebenso wäre hier das Prahlen mit einem Wissen zu nennen, über das ich eigentlich nicht oder nicht in genügendem Maße verfüge. Auch eine bestimmte Form der Lüge wäre hier zu nennen, die sich eben aus der Unsicherheit über mein Wissen speist und die deshalb lieber irgendetwas erfindet, als sagen zu müssen "das weiß ich nicht".

Die reife Entwicklung der Energien dieses Archetyps

Die reife Form, man könnte vielleicht sogar sagen die "erlöste" Form der Energien dieses Archetyps lässt sich durch zwei Worte kennzeichnen: Wahrheit und Klarheit. Wahrheit – oder Wahrhaftigkeit – und Klarheit sowohl in meinem Denken wie auch in meinem Ausdruck.
Was die Entwicklung der Wahrhaftigkeit im Denken und Sprechen angeht, scheint mir der erste und wichtigste Schritt, gleichzeitig aber auch der schwierigste Schritt zu sein, der Versuchung zu widerstehen, sich selber etwas vorzumachen. Meine Vermutung ist, dass Unaufrichtigkeit mir selbst und anderen gegenüber auf die Dauer zu einer Verminderung der Lebenskräfte führt. Wenn an dem Gedanken etwas Wahres ist, könnte man die empfundene Lebensenergie als Indikator nehmen. Wenn ich mich also ab und zu frage, ob bestimmte Gedanken oder Äußerungen mich schwächen oder mich kraftvoller machen, könnte dies ein Wegweiser zu mehr Wahrhaftigkeit sein.
Bezüglich der Entwicklung von Klarheit im Denken und Sprechen mag die Vorstellung hilfreich sein, dass ich mich mit meinen Informationen oder meinem Wissen an einen halbwegs aufgeweckten Achtjährigen wende. Mein Denken und mein Sprechen sollten (idealerweise) also so gestaltet sein, dass es von diesem Achtjährigen ohne Mühe verstanden werden kann.

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