Der neunte Archetyp: Der Seelsorger

Vorbemerkung: Dieser Text ist Teil einer 12-teiligen Serie über bestimmte Gestalten am Urgrund einer jeden menschlichen Seele, die wir in der Psychologie mit der Bezeichnung „Archetyp“ belegen. In jedem der 12 Teile wird jeweils einer der 12 wesentlichen Archetypen vorgestellt. Diese Gestalten gibt es bei jedem Menschen als innere Personen. Allerdings spielt nicht jede einzelne Gestalt in jedem Leben eine bedeutende Rolle. In Schauspiel meines Lebens gibt es natürlich Hauptrollen, aber eben auch Nebenrollen und Komparsen. Manche dieser kollektiven Urgestalten in mir kenne ich bis zu einem gewissen Grade. Andere sind mir völlig unbekannt und wenn sie dann doch einmal kurz in einer Szene auftauchen, bin ich überrascht.   

Manchmal erweist es sich in Familienaufstellungen als sinnvoll oder sogar notwendig, einen der Archetypen über Stellvertreter aufzustellen. Entweder, weil das Thema eng mit diesem Archetypus verbunden ist oder weil bei der Person, um die es geht, dieser Archetypus erkannbar dominant im Vordergrund steht. 
Die Beschreibungen des jeweiligen Archetyps sollen dich, liebe Leserin / lieber Leser, anregen, diese Gestalt in dir zu entdecken und vielleicht auch, mit ihr Kontakt aufzunehmen und in einen Austausch zu treten.

Einen Artikel darüber, was Archetypen allgemein sind und wie sie in unserer Seele wirken, findest du hier. Das dort gesagte gilt übergreifend für
alle Archetypen.

Widmung:

Diese Artikelserie ist meinem großen Lehrer Peter Orban gewidmet, der im Oktober des vergangenen Jahres verstorben ist. Lieber Peter, alles was ich über Archetypen meine verstanden zu haben, habe ich von dir. Wenn ich jetzt mein Verständnis der Archetypen beschreibe, möge dies ein Indiz dafür sein, dass deine Saat aufgegangen ist. Ein wenig lebst du weiter in denen, die von dir lernen durften.

Die neunte innere Gestalt in jedem von uns kümmert sich um die Belange der Sinnfindung, Sinnstiftung und um das Seelenheil, was in gewisser Weise dasselbe ist, weil die Seele heil wir, soweit sie Sinn findet. Wenn diese innere Teilperson sich zurückzieht oder – aus welchen Gründen auch immer – sich nicht mehr bemerkbar machen kann, dann erfahren wir etwas, was als die „dunkle Nacht der Seele“ bezeichnet wird.

Wir könnten diese innere Person auch als den inneren Priester oder den inneren Psychotherapeuten bezeichnen oder auch als den inneren Philosophen. In früheren Zeiten haben sich Menschen mit den fundamentalen Fragen und Problemen der Existenz an Priester (Seelsorger) gewandt, in neuerer Zeit haben eher Psychotherapeuten diese Funktion übernommen. Auch gute Ärzte hatten und haben mitunter diese Funktion in dem klaren Verständnis darüber, dass eine wirkliche Heilung von körperlichen Gebrechen ohne eine Heilung der Seele selten möglich ist.

Das Wesen des Geistes

Diese Gestalt in uns gehört zutiefst in den Bereich des Geistigen, sie ist der Endpunkt und die Vervollkommnung des Geistigen. In dieser Person verbinden sich Mythos und Logos. Sie verbindet die Vernunft mit der tiefen Weisheit der Legenden. Und sie verbindet uns mit dem Höheren, mit wirksamen Kräften die wir eher erahnen als wirklich verstehen können. Diese innere Gestalt widmet sich also in uns der „religo“ im ursprünglichen Wortsinne, nämlich der Rückverbindung des Menschen mit etwas Höherem, was über ihn selbst hinausweist.    
In seinem Verständnis für die Bedeutung des Mythos schlägt dieser Aspekt in uns die Brück zur Welt der Götter. Tatsächlich wird diese geistige Gestalt oft etwas göttlichem in Verbindung gebracht. Aber dann nicht mit irgendeinem Gott, sondern mit dem Göttervater, mit Zeus oder Jupiter oder Thor.

Die Art, wie diese Gestalt sich dem Geistigen widmet, ist aber völlig anders als beim zuletzt beschriebenen achten Archetypen, dem inneren Ideologen. Während der achte Archetyp mich bindet an eine Idee oder ein geistiges Konzept und mich daher geistig fokussiert und verengt, geht es beim neunten Archetyp um die geistige Weite. Der neunte Archetyp ist immer auf der Suche nach neuen Ideen und Aspekten in der Welt des Geistigen. Er bindet sich nicht – und bindet uns damit nicht – an eine bestimmte Idee. Dieser Archetyp präsentiert uns Standpunkte und Sichtweisen, ohne an einen bestimmten Standpunkt verhaftet zu sein. Er steht damit immer ein wenig neben diesen Standpunkten und Betrachtungsweisen, er nimmt sie nicht zu ernst. Das verschafft diesem Archetyp auch eine gewisse Leichtigkeit im Umgang mit den geistigen Inhalten, welche dem achten Archetyp völlig fehlt.

Obwohl dieser Archetyp der Welt des Geistigen angehört und eigentlich die Vollendung des Geistigen verkörpert, ist er der Welt des Materiellen mit seinen Freuden und Genüssen überhaupt nicht abgeneigt gegenüber. Dieser Archetyp verkörpert eben auch die Daseinsfreude mit allem, was dazu gehört. Diese innere Gestalt ist optimistisch, zuversichtlich und durchaus empfänglich für Humor. Sie ist flexibel, lebensbejahend mit einer Neigung zum Visionären. Sie ist großzügig, weil sie sowieso nur in den großen Linien denkt. Sie ist tolerant, weil sie verschiedenste Weltsichten nebeneinander stellen und gleichermaßen gelten lassen kann.

Die Sinnfrage

Dieser Archetyp ist immer auf der Suche nach Sinn, nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit und daher auch immer auf der Suche nach dem Neuen, nach dem Unbekannten, dem noch nicht Erfahrenen. Auch hier ist ein fundamentaler Unterschied zum achten Archetyp. Der achte Archetyp bindet uns an ein Konzept weil er uns vermittelt, mit diesem gedanklichen Konzept ist alles erklärt, ist alles abgeschlossen – mehr gibt es nicht zu wissen und zu verstehen. Der neunte Archetyp weiß bei jeder Einsicht, dass diese vorläufig ist. Er weiß, dass es noch viel mehr zu verstehen und entdecken gibt und er hat eine innere Freude daran, Dinge in einem anderen und neuen Licht zu sehen.

Daher ist dieser Archetyp auch sehr daran interessiert, fremde Kulturen, fremde Länder und fremde Weltanschauungen kennen zu lernen und diese zu verstehen. Ihn interessiert weniger das Bekannte, sondern das Unbekannte. Wir hatten schon gesagt, hier geht es um geistige Weite, nicht Verengung. Wir könnten auch sagen: Die geistige Horizonterweiterung ist das eigentliche Lebenselixier dieses Archetypen.

Er kann alles verstehen und damit auch sehr nachsichtig mit den menschlichen Schwächen sein. Der Archetyp ist durchaus begeisterungsfähig, die visionäre Begeisterung kann durchaus enthusiastisch oder ekstatisch sein.

Wenn dieser Archetyp uns für etwas, für bestimmte Einsichten und Weisheiten begeistert, dann erzeugt er in uns auch die Neigung, diese Einsichten verkünden zu wollen. Erfasst von einer neuen Perspektive, wollen wir diese enthusiastisch allen anderen Menschen mitteilen. Im Englischen gibt es dafür den Ausdruck „to shout it from the rooftops“, was eine anschauliche Beschreibung des inneren Zustandes ist, wenn wir von einer für uns neuen und bedeutsamen Erkenntnis erfasst werden. Natürlich können wir das nicht für uns behalten, jeder muss davon erfahren! Und in diesem Zustand können wir gar nicht anders, als auch anzunehmen, ein jeder will es auch erfahren.

Dieser Archetyp verbindet in uns die Höhen und die Tiefen der menschlichen Existenz und versöhnt uns mit Beidem.


Der Archetyp „Der Seelsorger“ in der bildlichen Darstellung

Betrachten wir auch hier wieder, wie sich das Wesen dieses Archetyps in einem künstlerischen Ausdruck gestalten kann.

Hier haben wir zunächst das Beitragsbild. Im Zentrum des Bildes steht eine mythologische Figur, der Zentaur Chiron. Diese legendäre Gestalt, körperlich halb Mensch und halb Pferd, galt bei den antiken Griechen als Lehrer von Achilles, Äskulap, Herkules, Orpheus und einigen anderen mehr. Er war kultiviert, weise, gebildet, ein Lehrmeister der Heilkunde und selber der größte Heiler1. Er erfand Pfeil und Bogen und beherrschte sie meisterlich, das bedeutet, er traf immer. Die körperliche Erscheinung verweist darauf, dass er nicht nur geistiger Größe erlangt hatte, sondern immer noch im Körperlichen verbunden und verankert war und hier sogar mit einer besonderen Kraft, mit der Kraft des Pferdes, welche die menschliche Kraft bei weitem übersteigt.

Die Mittelachse des Bildes, dessen Zentrum der Zentaur Chiron darstellt, verbindet das Oben mit dem Unten. Es verbindet die Wurzeln in der Erde, die vom Wasser genährt werden, mit den Göttern im Himmel, hier mit Göttervater Zeus, der Blitze in die Welt schleudert. Blitze sind ein besonders hochenergetisches Phänomen.

Im linken Teil finden wir die Verkündung einer Botschaft und die Begeisterung bis hin zur Ekstase, von der Menschen durch die Botschaft erfasst werden können. Auf der rechten Seite des Bildes finden wir die Phänomene der Vision wie auch der meditativen Erleuchtung, die Verbindung mit etwas Heiligem, bei welchem aber auch das Scheinheilige nie weit entfernt ist. Ein letzter Aspekt in dem Bild sei hier erwähnt: Es ist eine Orgel als Musikinstrument abgebildet. Und tatsächlich verkörpert im Bereich der Musikinstrumente keines die hier beschriebenen Prinzipien so sehr wie die Orgel. Hier geht es um die Weite und die weiten geistigen Räume. Und kein Instrument kann große und weite Räume, ganze Kathedralen so sehr mit Klang füllen wie eine Orgel. Und dieses Instrument finden wir fast nur in Kirchen, kaum ein Instrument sonst hat so eine enge Verbindung zum geistigen (geistlichen).



Karte "Der Verkünder" gezeichnet von Thea Weller
Aus: Peter Orban, Ingrid Zinnel, Thea Weller: Symbolon. Das Spiel der Erinnerungen. [Kartenset und Erläuterungsbuch]. Kailash-Verlag 20063

In der Symbolonkarte zu diesem Archetyp finden wir einen Priester in einer segnenden Pose. Wenn wir auf die Symbole in seinem Umfeld schauen, sehen wir aber, dass es sich hier nicht um den Vertreter einer bestimmten Religion handelt, wir finden hier Symboliken aus verschiedensten religiösen und spirituellen Traditionen. Ich hatte die Pose eben als segnend beschrieben, aber wir können genauso gut sagen, es ist eine Verkünder-Pose.

Seine Kleidung trägt die Insignien seines Amtes und sein Amt ist es, ein Pontifex, ein Brückenbauer zu sein. Er verkörpert die Brücke zwischen dem menschlichen und dem Göttlichen. Die Grundfarbe der Amtskleidung ist lila, hier mischen sich rot und blau, die Farben des Feuers und des Wassers.

Der Gesichtsausdruck der Person könnte als verklärt interpretiert werden. Wir können aber auch, wenn wir es so sehen wollen, Überheblichkeit und Anmaßung in den Gestus hinein interpretierten. Und das ist es auch, was sicherlich geschieht, wenn der Pontifex in der Amtsausübung vom eigenen EGO ergriffen wird.


Der Archetyp „Der Seelsorger“ als Personifizierung

Wenn wir uns diesen Archetyp als Person, als reale Verkörperung vorstellen, dann müssen wir unbedingt an einen nicht mehr ganz jungen Menschen denken, an eine Person … sagen wir einmal, jenseits der Fünfzig2. Und diese Person darf durchaus etwas fülliger sein, jedenfalls kein magerer Asket, diese Person ist dem sinnlichen Genuss von gutem Essen durchaus nicht abgeneigt. Und wir dürfen uns diese Person auch mit kleinen Lachfältchen um die Augen vorstellen, auch für einen guten Witz ist diese Person immer zu haben, der Witz darf sogar auf die Kosten dieser Person gehen, er muss nur gut, also inspirierend sein.

Diese Person ist in ihrem Charakter offen und vielseitig interessiert und vor Allem ist sie offen für jeden neuen Gesichtspunkt und für jede originelle Ansicht. Die Person müssen wir uns tolerant und verständnisvoll vorstellen, in jedem Fall aber abgeneigt gegenüber jeglicher Kleinlichkeit. Ihr Interesse gilt den großen Zusammenhängen. Sie weiß, dass sie Vieles (noch) nicht weiß und das treibt sie an. Der Ausspruch „Ich weiß, dass ich Nichts weiß“ könnte ihr Lebensmotto sein. Diese Person lebt vom Austausch von Gedanken, aber nicht vom Streit.

Die mit dem Archetyp verbundenen Wesenszüge und Energien

Fassen wir also noch einmal zusammen, mit welchen Qualitäten wir es zu tun bekommen, wenn dieser Archetyp in uns sich regt.

Die geistige Weite

Dieser inneren Person geht es darum, alle Facetten des Geistigen kennen zu lernen und nach Möglichkeit zu verstehen. Jegliche Begrenzung auf ein gedankliches System ist ihr fremd und eigentlich auch zuwider. Die geistige Bewegung ist eine der Expansion, sie möchte am liebsten Alles in sich aufnehmen.

Die Verbindung zum Höheren

Diese innere Person verbindet unseren Alltag mit höheren um nicht zu sagen höchsten Prinzipien, mit den Grundsätzen der Schöpfung. Wenn dies gelingt, wird es als befriedigend und sinnstiftend empfunden.

Das Wahre, Schöne und Gute

Diese innere Person ist dem Wahren, Schönen und Gutem verpflichtet und ist bestrebt, es überall zu entdecken.

Glaube und Hoffnung

Diese innere Person ist im Kern optimistisch. Sie glaubt nicht, weil es irgendjemand so befohlen hat, sondern aus innerer Überzeugung. Der Satz „am Ende wird alles gut“ oder auch „wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende“ könnte von dieser inneren Person erfunden worden sein.

Die Toleranz

Die Grundessenz dieser inneren Gestalt ist es, möglichst viele Standpunkte und Ansichten kennen und verstehen zu lernen. Und wer vieles versteht und verstehen möchte, wird sich nicht selber an einen bestimmten Standpunkt oder eine bestimmte Sichtweise binden. Dieser Archetyp kann verschiedene – auch gegensätzliche – Ansichten nebeneinander stehen und gelten lassen.

Wer bin ich?

Diese innere Gestalt ist für die Fragen zuständig „Wer bin ich?“ oder auch „Wo komme ich her?“, „Wo geht ich hin?“ und letztlich die Frage „Was soll das Ganze überhaupt?“. Wichtig ist: Dieser innere Anteil trägt dafür Sorge, die Frage selber lebendig zu halten. Ja, natürlich sucht sie auch Antworten auf die Fragen. Aber sie weiß, jede Antwort ist vorläufig. Die Frage selber ist wichtiger als die Antwort, die Frage hält die Suche aufrecht.

Die Berufung

Sehr eng verbunden mit dem Punkt „Wer bin ich?“ ist natürlich auch die Frage nach der Bestimmung oder auch der Berufung in meinem Leben.

Die Sinnstiftung

Im Kern geht es für diese innere Person darum, Sinn zu finden und Sinn zu stiften. Man könnte sagen, hier haben wir die zusammenfassende Formulierung für alle vorgenannten Punkte. Aber eigentlich geht es noch weiter: Die Suche nach dem Sinn ist es, was alle oben genannten einzelnen Aspekte verbindet. Die Suche nach Sinn ist das Wesensmerkmal dieser seelischen Gestalt.

Wenn dieser Archetyp sich zurückzieht

Am deutlichsten bemerken wir diesen inneren Anteil, wenn er fehlt oder besser gesagt: Sich zurückgezogen hat. Dann erleben wir die „dunkle Nacht der Seele“, nichts ist mehr sinnvoll, wir fallen in ein schreiendes Nichts.

Der Jahreszeitliche Bezug dieses Archetyps

Jahreszeitlich entspricht diesem Archetyp die Zeit zwischen ca. 20. November und ca. 20. Dezember. Es ist die letzte Zeit vor der Wintersonnenwende. Das Jahr neigt sich dem Ende zu, es ist Zeit, Bilanz zu ziehen. Aber noch viel mehr wissen wir auch: Jedes Ende ist ein Neubeginn. Nach der Wintersonnenwende werden die Tage wieder länger. Das neue Jahr steht vor der Tür, das Neue verleitet zu Plänen und Visionen, wie die neue Zeit nach der Wende sinnstiftend genutzt werden kann. Der Zentaur Chiron in uns zielt mit seinem Pfeil auf das Neue, es entstehen Ziele vor unserem geistigen Auge, welche die erahnte neue Zeit sinnvoll gestalten sollen.

Astrologische Entsprechung:

In der Astrologie entspricht dieser Archetypus dem 9. Haus, dem Tierkreiszeichen Schütze und dem Planeten Jupiter.

Die Schattenseite dieses Archetyps

Die Schattenseite dieses Archetyps lässt sich auf einen Punkt bringen: In der fehlentwickelten Form haben wir es hier mit einem unerträglichen Besserwisser zu tun. Ja, er ist vielleicht vielseitig interessiert und hat sich mit vielem schon befasst – aber hier meint er nicht nur einiges zu wissen, er vermeint alles zu wissen und vor allem alles besser zu wissen als jeder andere.

Besonders schädlich wird dies, wenn das, was dieser Archetyp in uns zu wissen vermeint, nicht wirklich selbst durchlebte Erkenntnis ist, sondern nur angelesenes Zeug, fremdgeborgte Inspiration, nur halbverstandene Weisheit.

Allerdings: Mein Verdacht ist, wenn uns dieser Archetyp in seiner Fehlentwicklung begegnet, sei es bei uns selber oder bei anderen Personen, in diesen Fällen hat er in seinem Rucksack noch einen ganz anderen Archetyp, der ihn von hinten steuert, nämlich den fünften Archetyp, das EGO.

  1. Dass Chiron in der antiken griechischen Mythologie nicht nur ein Heiler ist, sondern selber eine große Wunde in sich trägt, ist ein anderer Aspekt dieses Mythos, der aber im Zusammenhang mit dem neunten Archetyp nicht zentral ist. Chiron ist der verwundete Heiler, der Alles und Jeden heilen kann, nur sich selber nicht. ↩︎
  2. Wenn diese innere Gestalt in einem sehr jungen Menschen deutlich vernehmbar und im Vordergrund agiert, ist sich doch immer jenseits der Fünfzig, auch wenn sie z.B. in einem Jugendlichen sich regen sollte. ↩︎

Der achte Archetyp: Der Ideologe

Vorbemerkung: Dieser Text ist Teil einer 12-teiligen Serie über bestimmte Gestalten am Urgrund einer jeden menschlichen Seele, die wir in der Psychologie mit der Bezeichnung „Archetyp“ belegen. In jedem der 12 Teile wird jeweils einer der 12 wesentlichen Archetypen vorgestellt. Diese Gestalten gibt es bei jedem Menschen als innere Personen. Allerdings spielt nicht jede einzelne Gestalt in jedem Leben eine bedeutende Rolle. In Schauspiel meines Lebens gibt es natürlich Hauptrollen, aber eben auch Nebenrollen und Komparsen. Manche dieser kollektiven Urgestalten in mir kenne ich bis zu einem gewissen Grade. Andere sind mir völlig unbekannt und wenn sie dann doch einmal kurz in einer Szene auftauchen, bin ich überrascht.   

Manchmal erweist es sich in Familienaufstellungen als sinnvoll oder sogar notwendig, einen der Archetypen über Stellvertreter aufzustellen. Entweder, weil das Thema eng mit diesem Archetypus verbunden ist oder weil bei der Person, um die es geht, dieser Archetypus erkannbar dominant im Vordergrund steht. 
Die Beschreibungen des jeweiligen Archetyps sollen dich, liebe Leserin / lieber Leser, anregen, diese Gestalt in dir zu entdecken und vielleicht auch, mit ihr Kontakt aufzunehmen und in einen Austausch zu treten.

Einen Artikel darüber, was Archetypen allgemein sind und wie sie in unserer Seele wirken, findest du hier. Das dort gesagte gilt übergreifend für
alle Archetypen.

Widmung:

Diese Artikelserie ist meinem großen Lehrer Peter Orban gewidmet, der im Oktober des vergangenen Jahres verstorben ist. Lieber Peter, alles was ich über Archetypen meine verstanden zu haben, habe ich von dir. Wenn ich jetzt mein Verständnis der Archetypen beschreibe, möge dies ein Indiz dafür sein, dass deine Saat aufgegangen ist. Ein wenig lebst du weiter in denen, die von dir lernen durften.

Der achte Archetyp in mir versorgt mich mit (inneren) Bildern und Vorstellungen, also einer Imagination, die ich vor mich hinstelle – vor meinem geistigen Auge. Diese geistigen Vorstellungen sind Ideale, anzustrebende Idealzustände, die Vorstellung von einer Perfektion. Und dann passiert etwas magisches, weshalb tatsächlich der Bereich der Magie[1] auch in die Zuständigkeit dieser inneren Person gehört: Die Vorstellung, die geistige Idee, ergreift von mir Besitz. Ich bin im Wortsinne besessen von einer bestimmten Vorstellung und nun setze ich alle meine Lebensenergie ein, um dieser Vorstellung nachzueifern. Und wie gesagt: Die Vorstellung oder Idee, welcher ich nacheifere, ist immer ein Ideal. Es geht immer darum, wie etwas sein sollte, nicht, wie etwas tatsächlich ist. Und wenn eine solche Idee von mir Besitz ergreift, dann entfaltet sich hier eine unglaublich starke Bindeenergie, ich bin an meine Vorstellung gebunden und kann so leicht nicht von ihr lassen.


Der Geist, der stets verneint

Diese Vorstellungen können sich darauf beziehen, wie ich sein sollte. Zum Beispiel, welches Gewicht ich haben sollte. Oder die Idee bezieht sich darauf, wie die Welt sein sollte. Idealerweise. Und wie gesagt: Für diese Idee mobilisieren wir, wenn wir ihr verfallen sind, enorme Energien bis hin zum Fanatismus.

Wenn wir die vorfindliche Wirklichkeit an einem Ideal messen, stellen wir natürlich immer fest, dass die Wirklichkeit nicht so ist, wie das Ideal es gerne hätte. Zu einer solchen Wirklichkeit können wir, unter dem Einfluss dieses Archetyps, nicht wirklich „Ja!“ sagen. Hier müssen wir „Nein!“ sagen. Hier ist etwas nicht in Ordnung. Hier muss etwas geändert werden, verbessert werden. Das kann nicht so bleiben! Also: Nein!

Die großen politischen Ideologien der Geschichte speisen sich aus solchen Vorstellungen, wie die Welt idealerweise auszusehen hätte und wie dementsprechend der dazu passende ideale Mensch zu sein hätte. Hier wird eine enorme Kraft entfaltet auf kollektiver Ebene – oft mit ungutem Ausgang für das Kollektiv.

Wenn diese innere Person sich in mir regt und mich mit Bildern und Vorstellungen versorgt, dann werde ich energetisiert für das Erreichen dieser Vorstellung und ich bin dann an sie gebunden. Und binden können mich natürlich nur Bilder, Ideen und Vorstellung, die auch attraktiv sind, für mich zumindest verlockend erscheinen, ein Versprechen beinhalten. Wir können also dieser inneren Figur, die einer der schillerndsten Archetypen überhaupt ist, noch andere Namen geben. Diese Figur könnte auch der innere Magier heißen oder auch der innere Binder oder auch der innere Verführer.

Die Verführung

Wie gesagt: Wenn diese innere Person in mir tätigt wird, wird viel Energie ins Werk gesetzt. Und das führt manchmal zu der Vorstellung, diese innere Person sei für diese Energieentfaltung zuständig, die innere Gestalt verfüge selber über enormes Kraftpotential, welches sie mir dann zur Verfügung stellt. Das ist aber ein Irrtum. Diese Person selber besitzt gar keine Kraft. Die Person verwaltet etwas Geistiges, die Welt der Vorstellungen. Es sind erst einmal nur Ideen. Die Kraft entsteht, wenn ich mich der Idee verschreibe, dann nutze ich meine Kraft für diese Idee, und die Kraft kommt aus meinem seelischen Bereich, nur hier gibt es Energie. Was dieser innere Archetyp macht, er präsentiert mir attraktive innere Bilder. Mehr nicht. Ich selber gehe an den Haken, wenn ich mich von der Attraktivität der gedanklichen Vorstellung verzaubern lasse. Ich selber mobilisiere die Energie, wenn ich der Karotte nachlaufe, welche mir vor die Nase gehalten wird und diese Energie kommt aus dem seelischen Bereich, nicht aus dem geistigen Bereich, nur in der Seele und im Lebendigen gibt es Kraft. Das Ideal, die Perfektion selber ist dagegen blutleer und leblos.

Das ist Trick, den diese innere Gestalt anwendet: Er bemächtigt sich dem Lebendigen, indem er ihm etwas selber lebloses, eine Idee oder ein Konzept aufprägt. Die Energie, welche mir diese innere Gestalt zur Verfügung zu stellen scheint, ist gar nicht seine. Er bemächtigt sich – um wirksam zu sein – der Energie anderer innerer Gestalten in mir, namentlich bemächtigt er sich meines EGOs, welches tatsächlich über die Energie verfügt. Er hält mir nur die Karotte hin, mehr kann er nicht, wenn ich auf die Karotte anspringe, werkelt mein EGO. Aber das Hinhalten der Karotte macht er natürlich trickreich und geschickt. Das ist die Verführung und die Bindemagie die hier entsteht.

Der magische Pakt

Wir haben es hier mit einem faustischen Pakt zu tun. Die mythische Gestalt des Dr. Faustus erhält von Mephistopheles – eine Gestalt des Teufels oder des Herrschers der Unterwelt – das Versprechen der Erfüllung seiner Wünsche und er bezahlt dafür mit seiner Seele, also mit seiner Lebendigkeit. Die Faust-Geschichte beschreibt prototypisch, was in uns allen vorgeht, wenn wir uns einer Idee verschreiben. Wir bezahlen dafür mit unseren seelischen Energien. Aber es nicht Mephistopheles, welcher Gretchen schwängert und ihren Bruder tötet – das hat schon Faust selber getan. Er, Mephistopheles, hat ihn nur dazu verführt. Er würde selber nie Gewalt anwenden, das kann er auch gar nicht. Wir haben hier also noch einen weiteren Namen für diese Gestalt: Mephistopheles oder den Fürsten der Unterwelt. Der Fürst der Unterwelt ist eben auch der Verführer: Er führt uns in Versuchung, wie es in der Bibel heißt.

Der Fürst der Unterwelt

Nun ist die Unterwelt natürlich in vielen tradierten Vorstellungen auch der Bereich der Toten. Und hier haben wir eine weitere wesentliche Kennzeichnung dieser inneren Gestalt, die magisch bindet und verbindet. Dieser Archetyp verbindet über die geistigen Bilder das Reich des Lebendigen und das Reich des Toten. Jegliches Ideal, jegliche Perfektion (oder besser: Jede Vorstellung von Perfektion) ist etwas Totes. Im Lebendigen gibt es keine Perfektion, im Gegenteil, das Lebendige wirkt nur durch die, wenn auch oft geringen, Abweichungen von dem Ideal.     
Stellen wir uns, als Beispiel, einen großartigen Pianisten vor. Jemanden, der mit seinem Spiel ein Publikum tief bewegen kann. Wenn wir es ganz genau analysieren würden in einer Tonaufzeichnung, würden wir feststellen können, dass keine der gespielten Noten perfekt ist. Nicht alle Achtelnoten sind exakt gleich lang gespielt, mal wird etwas beschleunigt, mal etwas mehr gehalten. Es sind Kleinigkeiten, aber gerade in diesen Kleinigkeiten, in den kleinen Abweichungen vom Ideal, besteht die Lebendigkeit der Interpretation des Musikstückes. Vergleichen wir dies damit, wie zumindest in der Anfangszeit Musik am Computer generiert wurde. Hier kann ich die Perfektion erzeugen, jeder Ton hat als Welle erzeugt exakt die definierte Frequenz und exakt die den Notenwert entsprechende Dauer, ohne auch nur die kleinste Variation. Wie klingt eine solche Musik? Sie klingt künstlich, leblos [2] . Und das, obwohl alles perfekt ist? Nein, gerade weil alles perfekt ist.


Und so verbindet dieser Binde-Magier in uns auch das Lebendige mit dem Toten. Er lässt in uns eine Vorstellung von einem Ideal entstehen – welches der Wirklichkeit eben entgegen steht – und wir laden dieses tote Ideal dann mit unserer Lebendigkeit, mit unseren Lebenskräften auf. So wird hier etwas aus dem Bereich des Toten und des Sterilen und der Versteinerung in den Bereich des Lebendigen emporgehoben, mit Leben gefüllt. Etwas Totes wird aus der Unterwelt, dem Reich des Toten, noch oben gehoben in den Bereich des Lebendigen.    
Aber natürlich gibt es diese Bewegung auch andersherum: Es kann sein, dass etwas, was mich lange begeistert (sic!) hat, mit einem mal sich irgendwie schal anfühlt. Die innere Flamme ist erloschen und rückblickend betrachtet fragt man sich: Warum habe ich damit eigentlich so viel Zeit und Energie verschwendet?[3] Das innere Feuer ist erloschen und lässt nur leblose Asche zurück. Hier wird etwas einmal Lebendiges dem Reich des Toten überantwortet.


Phönix aus der Asche

Und damit sind wir bei einem letzten Mythos, welcher mit dieser inneren Gestalt verbunden ist: Dem Phönix aus der Asche. Dieser mythische Vogel mit goldenem Gefieder verbrennt sich – der Erzählung nach – am Ende seines Lebens selbst, bis nur noch ein Häuflein Asche übrig bleibt. Allerdings nicht ganz. Eine Träne spart er sich irgendwie auf, zumindest in einer Variante der Erzählung. Und wenn diese aufgesparte Träne die Asche des verbrannten Phönix benetzt, dann erwacht auf wundersam magische Weise aus der Asche der Vogel Phönix zu neuem Leben.

Wir haben hier das Thema der Umwälzung, also der Revolution im eigentlichen Sinne. Diese beständige Umwälzung befördert das Lebendige in das Reich des Todes und das Tote aus der Unterwelt in das Reich des Lebendigen. In einem beständigen Prozess wird das Untere nach Oben gehoben und das Obere nach Unten gedrückt. Der Kreislauf von Leben und Sterben und wieder geboren werden, die ständige Umwälzung von Lebendigem in Totes und von Totem in Lebendiges. Hier werden die Bereiche verbunden, hier findet die magische Verwandlung des Einen in das Andere und zurück statt. Auch dafür ist diese innere Gestalt zuständig, der innere Magier, der innere Verbinder von Unter- und Oberwelt.

Die Bindung an Menschen

Eine letzte Anmerkung zum Wirken dieser Gestalt sei hier gemacht. Diese Gestalt verbindet nicht nur unsere lebendige Energie mit gewissen Vorstellungen, Ideen, Bildern und Idealen, sondern er verbindet auch Menschen miteinander. Hier, im Zuständigkeitsbereich dieser inneren Person, werden aus Begegnungen dauerhafte Verbindungen, als Ehe, als (Geschäfts)Partnerschaft, als Freundschaft usw.

Der zuletzt besprochene siebte Archetyp macht mich mit geeigneten anderen Menschen bekannt, bringt mich in Kontakt mit Ihnen nach dem Kriterium der wechselseitigen Ergänzung. Aber danach ist sein Job erledigt, alles Weitere geht den siebten Archetyp nichts an. Der hier vorgestellte achte Archetyp ist für die Bindung, die Ver-Bindung zuständig, also für die Dauerhaftigkeit. Und wie macht er das? Natürlich, wie es seine Natur ist, über innere Bilder und Vorstellungen. Hinter jeder Ehe, die geschlossen wird, steht auf beiden beteiligten Seiten eine Vorstellung: Die Vorstellung der idealen Ehe. Und natürlich auch eine Vorstellung bezüglich des idealen Ehepartners, wie dieser zu sein hätte (Konjunktiv!), sich zu verhalten hätte.

Hinter jeder Verbindung zwischen Menschen, welche durch diese innere Gestalt kraft ihrer Bindemagie mit Superklebkraft gestiftet wird, stehen also zwei Vorstellungen. Jeder Teil der Verbindung hat da so seine. Ob diese kompatibel sind auf Dauer, steht auf einem ganz anderen Blatt …

Der Archetyp „Der Ideologe“ in der bildlichen Darstellung

Betrachten wir auch hier wieder, wie sich das Wesen dieses Archetyps in einem künstlerischen Ausdruck gestalten kann.

Hier haben wir zunächst das Beitragsbild. Im Zentrum des Bildes finden wir die Verbindung eines Paares und aus dieser Verbindung entsteht ein Kind, ein neues Leben. Damit ist die Verbindung der beiden Teile des Paares auf Dauer besiegelt. Die Paarverbindung kann zwar gelöst werden, aber nicht die Verbindung als Eltern. Hier bleiben sie dauerhaft im Kind verbunden.



Karte "Der Verführer" (Mephistophles) gezeichnet von Thea Weller
Aus: Peter Orban, Ingrid Zinnel, Thea Weller: Symbolon. Das Spiel der Erinnerungen. [Kartenset und Erläuterungsbuch]. Kailash-Verlag 20063

Wir finde ebenso im Zentrum dann den Kreislauf des Lebens, vom Baby über den Jüngling und den gereiften Erwachsenen zum Greis und zum Tod und von hier wieder zurück über die Welt des Geistes (der Geister) zu nächsten Inkarnation. Im Zentrum dieser Umwälzung von Leben zu Tod und wieder zum Leben sehen wir einen weiblichen Kopf, halb Gesicht und halb Totenkopf.

 Im oberen Bereich finden wir links und rechts die Magie, einmal als weiße Magie und einmal als schwarze Magie. Im unteren Bereich sehen wir links und rechts verschiedene Aspekte der Verführung, der durchaus sexuellen Verführung. Und natürlich darf auch die Schlange als Symbol nicht fehlen. Mit ihrer regelmäßigen Häutung steht sie für die ständige Umwälzung zwischen Unterwelt und Oberwelt, zwischen dem Reich des Lebendigen und dem Reich des Toten.

Auf der links stehenden Symbolon-Karte zu diesem Archetyp finden wir die Darstellung der Figur des Mephistopheles. Dazu ist schon einiges gesagt worden, was hier nicht wiederholt werden muss.


Der Archetyp „Der Ideologe“ als Personifizierung

Auch hier ist das Wesentliche bereits gesagt. Diese Figur ist schillernd und tritt uns in unterschiedlicher Gestalt in Erscheinung, als Verführer, als Herr der Unterwelt, als Verbinder und Verbindungsstifter, als Umwälzer alles Bestehenden, als Ideologe, als Magier, als Geist, der stets verneint, weil alles Wirkliche unperfekt ist – und in Goethes Faust sogar als Pudel. Wir merken: Diese innere Gestalt ist extrem wandlungsfähig und kommt in vielerlei Verkleidungen und Kostümen daher. Er gibt sich nicht so leicht zu erkennen. Wir müssen ihn oft mehrfach befragen, damit er sein wahres Wesen offenbart.

Die konkrete Erscheinungsform kann wechseln, das Wesen dieser inneren Gestalt ist aber vielleicht in der Symbolon-Karte „Der Verführer (Mephistopheles)“ am besten verdichtet. Nehmen wir dieses Bild als Chiffre, so kann man vielleicht und im Laufe der Zeit und mit etwas Übung dieses Wesen durch seine unterschiedlichsten Gestaltwandlungen hindurchschimmern sehen.

Die mit dem Archetyp verbundenen Wesenszüge und Energien

Fassen wir also noch einmal zusammen, mit welchen Qualitäten wir es zu tun bekommen, wenn dieser Archetyp in uns sich regt.

Die Bindung an eine Idee

Immer, wenn wir eine Vorstellung entwickeln, wie irgendetwas oder irgendjemand oder auch ich selbst idealerweise zu sein hätte, dann ist dieser innere Teil von uns am Werke. Man möge sich dabei aber immer vergegenwärtigen: Ob und wie stark ich dieser Idee hinterherlaufe, bleibt meine Entscheidung. Die Idee oder Vorstellung ist erst einmal nur ein Angebot, ein Angebot, welches man durchaus auch ablehnen kann. Wir sind ja hier nicht in der Clanfamilie von Don Corleone …

Die Obsession

Immer dann, wenn diese innere Gestalt „das Ruder übernimmt“, sind wir im Wortsinne besessen. Nicht unbedingt vom Teufel oder von bösen Geistern, aber von einer Vorstellung.

Die Kompromisslosigkeit

Im Banne dieses Geistes sind Kompromisse nicht möglich. Hier gibt es nur Schwarz oder Weiß, keine Graustufen. Im Extremfall finden wir hier Fanatismus in jeglicher Spielart, also politisch, religiös, kulturell oder einfach bezogen auf irgendeine Leistung.

Der Perfektionismus – oder: Das Leben im Konjunktiv

Alles, aber auch wirklich Alles wird am Maßstab eines Ideals oder der Perfektion gemessen. Damit leben wir, wenn uns diese Bewegung erfasst, nicht in der Wirklichkeit, in dem was ist, sondern in dem was sein sollte, in der Möglichkeitsform. Ist das schlimm? Nein, es ist unvermeidlich, sich gelegentlich hier aufzuhalten. Die Frage ist lediglich: Wie oft und wie schnell komme ich zurück in die Wirklichkeit?

Die Wertung (als Abwertung, als Wertung des Ungenügens)

Hier wird die Wirklichkeit immer mit einem Ideal verglichen und immer, wirklich immer, genügt die Wirklichkeit dem Ideal nicht, sie ist makelbehaftet. Hier wirkt der Geist der stets verneint. Man kann nicht „ja“ sagen zu dem was ist, weil das was ist ja fehlerhaft ist.

Das Tiefgründige

Diesem Archetyp ist eigen, dass er nicht auf der Oberfläche verbleiben kann, er sucht immer die Tiefe, was letztlich auch heißt, er sucht immer die Verbindung mit der Unterwelt, aus der er etwas hervorholen möchte an die Oberwelt. So ist nicht nur die Beschäftigung mit den Toten sondern auch die Beschäftigung mit dem Unbewussten, um es ans Licht des Bewusstseins zu holen, eine Domäne dieses Archetyps.

Das magische Denken

Der Kern des magischen Denkens ist, ich könne die Wirklichkeit beeinflussen, damit sie sei, was sie sein soll und nicht sei, was sie ist. Das klappt in letzter Konsequenz natürlich nicht, aber das muss uns ja nicht davon abhalten, es trotzdem zu versuchen. 
Wir müssen nur bei Magie weit denken. Wir müssen hier auch an alle kleinen Alltagsrituale denken, die wir auch als „aufgeklärte“ Menschen im Zeitalter einer rationalen Wissenschaft verwenden. Das meiste davon ist im Wortsinne harmlos. Es schadet nicht. Aber es ist eben auch magisches Denken.

Das Geistige überhaupt

Eigentlich gehört der gesamte Bereich des Geistigen, in welcher Form auch immer, in den Verantwortungsbereich dieses Archetypen. Hier finden wir die Bilder, die Vorstellungen, die Pläne, die Phantasien – und letztlich auch jegliche Form der Theorie.

Die Macht (der Verführung)

Ein Kernthema und Zuständigkeitsbereich dieses Archetyps ist auch das mitunter schwierige Thema Macht und Machtausübung. Es geht hier allerdings bei der Beeinflussung (um es einmal neutral auszudrücken) um die sanfte Macht der Vorstellung und der Begierde. In jeder Werbung und in jedem politischen Slogan ist dieser Archetyp höchst lebendig. Die Anwendung von Gewalt ist nicht die Sache dieses Archetyps. Es geht um die Macht der Verlockung, nicht die Gewalt des Zwanges.

Die Ohnmacht

Wie ein Schatten ist mit dem Thema Macht natürlich auch die Ohnmacht verbunden. Ich erleben mich ohnmächtig einer Wirklichkeit gegenüber, die sich nicht meiner Vorstellung anzupassen gewillt ist. Ich erlebe Ohnmacht, wenn sich jemand als nicht anfällig für meine Verführung und meine Werbung erweist. Und die Form von Macht, die sagt, „bist du nicht willig, dann brauche ich Gewalt“ steht mir ja eben mit diesem Archetyp so gar nicht zur Verfügung.     
Was bleibt da noch? Eigentlich kann man da nur noch fremde Mächte, höhere Mächte anrufen. Womit wir wieder bei der Neigung zu magischem Denken unter dem Einfluss dieses Archetyps sind.

Der Jahreszeitliche Bezug dieses Archetyps

Jahreszeitlich entspricht diesem Archetyp die Zeit zwischen ca. 20. Oktober und ca. 20. November. In dieser Zeit zieht die Natur sich zurück, die Blätter färben sich erst und fallen dann, die Kraft der Pflanzen geht jetzt in die Wurzeln, also in die Unterwelt, während es in der Oberwelt nach sterben aussieht. Es ist eine Zeit des Übergangs, des Wandels, der Umwälzung. Es beginnt die dunkle Jahreszeit, sie ist assoziiert mit dem vorübergehenden (Ab)Sterben, mit dem Geheimnis der Tiefe und der Unterwelt.

Astrologische Entsprechung:

In der Astrologie entspricht dieser Archetypus dem 8. Haus, dem Tierkreiszeichen Skorpion und dem Planeten Pluto.

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[1] Wir denken hier vor allem an den Bereich der „Alltagsmagie“, an die vielen kleinen Rituale und Marotten, welche Menschen bei sich ausbilden, um so etwas wie Erfolg oder einen guten Ausgang einer Sache zu beschwören. Manche Menschen klopfen dreimal auf Holz, bevor sie eine wichtige Tätigkeit beginnen.      
Ich kannte einmal einen Segler, bei dem musste von jeder Flasche Bier an Bord vor dem ersten Schluss ein wenig über Bord gegossen werden, es wurde Poseidon geopfert. Das war eine ganz harte Regel und nicht verhandelbar, der Gott Poseidon straft sonst mit Sturm und Seenot.

[2] Inzwischen hat man natürlich gelernt und auch am Computer erzeugte Musik baut kleine Variationen ein, um weniger künstlich zu wirken.

[3] Ich empfehle dazu als anschauliche und urkomische Illustration den Sketch von Monty Python über die Royal Society For Putting Things On Top of Other Things

Der siebte Archetyp: Das Nicht-Ich in mir

Vorbemerkung: Dieser Text ist Teil einer 12-teiligen Serie über bestimmte Gestalten am Urgrund einer jeden menschlichen Seele, die wir in der Psychologie mit der Bezeichnung „Archetyp“ belegen. In jedem der 12 Teile wird jeweils einer der 12 wesentlichen Archetypen vorgestellt. Diese Gestalten gibt es bei jedem Menschen als innere Personen. Allerdings spielt nicht jede einzelne Gestalt in jedem Leben eine bedeutende Rolle. In Schauspiel meines Lebens gibt es natürlich Hauptrollen, aber eben auch Nebenrollen und Komparsen. Manche dieser kollektiven Urgestalten in mir kenne ich bis zu einem gewissen Grade. Andere sind mir völlig unbekannt und wenn sie dann doch einmal kurz in einer Szene auftauchen, bin ich überrascht.   

Manchmal erweist es sich in Familienaufstellungen als sinnvoll oder sogar notwendig, einen der Archetypen über Stellvertreter aufzustellen. Entweder, weil das Thema eng mit diesem Archetypus verbunden ist oder weil bei der Person, um die es geht, dieser Archetypus erkannbar dominant im Vordergrund steht. 
Die Beschreibungen des jeweiligen Archetyps sollen dich, liebe Leserin / lieber Leser, anregen, diese Gestalt in dir zu entdecken und vielleicht auch, mit ihr Kontakt aufzunehmen und in einen Austausch zu treten.

Einen Artikel darüber, was Archetypen allgemein sind und wie sie in unserer Seele wirken, findest du hier. Das dort gesagte gilt übergreifend für
alle Archetypen.

Widmung:

Diese Artikelserie ist meinem großen Lehrer Peter Orban gewidmet, der im Oktober des vergangenen Jahres verstorben ist. Lieber Peter, alles was ich über Archetypen meine verstanden zu haben, habe ich von dir. Wenn ich jetzt mein Verständnis der Archetypen beschreibe, möge dies ein Indiz dafür sein, dass deine Saat aufgegangen ist. Ein wenig lebst du weiter in denen, die von dir lernen durften.

Die siebte wesentliche Gestalt in meiner Seele hat eine ganz besondere Aufgabe. Sie sorgt für Begegnungen, vor allem bringt sie mich mit anderen Menschen zusammen. Aber es geht hier nicht um jede beliebige Begegnung, nicht um irgendwelche anderen Menschen. Diese innere Person hat die Aufgabe, mich mit Menschen (und manchmal auch mit Dingen oder Themen) in Kontakt zu bringen, die in irgendeiner Weise genau das verkörpern, was ich nicht bin. Diese innere Person führt mich zu meinem Gegenteil, zu allem, was ich nicht bin.

Aber „Gegenteil“ ist hier nicht im Sinne von Opposition gemeint, also etwas was ich reflexhaft bekämpfe und weghaben möchte, sondern Gegenteil im Sinne einer Polarität, im Sinne der polaren Ergänzung. Diese innere Person präsentiert mir in der äußeren Welt jemanden, der eine passende Ergänzung, ein passender Ausgleich zu mir ist. Ich werde auf Personen aufmerksam gemacht, die in der Weise mein Nicht-Ich, mein Gegenteil verkörpern, dass sie mich ergänzen, wo mir etwas fehlt. Dies meint natürlich auch, dass ich für diese Person, der ich in meiner äußeren Welt begegne, ebenso eine Ergänzung darstelle, weil ich etwas verkörpere, was dieser Person fehlt. Aber diesen zweiten Aspekt der Ergänzung und des Ausgleiches erleben wir nicht so deutlich wie den ersten Aspekt.

Diese innere Person arrangiert also Begegnungen, sie lenkt meine Aufmerksamkeit auf andere Personen, die in irgendeiner Weise mich ergänzen können, mich vollständig machen, mich heilen im Sinne von „ganz machen“. Wenn diese innere Person am Werke ist, werden wir auf jemanden aufmerksam und in diesem aufmerksam werden liegt eine eigenartige Faszination. Unsere Seele ahnt in der Begegnung etwas, wovon der Verstand und die Vernunft nichts weiß und nichts wissen kann. Die Seele ahnt: Hier ist eine Gelegenheit, vollständiger zu werden. Hier kann ich etwas finden als meine Ergänzung, von dem ich bislang gar nicht wusste, dass ich auf der Suche danach war.

Und das ist genau die Art, wie diese innere Teilperson in meiner Seele arbeitet. Sie verwaltet meine Defizite und generiert daraus eine Art Suchbild. Und sie meldet sich mit einem leisen, aber deutlich hörbaren „Pling“ wenn in meiner äußeren Welt jemand auftaucht, der zu diesem Suchbild passt. Ich selber weiß meist nichts von diesem Suchbild, diese Aufgabe habe so vollständig an diese innere Person delegiert, dass ich gar nicht mehr weiß, dass ich auf der Suche bin. Und ich weiß auch nichts (mehr) von dieser inneren Person, die meine Suchbilder verwaltet.

Am deutlichsten wird das, worum es hier geht, in einem antiken Mythos. Bei Platon wird in seinem Dialog „das Gastmahl“ (Symposion) dieser Mythos erzählt. Er handelt davon, dass es einst eine besondere Form von Menschen gab, die in der Erzählung als Kugelmenschen bezeichnet werden. Sie hatten vier Arme und vier Beine, kugelförmige Rümpfe und zwei Gesichter. Und diesen Kugelmenschen war eine große Kraft und auch ein besonderer Wagemut eigen. Sie gedachten, für sich die Welt der Götter zu erobern. Das konnte den Göttern nicht gefallen, weshalb Zeus, der Vorstandsvorsitzende der Götter GmbH auf die Idee verfiel, die Kugelmenschen in zwei Hälften teilen zu lassen. Der Gott Apollon wurde damit beauftragt, diese chirurgische Operation vorzunehmen, was er auch tat, nicht ohne die danach die Operationswunden wieder zu verschließen. Er ließ aber am Nabel eine Erinnerung an die Teilung zurück, so wie wir heute auch an vergangene Operationen durch die hinterlassenen Operationsnarben erinnert werden. Diese Erinnerung an die Trennung aus der Ganzheit ließ in den so ins Leben entlassenen Menschen (zweibeinig, zweiarmig und mit einem Gesicht) eine deutlich spürbare Sehnsucht zurück. Sie ahnen, dass sie einmal ein Teil eines Ganzen waren, dass sie von ihrer anderen Hälfte getrennt wurden. Und diese Sehnsucht bewirkt, dass sie ständig unterschwellig auf der Suche sind nach ihrer anderen Hälfte, nach ihrer perfekten Ergänzung.

Eine andere Art, wie wir uns die Aufgabe, um welche sich dieser Archetypus kümmert, vorstellen können, ist das Bild eines Puzzlestückes.

Das Puzzlestück hat Ausstülpungen und Einbuchtungen. Und beim Puzzeln geht es nun darum, das entsprechende Puzzlestück oder die entsprechenden Puzzlestücke zu finden, die mit ihren Ausstülpungen genau zu meinen Einbuchtungen passen und wo meine Einbuchten genau entgegengesetzt zu den Ausstülpungen des anderen Stückes sind. Wenn diese perfekten spiegelbildlichen Ergänzungen sich finden, wird das Bild vollständiger.

Dieser Archetyp verwaltet also meine inneren Suchbilder, meine Sehnsucht nach polarer Ergänzung, in dem er in der Umwelt Ausschau hält nach Personen, die alles verkörpern, was ich nicht bin, was ich aber zu meiner Ergänzung benötige.

Dieser Archetyp in mir sucht also nach meinem Spiegelbild. Psychologisch betrachtet könnten wir auch sagen, die Blaupause, mit welcher der Archetyp herumläuft und auf deren Entsprechungen er die Umwelt ab scannt, diese Blaupause ist mein Schatten. Und mein Schatten steht in der psychologischen Deutung für das Unbewusste.

Wenn wir uns fragen, warum sucht dieser Archetyp in mir ständig nach dem, was ich gerade nicht bin, was aber eben deshalb die passende polare Ergänzung für mich wäre, dann wäre eine Antwort auf die Frage nach dem Warum natürlich meine Sehnsucht. Das ist im Mythos von den Kugelmenschen beschrieben, dass ich eine ganz vage Erinnerung an einen Zustand größerer Einheit habe, von dem ich getrennt wurde. Und ich will zurück in die Einheit, aber dieser Wille ist ebenso vage wie meine Erinnerung an den Verlust. Etwas treibt mich um, aber was ich wirklich suche, kann ich erst dann erkennen, wenn ich es gefunden habe, wenn der Archetyp mir die andere Person als Verkörperung dessen, was in mir fehlt, präsentiert.        
Ich vermute allerdings, es gibt noch einen anderen Sinn in diesem Suchspiel. Ich soll nämlich im Gegenüber, im Nicht-Ich, in meinem polaren Gegenstück mich selber erkennen. Auch deshalb wird mir mein Gegenstück als äußere Person präsentiert, damit ich mich in ihr selber erkenne. Darauf verweist das sprachliche Bild, dass die Suche mir mein Spiegelbild präsentiert. Bei einem Spiegel ist es ja auch so: Ich erkenne mich im Spiegel, ohne Spiegel geht das nicht, allerdings ist die Person, welche mir im Spiegel gegenüber tritt, eben seitenverkehrt. Aber auch davon weiß ich nichts.

Kurz gesagt: Das Wesentliche ist, diese innere Person registriert permanent meine äußere Welt und meldet sich, wenn sie dort ein polares Gegenstück zu mir erkennt. Auf das ich mich in dieser Begegnung mit meinem polaren Gegenstück selber erkenne und etwas heiler1 werde, etwas vollständiger werde.

Die Lebensbereiche, in denen dieser Archetyp tätig wird

Nach der bisherigen Beschreibung, wofür dieser Archetyp in meiner Seele zuständig ist, ahnt man es schon: Der vielleicht wichtigste Punkt, an dem diese innere Gestalt auf mein Leben einwirkt, die die Vermittlung der Begegnung mit einer geeigneten Person für eine Liebesbeziehung, für eine Lebenspartnerschaft. Hier merken wir es ganz deutlich am Gefühl der Verliebtheit, welches sich einer Person gegenüber einstellt, mit der ich in meinem Leben in Berührung komme. Die Verliebtheit zieht mich mit einem starken Sog zu dieser Person hin, in mir steigt eine starke Ahnung auf von einer früheren innigsten Verbindung mit dem fehlenden Teil von mir, der verloren ging und seit dem schmerzhaft vermisst wurde. Und hier, in genau dieser anderen Person, auf welch mich der siebte Archetyp aufmerksam gemacht hat und mit der er mich in Verbindung gebracht hat, spüre ich die Möglichkeit der Heilung dieser ganz alten Wunde aus archaischer Zeit. Es gab früher bei Eheleuten diese Redeweise, dass vom jeweils anderen Ehepartner als „meine bessere Hälfte“ gesprochen wurde, ein entferntes Echo der Legende vom Kugelmenschen, wie wir sie bei Plato beschrieben finden.

Nun gut, in heutiger Zeit sind die Lebensbegleiter oft nur noch Lebensabschnittsbegleiter, aber das ändert nichts an daran, dass es der hier beschriebene Archetyp in meiner Seele war, der auf diese Person aufmerksam gemacht hat und den Kontakt gestiftet hat.         
Aber hier muss ein mögliches Missverständnis gleich ausgeräumt werden: Es ist nicht diese innere Gestalt in meiner Seele, welche dann auch tatsächlich für die Verbindung sorgt. Dafür sind andere innerliche Gestalten zuständig, namentlich der fünfte Archetyp (mein EGO) und der zwölfte und noch mehr der achte Archetyp, welchen wir als nächstes kennen lernen werden.  
Der hier besprochene Archetyp verwaltet mein Suchraster, macht mich darauf aufmerksam wenn auf seinem Radar eine äußere Person auftaucht, welche mit dem Suchraster in Resonanz steht und dieser Archetyp steuert mich auch auf die Begegnung und die Kontaktaufnahme zu. Danach ist sein Job erledigt. Schon das Gefühl des verliebt seins produzieren andere innere Gestalten und das Eingehen einer festen Verbindung liegt ganz im Zuständigkeitsbereich des achten Archetypus, dem wir als nächstes begegnen werden.

Wie gesagt: In der Paarbildung wirkt dieser Archetypus am deutlichsten und auch für uns deutlich vernehmbar. Aber dieser Archetyp vermittelt auch andere Formen, wo Menschen sich einander ergänzend zusammen tun. Dieser Archetyp lässt den Mitarbeiter zum passenden Chef finden, führt zwei Menschen zusammen zum Ziel einer Unternehmensgründung, lässt den Verleger seine Autoren finden und die Autoren den passenden Verleger, er vermittelt dem passionierten Tennisspieler den passenden Doppelpartner oder den passenden Trainer, er sorgt dafür, dass der Meisterschüler den passenden Meister (Lehrer) findet, der spirituell Suchende den passenden Guru usw.

Manchmal präsentiert dieser Archetyp mir auch Dinge oder Tätigkeiten oder Interessengebiete in meiner Außenwelt, wo mich dann etwas fasziniert und diese Dinge oder Tätigkeiten für mich wichtig werden, weil sie ein Weg sind, mich selber näher kennen zu lernen, weil sie mich spiegeln in dem, was ich von Anlage und Neigung nicht bin, wonach ich mich aber sehne.     
Aber die eigentliche Domäne dieses Archetyps sind andere Menschen, die für mich wesentliche andere Person, mein Gegenüber. Mit anderen Menschen will sie mich in Kontakt bringen, wenn diese anders genug sind, dass wir uns fruchtbar ergänzen können.

Der Archetyp „Das Nicht-Ich“ in der bildlichen Darstellung

Wie immer erfassen wir das Wesen eines Archetyps ganzheitlicher über die Bilder, welche diesen Archetyp in seinem Wesen symbolisch aufschlüsseln.

Hier haben wir zunächst das Beitragsbild. In diesem Bild finden wir mehrfach das Symbol der Waage. Die Waage bringt etwas in Ausgleich aber vor allem setzt die Waage etwas in Beziehung. Die Waage setzt zwei völlig unterschiedliche Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, in Beziehung. In der einen Waagschale haben wir eine Tüte Äpfel, auf die andere Waagschale legen wir unterschiedliche Bleistücke bis die Waage sagt: Jetzt passt es, jetzt entspricht es sich. Nun haben Äpfel und Bleistücke nichts gemeinsam. Was passt hier also? Das Gewicht entspricht sich exakt.

Dann finden wir ebenfalls mehrfach in diesem Bild das schon ausführlich besprochene Thema der Paarbildung, der Verliebtheit. Wir finden hier links oben noch eine andere sich ergänzende Verbindung, nämlich die Bühnenfigur und ihr hingerissenes Publikum. Wir finden den Spiegel und der Spiegel ist hier aber noch einmal eingebunden in das Märchen von Schneewittchen, welche im Hintergrund den hundertjährigen Schlaf schläft. Auch hier bedarf es des passenden Gegenstückes, nur ein ganz bestimmter Prinz kann sie erwecken aus ihrem tiefen Schlaf, da muss man vielleicht eine sehr lange Zeit warten, bis die passende Person vorbei kommt.

In der Mitte des Bildes oben finden wir zwei Männer, die per Handschlag eine Verbindung besiegeln unter den durchaus kritischen Augen eines Kopfes, der wie ein Geist aus einem Baumstamm erscheint. Jemand wacht also – durchaus kritisch – über diese Verbindung, auf das sie im rechten Geiste geschlossen werde.

Aber die zentrale Figur in diesem Bild ist ein Frau, welche beide Hände gleichermaßen wie zu einem milden Segen ausbreitet, eben gleichermaßen zur linken wir zur rechten Seite hin.



Karte "Der Partner" gezeichnet von Thea Weller
Aus: Peter Orban, Ingrid Zinnel, Thea Weller: Symbolon. Das Spiel der Erinnerungen. [Kartenset und Erläuterungsbuch]. Kailash-Verlag 20063

Auch die Symbolon-Karte zu diesem Archetyp beschreibt das Wesen dieser Gestalt in Form von zwei Menschen, die sich als Paar gefunden haben.

Hier spüren wir das Wirken dieses Archetyps eben am deutlichsten. Das Paar, ein Mann und eine Frau, tänzeln umeinander, sie schauen sich intensiv in die Augen und erkennen einander. In dem Blick scheinen sie verschmelzen zu einer Einheit, es gibt in diesem Blick nur die andere Person. Es wirkt so, als erkennen sie im Gegenüber eine Ergänzung.

Der Mann sieht hier nicht nur irgendwie eine Frau, er sieht „meine Frau!“ und die Frau sieht nicht irgendeinen Kerl, sie sieht „meinen Mann!“. Es wirkt so, als würden sie im Gegenüber die polare Ergänzung sehen, die aus den beiden Einzelnen ein Paar macht.

Im Moment scheinen sie ganz ineinander aufzugehen. Ob sie wissen, dass sie nicht nur die Ergänzung zu sich selbst sehen, sondern auch sich selber sehen in der anderen Person, nämlich als das, was sie selber jeweils nicht sind?


Der Archetyp „Das Nicht-Ich“ als Personifizierung

Wenn wir uns auch hier diese innere Gestalt wie eine Person vorstellen, ein bestimmtes Rollenfach im Schauspiel oder auch Drama meines Lebens, welches durch eine Person als Schauspieler verkörpert wird, dann haben wir es hier mit einer Schwierigkeit zu tun.

Das Wesen dieses Archetyps ist ja das Nicht-Ich, das Andere, die andere Person, welcher ich für mich bedeutungsvoll im der äußeren Welt begegne. Wir könnten also jetzt verleitet sein, uns diesen Archetyp ebenso vorzustellen, wie die Person, der wie begegnen und wo die Ergänzung spüren als Versprechen durch das anders sein der Person, die mir begegnet.      
Das würde bedeuten, wenn wir es anhand der zentralen Verwirklichung des Wesens dieses Archetyps uns vorstellen, nämlich der Paarbildung: Zumindest im heterosexuellen Bereich würden wir uns diese innere Person dann vorstellen wie mein Idealbild einer Frau (wenn ich ein Mann bin) oder wie mein Idealbild eines Mannes (wenn ich eine Frau bin).

Das stimmt aber so nicht. Die Frau oder der Mann, welchen ich in der ersten Anbahnung einer Partnerschaft begegne, ist ja nicht dieser Archetyp, diese Teilperson in mir. Dieser Archetyp hat nur diese Person, dieses Gegenüber ausgewählt und mir als (möglicherweise) passend präsentiert. Und dieser Archetyp in mir hat mich mit dieser Person bekannt gemacht. Aber der Archetyp in mir ist nicht die Person, die ich kennenlerne.

Wir müssen uns das eher so vorstellen wie früher in der Dienstleistung einer Partnervermittlung. Diese Agentur hat Klientinnen und Klienten, welche passende Personen vermittelt bekommen wollen. Und da ist eben der Dienstleister / die Dienstleisterin. Da ist eine Person, welche mit den Klientinnen und Klienten durchaus tiefgründige Gespräche führt, welche die Klienten genau beobachtet und einschätzt. Sie macht sich ein Bild von der Klientenperson. Wo sind hier die Ausbuchtungen, wo die Einkerbungen. Und dann such sie in ihrer Kartei eine andere Person, welche gleichzeitig möglichst ähnlich wie auch möglichst anders ist. Da wo die eine Person Ausbuchtungen hat, hat die andere eine Einkerbung und andersherum (deswegen sind sie maximal anders), aber es sind die genau gleichen Stellen, wo Ausbuchtung oder Einkerbung vorliegt und die Form von Ausbuchtung bzw. Einkerbung entsprechen sich, nur eben polar entgegengesetzt, eben spiegelverkehrt.

Also: Der Archetyp ist nicht die andere (bedeutsame) Person, die ich kennen lerne. Der Archetyp als Person vorgestellt ist der Heiratsvermittler / die Heiratsvermittlerin mit ihrer Kundenkartei und den dort vermerkten Eigenschaften. Wie kann man sich nun so eine Person vorstellen, die in einem Eheanbahnungsinstitut arbeitet oder ein solches betreibt? Eigentlich beliebig. Diese Person kann weiblich oder männlich sein, groß oder klein, dick oder dünn, alt oder eben nicht wirklich alt. (Zu jung darf sie allerdings nicht sein.) Wie gesagt: Dieses Rollenfach kann fast beliebig – vom äußeren Erscheinungsbild her – besetzt werden mit Schauspielern. Der Klient, also ich, will ja nicht den Ehevermittler heiraten, sondern jemanden, den er in seiner Kartei hat und den er mir vorstellt. Das äußere Erscheinungsbild ist als unwichtig, wenn wir uns eine innere Person vorstellen. Aber wir müssen sie und als jemanden mit einer gut gefüllten Kartei vorstellen, jemanden der um die richtigen und wichtigen Kriterien weiß und deshalb in der Karteikarte keine Nebensächlichkeiten vermerkt. Wir müssen uns eine Person vorstellen mit einem guten Blick für Eigenheiten von Menschen und eine Person mit Empathie und guter Gesprächsführungskompetenz. Aber vor allem müssen wir uns eine völlig uneitle Person vorstellen. Im Erfolgsfall, wenn sie zwei Personen zusammengeführt hat, zieht sie sich diskret zurück. Die beiden sollen am besten vergessen, dass sie eine Dienstleistung beansprucht haben. Natürlich schickt sie noch eine Rechnung, aber auch das diskret.

Die mit dem Archetyp verbundenen Wesenszüge und Energien

Fassen wir also noch einmal zusammen, mit welchen Qualitäten wir es zu tun bekommen, wenn dieser Archetyp in uns sich regt.

Ausgleich und komplementäre Ergänzung

Diese innere Instanz bringt Gegensätze zusammen und in einen Ausgleich. Die Gegensätze werden hier aber als wechselseitige Ergänzung vereint. Aus den Teilen entsteht etwas neues, was mehr ist als die Summe der Teile.

Darin liegt eine oft nicht wirklich wahrgenommene Kreativität. Aus der Verbindung der Gegensätze entsteht im geglückten Fall etwas völlig neues. Das Neue enthält beide Seiten des Gegensatzes, geht aber über beide Seiten hinaus, verwandelt beide Seiten.
Das hat überhaupt nichts mit dem Finden eines Kompromisses zu tun, wo man sich bei gegensätzlichen Interessen irgendwo in der Mitte einigen würde. Es geht überhaupt nicht darum, die beiden Pole des Gegensatzes abzuschleifen, dass sie nicht mehr ganz so gegensätzlich sind. Es geht darum, was neu entsteht, wenn die beiden Pole des Gegensatzes zusammenfallen, gleichzeitig zur Geltung kommen.

Gerechtigkeit

Dieser Archetyp möchte beide Seiten eines Gegensatzes vereinen. Dazu muss er beiden Seiten gleichermaßen gerecht werden. Er muss beide Seiten in ihrem So-Sein anerkennen ohne Wertung. Dieser Archetyp ist unparteiisch, besser noch überparteilich. Er hat keine eigenen Interessen. Er möchte nur eine gute Verbindung zwischen verschiedenen Seiten vermitteln.

Die salomonische Weisheit

Mit der Qualität der Gerechtigkeit verbunden ist hier noch etwas anderes, nämlich eine bestimmte Form der Weisheit2, die man salomonische Weisheit nennt. Es geht hier um eine Weisheit im Kontext einer Beurteilung, eines Urteils, eines Richterspruchs. Und ein solcher Richterspruch geht, wenn er weise ist, über die bloße Gerechtigkeit hinaus. Bei einem weisen Richterspruch werden beide streitenden Parteien durch den Richter in ihrem Wesen erkannt ebenso wie die verborgene Struktur des Streites selber erkannt wird. Ein weiser Richterspruch ist nicht nur objektiv (unvoreingenommen) und tut dem Gesetz genüge, er adressiert darüber hinaus eben auch das innere Wesen der Parteien und die verborgene Ursache des Streits. Ein solcher Richterspruch ist überraschend, unkonventionell und meist unerwartet einfach.

Ästhetik, Sinn für das Schöne und Stilempfinden

Das Wesen dieses Archetyps ist es, etwas miteinander in Kontakt zu bringen anhand eines Kriteriums, nämlich, dass da etwas zusammen passt, auf eine gute und sich ergänzende Weise zusammen passt. Das etwas passt, ist oft an der Oberfläche nicht zu sehen. Dieser Archetyp hat aber ein ausgeprägtes Empfinden und eine entwickelte Sensibilität dafür, wo etwas eben unterhalb der Oberfläche, eben in der Tiefenstruktur, im Wesen und im Wesentlichen zusammen passt.

Dieses Gespür dafür, was zusammen passt und was nicht, ist natürlich auch die Grundlage für jedes Kunstempfinden, für Stilbewusstsein, Geschmack und Ästhetik. Dieser Archetyp in mir ist also auch für alles Künstlerische in mir zuständig, sowohl in der aktiven Form als künstlerische und gestalterische Betätigung wie auch in der passiven Form als kundiges Publikum von Kunst und im Genuss von Kunst. Hier finden wir ein ausgeprägtes Harmonieempfinden, sowohl im wörtlichen Sinne in der Musik wie auch im übertragenen Sinne, dieser Archetyp ist zuständig für diplomatisches und taktvolles Verhalten im zwischenmenschlichen Bereich.

Das Du und das Wir sind wichtiger als das Ich

Diesem Archetyp ist eine gewisse Selbstlosigkeit zu Eigen. Er sorgt in mir dafür, dass ich mit meiner Aufmerksamkeit und meiner Sorge mehr bei meinem Gegenüber bin, weniger bei mir. „Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt“ lässt Friedrich Schiller seinen Helden Wilhelm Tell im gleichnamigen Schauspiel sagen. Hier spricht der Archetyp des Nicht-Ich sozusagen in Reinform aus dem Titelhelden.


Der Jahreszeitliche Bezug dieses Archetyps

Jahreszeitlich entspricht diesem Archetyp die Zeit zwischen ca. 20. September und ca. 20. Oktober. An den Anfang dieser Zeitqualität fällt die Tag-und-Nacht-Gleiche im Herbst. Das Wesen dieses Archetyps ist ja das Brücken bauen, die Verbindung von Gegensätzen. Hier, am Beginn der Jahreszeit, welche mit den Qualitäten dieses Archetyps verbunden sind, verbinden sich die dunkle und helle Seite, Tag und Nacht miteinander und werden eins, werden gleich. Diese Jahreszeit verbindet auch das Aktivitätsprinzip des Sommers mit dem Ruheprinzip des Winters. Diese Zeit im Jahr hat oft etwas von Beidem. Es ist vielleicht noch irgendwie Sommer in seiner ganz späten Form und gleichzeitig ist der Herbst schon schmeckbar in der Luft, wo die Natur sich vorbereitet auf die Ruhezeit im Winter.

Kurt Tucholsky hat einen wunderbaren Text geschrieben über diesen Brückenschlag zwischen den Jahreszeiten, eine Zeit, über die er die fünfte Jahreszeit nennt und über die er am Ende schreibt:

„ … Spätsommer, Frühherbst und das, was zwischen ihnen beiden liegt. Eine ganz kurze Spanne Zeit im Jahre.
Es ist die fünfte und schönste Jahreszeit.“

Ich empfehle diesen Text in Gänze zu lesen.

Was Tucholsky hier als Qualität einer ganz besonderen Jahreszeit beschreibt, ist fein empfunden oder beobachtet und es ist sehr poetisch beschrieben. Und mit der Qualität dieser besonderen Zeit im Jahreszyklus beschreibt Tucholsky hier auch die Wesensqualität dieses Archetyps.

Astrologische Entsprechung:

In der Astrologie entspricht dieser Archetypus dem 7. Haus, dem Tierkreiszeichen Waage und dem Planeten Venus in ihrer Seite der Waage-Venus.

Die Schattenseiten dieses Archetyps

Wie immer bei den Archetypen kann es im konkreten Fall auch problematisch sein, wenn dieser Archetypus sehr kraftvoll und sehr im Vordergrund in einem Menschen wirkt, aber in einer wenig entwickelten Form wirkt. Wir könnten hier auch von den Schattenseiten sprechen, welche die Wirkung dieses Archetyps in mir, wenn er sich kraftvoll in mir regt, annehmen kann.

Unentschlossenheit

Eine Stärke dieses Archetyps ist es ja, dass er Brücken bauen kann, für Ausgleich sorgen kann und Unterschiede / Gegensätze zu einer neuen Form verbinden kann. Dazu muss er die Seiten, die er verbinden will, verstehen und als jeweils für sich voll gültig anerkennen.

Wenn dieser Aspekt der Gleichwertigkeit von verschiedenen Seiten und Optionen in mir immer und bei jeder Gelegenheit aktiv wird, dann kann ich mich nicht wirklich entscheiden in Situationen, wo eine klare Entscheidung für etwas oder gegen etwas erforderlich ist. Ich werde dann grundsätzlich unschlüssig und zögerlich in meinem Handeln.

Ich-Schwäche

Eine Eigenschaft dieses Archetyps ist ja eine ausgeprägte Empathie. Wenn diese Teilperson in mir das Ruder in der Hand hat, dann kann ich mein Gegenüber sehr gut verstehen. Ich spüre, worum es meinem Gegenüber, der anderen Person, geht. Ich schwinge innerlich mit, wenn mein Gegenüber leidet. Und wenn dies überhandnimmt, vergesse ich dabei, dass es mich ja auch noch gibt. Ich spüre nicht mehr, wo meine eigenen Interessen liegen. Ich komme gar nicht auf die Idee, meine eigenen Bedürfnisse zu vertreten und für mich selber einzustehen, notfalls auch einen begrenzten Konflikt in Kauf nehmend.

Dieser Archetyp zeigt mir mein Gegenüber, das DU ja eben auch, damit ich über das Du, welches anders ist als ich, mich selber erkenne. Eben wie in einem Spiegel. Dieser Sinn, ich lerne über das DU etwas über mich, geht verloren, wenn meine ganze Aufmerksamkeit und Achtsamkeit nur beim Gegenüber ist.

  1. Achtung: Hier ist eine deutliche Warnung auszusprechen. Es geht darum, heiler (also vollständiger, gesünder) zu werden. Es geht hier nicht darum, heilig zu werden. Das wäre etwas ganz anderes und nebenbei gesagt auch nur eine illusionäre Karotte, die ich mir selber vor die Nase halte. Aber der Impuls des heiler Werdens wird mitunter – gerade in spirituellen Kreisen – mit der Bestrebung nach Heiligkeit verwechselt. Das kann unschöne Folgen haben. ↩︎
  2. Eine andere, allgemeinere Form der Weisheit, die Weisheit der Philosophen, werden wir als Wesensmerkmal des neunten Archetyps kennen lernen. Zu dem hier besprochenen siebten Archetyp gehört nicht die Weisheit allgemein, sondern nur die Form der Weisheit im Richterspruch. ↩︎

Der sechste Archetyp: Die Vernunft

Vorbemerkung: Dieser Text ist Teil einer 12-teiligen Serie über bestimmte Gestalten am Urgrund einer jeden menschlichen Seele, die wir in der Psychologie mit der Bezeichnung „Archetyp“ belegen. In jedem der 12 Teile wird jeweils einer der 12 wesentlichen Archetypen vorgestellt. Diese Gestalten gibt es bei jedem Menschen als innere Personen. Allerdings spielt nicht jede einzelne Gestalt in jedem Leben eine bedeutende Rolle. In Schauspiel meines Lebens gibt es natürlich Hauptrollen, aber eben auch Nebenrollen und Komparsen. Manche dieser kollektiven Urgestalten in mir kenne ich bis zu einem gewissen Grade. Andere sind mir völlig unbekannt und wenn sie dann doch einmal kurz in einer Szene auftauchen, bin ich überrascht.   

Manchmal erweist es sich in Familienaufstellungen als sinnvoll oder sogar notwendig, einen der Archetypen über Stellvertreter aufzustellen. Entweder, weil das Thema eng mit diesem Archetypus verbunden ist oder weil bei der Person, um die es geht, dieser Archetypus erkannbar dominant im Vordergrund steht. 
Die Beschreibungen des jeweiligen Archetyps sollen dich, liebe Leserin / lieber Leser, anregen, diese Gestalt in dir zu entdecken und vielleicht auch, mit ihr Kontakt aufzunehmen und in einen Austausch zu treten.

Einen Artikel darüber, was Archetypen allgemein sind und wie sie in unserer Seele wirken, findest du hier. Das dort gesagte gilt übergreifend für
alle Archetypen.

Widmung:

Diese Artikelserie ist meinem großen Lehrer Peter Orban gewidmet, der im Oktober des vergangenen Jahres verstorben ist. Lieber Peter, alles was ich über Archetypen meine verstanden zu haben, habe ich von dir. Wenn ich jetzt mein Verständnis der Archetypen beschreibe, möge dies ein Indiz dafür sein, dass deine Saat aufgegangen ist. Ein wenig lebst du weiter in denen, die von dir lernen durften.

Fünf Teilpersonen in unserem Inneren, in unserer Seele, haben wir im Rahmen dieser Serie zu den Archetypen bislang kennengelernt. "Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust" lässt Goethe seinen Protagonisten Faust klagen. Und hier haben wir schon fünf! Nun gut, nicht wirklich fünf Seelen, aber fünf Seelenanteile. Höchste Zeit also, dass eine innere Figur auftaucht auf der Bühne, welche mit der Aufgabe betraut ist, zwischen diesen verschiedenen Anteilen zu vermitteln. Und genau dies ist die Rollenbeschreibung des sechsten seelischen Archetypus. Dieser innere Anteil vermittelt: Zwischen meinen verschiedenen Intentionen und Teilpersönlichkeiten aber auch zwischen mir und meinen Impulsen und den Forderungen, welche die (Um)Welt an mich stellt. Und sie tut dies mit den Werkzeugen der Vernunft. Bei Vernunft denken wir natürlich sofort an die Ratio, an den Verstand. Ja, der Verstand mit seiner Rationalität hat auch damit zu tun, aber Vernunft ist mehr als nur Verstand. Bei der Vernunft geht es um Einsicht. Und zwar um die Einsicht in eine Ordnung, welche die Dinge und Verhältnisse fördert und gedeihen lässt.

Dieser Archetyp vermittelt also und in allererster Linie vermittelt er zwischen dem Weiblichen und dem Männliche in mir. Der vorherige, fünfte, Archetyp war als eindeutig männlich in der Qualität beschrieben worden während der vierte Archetyp ebenso eindeutig eine weibliche Qualität aufweist. Nun kommt der sechste Archetyp daher und soll zwischen den beiden vermitteln. Das kann er nur, wenn er selber neutral ist, geschlechtlich neutral. Wir kennen diese Bewegung auch schon von den ersten drei Archetypen: Der erste ist männlich, der zweite weiblich und der dritte geschlechtlich neutral. Tatsächlich haben der dritte und der hier beschriebene sechste Archetyp noch etwas gemeinsam: Astrologisch betrachtet ist ihnen der Planet Merkur zugeordnet. Man könnte sagen, der sechste Archetyp ist die gereifte Form des dritten Archetyps. Ging es beim dritten Archetyp um Wissen sozusagen als intellektueller Selbstzweck, so muss hier beim sechsten Archetyp das Wissen praktisch werden. Das Wissen wird zur Einsicht in Ordnungen und Regeln, welche dem Leben dienen. Das Wissen wird hier zum Ge-Wissen. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

Wie gesagt: Diese innere Person ist geschlechtlich neutral, asexuell. Auch wenn wir uns diesen Archetyp als weibliche Person vorstellen würden – und in der Bebilderung zu diesem Beitrag ist es so – dann wäre es eine Frau, die ihre Geschlechtlichkeit nicht lebt. Weder ist sie erotisch-verführerisch noch mütterlich liebend und umsorgend. Für beides ist sie viel zu vernünftig. Diese innere Person ist pragmatisch, praktisch. "Quadratisch, praktisch, gut!" ist zwar ein Werbespruch, aber diese innere Person könnte daraus ein Lebensmotto machen.

Wie gewohnt nähern wir uns diesem seelischen Archetyp erst einmal über die Bilder. Das Titelbild für diesen Beitrag zeigt ertragreiche Landschaften, und zwar Kulturlandschaften, Gärten, Felder. Wir sehen rechts einen Mann mit einer Heckenschere. Hier wird der Wildwuchs gestutzt. Links sehen wir einen Streit um eine Grenze. In der Mitte dominiert eine zentrale Figur, eine junge Frau, sie schaut den Betrachter mit offenem, aber auch prüfendem Blick an, während sie in der Hand eine Kornähren hält, ein Symbol des Ertrags der Kultivierungsarbeit an der Natur. Oben in der Zentralachse des Bildes erwächst aus der Baumkrone ein Gesicht, das auf die Auseinandersetzung im linken Bildteil schaut, auch hier mit prüfendem, ja eigentlich schon wertendem Blick. Dieses Gesicht schwebt oberhalb der anderen Personen, es ist der Blick von oben, der Blick des Über-Ichs.

Der Archetyp „Die Vernunft“ als Personifizierung

Als zweite Veranschaulichung in Form einer symbolischen Bildersprache ziehen wir wieder die Symbolon-Karte zu diesem Archetyp heran. Sie trägt den Titel "Die Dienerin".



Karte "Die Dienerin" gezeichnet von Thea Weller
Aus: Peter Orban, Ingrid Zinnel, Thea Weller: Symbolon. Das Spiel der Erinnerungen. [Kartenset und Erläuterungsbuch]. Kailash-Verlag 20063

Wir sehen hier eine Frau in schlichten weißen Gewändern, kniend vor einer Art Altar und umgeben von den Früchten der Ernte, im Hintergrund sehen wir die abgeernteten Felder. Die Figur ist demütig geneigt. Das Opferfeuer entlässt seinen Rauch nach oben, verbindet mit einer höheren Welt, in deren Dienst die Figur auf der Karte sich bescheiden stellt. Im Hintergrund des Bildes schwebt der Hermesstab mit den beiden sich um ihn windenden Schlangen, in der Medizin ein Symbol der Heilung.

Wie können wir diese Symbolik nun begreifen? Dieser Archetyp hat etwas sehr selbstloses, etwas zutiefst uneigennütziges in seinem Charakter. Er ist damit der Gegenentwurf zum vorherigen Archetyp, dem König, dem Ego. Es geht diesem Archetyp nicht darum, zu strahlen, es geht hier um praktisch nützliche Resultate.

Wir hatten gesagt, dieser Archetyp vermittelt zwischen anderen seelischen Anteilen, welche durchaus nicht immer so selbstlos sind. Das bedeutet: Dieser Archetyp ermutigt, wo ein innerer Anteil mutlos und verzagt geworden ist und er versetzt einen Dämpfer, wo andere innere Anteile mit ihren Bestrebungen überschießen. Die Kulturlandschaften der Gärten und Felder sind hierfür ein schönes Sinnbild. Auch hier muss zurückgeschnitten werden, was zu überwuchern droht. Und wo etwas zu wenig ist, wird dies ausgeglichen, etwa wenn Pflanzen zu verdorren drohen, dann werden sie gewässert.

Und was hat das alles mit Heilung zu tun? Nun, hier gibt es ja die Vorstellung aus dem Osten, dass Krankheit etwas damit zu tun hat, dass Energien unausgewogen geworden sind. Und Heilung bedeutet dann, dort zu stärken, wo etwas zu wenig präsent ist und zu dämpfen, wo etwas zu viel geworden ist. Man könnte diese innere Person auch den Regulator nennen. Im Resultat dieser Kultivierungsbemühungen kommt dann etwas wieder in die Ordnung, wo es aus der Ordnung herausgefallen ist. Auch das ist Heilung: Die Wiederherstellung einer gedeihlichen Ordnung.

Vielleicht kann man sich innere Person, um die es hier geht, folgendermaßen vorstellen: Denken wir uns vielleicht eine mittelalterlich anmutende Szenerie. Zwei Heere stehen sich vor einer Burg gegenüber vor dem Beginn einer Schlacht. Wir können uns jetzt noch eine Person vorstellen, sozusagen die verkörperte Vernunft, welche von der Burg herunter den Heerscharen zuruft, mahnt, sie mögen sich besinnen, sie mögen ablassen von dem verderblichen Tun, welches bevorsteht. Diese Person wird auf die Zerstörung hinweisen, welche die bevorstehende Schlacht nach sich ziehen wird. Sie wird argumentieren, dass es doch andere Möglichkeiten der Beilegung von Konflikten gibt. Sie wird mahnen, dass die bevorstehende Schlacht viele Tote und Verwundete fordern wird. Und gleichzeitig ahnt sie dabei, dass sie gegen den Wind redet mit ihren Warnungen, dass sie auf taube Ohren stoßen wird.
Das wird sie aber nicht davon abhalten, nach der Schlacht die Verwundeten in die Burg zu holen und zu pflegen und zu heilen, wo immer sie es vermag. Und zwar die Verwundeten beider Seiten! So müssen wir uns diese innere Person vorstellen.

Die Person selber würde sich nie dazu hinreißen lassen, an dem Kampf teilzunehmen. Dazu ist sie viel zu vernünftig. Aber: Mit ihrer Vernunft wendet sie sich auch den Unvernünftigen zu. Auch im Wissen um die Vergeblichkeit wird sie nicht aufhören, zu mahnen. Sie kann nicht anders. Und sie wird sich allen dienend zuwenden, die ihre gut gemeinten Ratschläge in den Wind geschlagen haben. Auch hier: Sie kann nicht anders.

Die mit dem Archetyp verbundenen Wesenszüge und Energien

Betrachten wir noch einmal die Charakteristika dieser inneren Person im Einzelnen:

Der Ausgleich zwischen widerstrebenden Tendenzen

Diese innere Person ist ein Moderator / eine Moderatorin und eine Mediatorin / ein Mediator. Ihr Bestreben ist es, zwischen verschiedenen inneren Teilen einen tragfähigen Kompromiss zu vermitteln. Was fällt dabei für diese innere Person selber ab? Sagen wir es deutlich: Nichts! Aber das kümmert diese innere Person nicht.

Der Ausgleich zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig

Diese innere Person nährt und hegt, was noch klein und schwach ist und sie zügelt, was zügellos "ins Kraut zu schießen" droht. Die innere Person selber ist der Inbegriff des Maß Haltens, der Mäßigung, des Wohl-Temperierten. Jegliche Ausschweifung ist ihr fremd und sie mag Ausschweifungen auch bei anderen nicht leiden. Wenn es nach ihr ginge, würde sie alles Ungewöhnliche, Überbordende, alles Exaltierte schlicht nicht zulassen. (Aber es geht halt nicht nach ihr, zumindest nicht nur.)
Sie ist kein Genussmensch. Sie tanzt nicht die Nacht durch in einer rauschenden Ballnacht. Aber sie beseitigt die Unordnung am frühen Morgen nach der Ballnacht. Wird ihr das gedankt? Auch hier wieder: Natürlich nicht! Es wird nicht einmal bemerkt.

Das (schlechte) Gewissen

Diese innere Person, die personifizierte Vernunft, weiß sehr genau, was ich alles eigentlich tun sollte. Dass ich weniger essen sollte, und vor allem gesünder essen sollte. Dass ich die unangenehmen Pflichten des Alltags nicht auf "die lange Bank" schieben sollte. Dass ich mehr auf meine Gesundheit achten sollte, gesünder leben sollte. Dass ich meinen Mitmenschen zuvorkommend und unterstützend begegnen sollte. Alles Konjunktiv, Möglichkeitsform. Diese innere Person verkörpert alles, was ich "eigentlich" besser weiß, mich aber nicht danach verhalte. (Mit Letzterem hat sie allerdings nichts zu tun.)
Kurz: Diese innere Person ist die Verkörperung meines Gewissens, meines schlechten Gewissens. Macht diese Person sich damit beliebt im Kreise der anderen inneren Teilpersonen? Natürlich nicht! Sie ist unbequem, sie ist lästig, ja sie ist eine Spaßbremse.

Die Quelle der Angst

Diese innere Person hat ein feines Gespür für alle nur denkbaren Gefahren im Leben. Ihr zweiter Vorname lautet Vorsicht. Und auch Rücksicht. Sie warnt dich zuverlässig. Sie ist damit auch die Quelle jeglicher Form von Angst. Und wenn dann das, was diese innere Person befürchtet hat, tatsächlich eingetreten ist, dann hat diese innere Person unendlich viele Ratschläge parat: Was du beim nächsten Mal besser machen kannst, wo du dich noch mehr vorsehen kannst usw.
Ja, sie sorgt im Kern für das Überleben. Ordnung und Sicherheit sind ihre Maxime. Wenn dabei ein nicht sehr lebendiges Leben dabei herauskommt, hat sie kein Problem damit.

Das Realitätsprinzip – Die Anforderungen des Alltags

Diese innere Person sorgt dafür, soweit das in ihrer Macht steht, dass du deinen Alltag "auf die Reihe bekommst". Sie ist vollständig unheroisch. Ihr geht es nicht um Heldengeschichten, sondern um die Banalitäten der täglichen Pflichten und Verpflichtungen. Ist das "sexy"? Natürlich nicht! Wird man mit dieser inneren Person berühmt – oder auch nur berüchtigt? Natürlich ebenfalls nicht! Diese innere Person ist unscheinbar und sie macht auch dich unscheinbar, wenn sie die Kontrolle übernimmt.

Die Liebe zum Detail

Dieser innere Seelenteil hat so gar nichts Grandioses an sich. Dafür aber einen Ausgeprägten Sinn für die Details, eine Aufmerksamkeit für die kleinen Dinge im Leben. Sie weiß: Auch das großartigste Gebäude wird letzten Endes aus einzelnen Steinen erbaut.

Die Unschuld

Diese innere Person vermeidet nichts so sehr, wie schuldig zu werden oder schuldig zu sein. Sie ist in jeder Beziehung sauber und tugendhaft, sie macht sich nicht die Hände schmutzig in Form von moralisch fragwürdigen Handlungsweisen. Und wenn es doch zu einem Verhalten im moralischen Graubereich kommt, kann diese innere Person immer in voller Überzeugung und durchaus überzeugend sagen: "DAS war ICH nicht!". Und sie hat immer Recht damit. Ihr Werk besteht darin eine Mauer aufzubauen und zu erhalten, eine klare Trennung zwischen dem Guten und dem Bösen, dem Rechten und dem Falschen. Dass diese Mauer manchmal auch das Leben aussperrt … nun ja, was will man dazu sagen?

Der Jahreszeitliche Bezug dieses Archetyps

Dem Archetyp „Die Vernunft“ entspricht im Jahreszyklus der der Spätsommer bzw. der Frühherbst, konkret die Zeit zwischen ca. dem 20. August und ca. dem 20. September. Im späten Sommer sind die typischen Sommerqualitäten noch wahrnehmbar, aber in abgemilderter Form. Wenn die Sonne scheint, wärmt sie noch, aber sie "sticht" nicht mehr. Die Tage sind noch länger als die Nächte, aber die Nacht wird nicht zum Tage. Eben alles sehr moderat. Dieser Archetyp ist dem Element Erde verbunden, der Grundcharakter ist bodenständig.

Astrologische Entsprechung:

In der Astrologie entspricht dieser Archetypus dem 6. Haus, dem Tierkreiszeichen Jungfrau und dem Planeten Merkur.

Schattenseiten und Irrwege des Archetyps "Die Vernunft"

Zu einer Beschreibung dieses Archetyps gehört natürlich auch die Betrachtung von Eigenschaften, welche sich einstellen, wenn dieser innere Anteil überbetont gelebt wird.

Pedanterie

Diese innere Person ist sehr an den Details interessiert. Die Überbetonung nennen wir dann Pedanterie, Kleinlichkeit oder auch Perfektionismus, derbe ausgedrückt: Korinthenkakerei. In der Vielfalt der zu beachtenden Kleinigkeiten geht dann der Blick für die größeren Zusammenhänge verloren.

Die Heiligkeit der Regeln

Im Wesen dieses Archetyps liegt das Regulieren, man könnte den Archetyp auch "den Regulator" nennen. Wenn sich die Regeln jedoch verselbständigen, wird aus dem Regulator ein seelenloser Bürokrat. Hier fehlt dann jegliche Flexibilität – und auch jegliche Leichtigkeit.

Das "Gut-sein-Wollen"

Der Wesenskern dieser inneren Gestalt ist die Vernunft. In der Übersteigerung ist man aber nicht einfach nur vernünftig, nein man möchte moralisch untadelig sein. Die Ausstrahlung ist angestrengt und ein solcher Mensch ist dann auch anstrengend für seine Mitmenschen. Wer jeglichen Schmutz aus den eigenen vier Wänden verbannen will, kann gar nicht anders als den Schmutz anderen Leuten vor die Tür zu kehren.

Erst die Arbeit und dann …. doch kein Vergnügen

Zum Wesen des Archetyps gehört es, sich um die Pflichten des Alltags klaglos zu kümmern. Wenn dieser Archetyp sehr dominant ist, wird aber Alles zur Pflicht. Der Ausgleich im Genuss der Früchte der Arbeit findet schlicht nicht mehr statt. Es gibt ja immer etwas zu tun. Es leidet dabei die Lebensfreude und der Genuss. Wer nicht genießt, wird ungenießbar …

Der fünfte Archetyp: Der König

Vorbemerkung: Dieser Text ist Teil einer 12-teiligen Serie über bestimmte Gestalten am Urgrund einer jeden menschlichen Seele, die wir in der Psychologie mit der Bezeichnung „Archetyp“ belegen. In jedem der 12 Teile wird jeweils einer der 12 wesentlichen Archetypen vorgestellt. Diese Gestalten gibt es bei jedem Menschen als innere Personen. Allerdings spielt nicht jede einzelne Gestalt in jedem Leben eine bedeutende Rolle. In Schauspiel meines Lebens gibt es natürlich Hauptrollen, aber eben auch Nebenrollen und Komparsen. Manche dieser kollektiven Urgestalten in mir kenne ich bis zu einem gewissen Grade. Andere sind mir völlig unbekannt und wenn sie dann doch einmal kurz in einer Szene auftauchen, bin ich überrascht.   

Manchmal erweist es sich in Familienaufstellungen als sinnvoll oder sogar notwendig, einen der Archetypen über Stellvertreter aufzustellen. Entweder, weil das Thema eng mit diesem Archetypus verbunden ist oder weil bei der Person, um die es geht, dieser Archetypus erkannbar dominant im Vordergrund steht. 
Die Beschreibungen des jeweiligen Archetyps sollen dich, liebe Leserin / lieber Leser, anregen, diese Gestalt in dir zu entdecken und vielleicht auch, mit ihr Kontakt aufzunehmen und in einen Austausch zu treten.

Einen Artikel darüber, was Archetypen allgemein sind und wie sie in unserer Seele wirken, findest du hier. Das dort gesagte gilt übergreifend für
alle Archetypen.

Widmung:

Diese Artikelserie ist meinem großen Lehrer Peter Orban gewidmet, der im Oktober des vergangenen Jahres verstorben ist. Lieber Peter, alles was ich über Archetypen meine verstanden zu haben, habe ich von dir. Wenn ich jetzt mein Verständnis der Archetypen beschreibe, möge dies ein Indiz dafür sein, dass deine Saat aufgegangen ist. Ein wenig lebst du weiter in denen, die von dir lernen durften.

Im Ensemble der inneren (Teil)Personen haben wir es hier mit der Hauptrolle schlechthin zu tun. Es geht hier um die beherrschende Figur, die im Zentrum der Aufmerksamkeit des gesamten Stückes steht, welches hier aufgeführt wird und das ich mein Leben nenne. Hier ist das Zentrum des Dramas, sozusagen das Auge des Orkans. Und doch kann es gut sein, dass man diese innere Person gar nicht als solche erkennt, als eine der handelnden Teilsubjekte in meinem Inneren neben anderen. Das Motto dieser inneren Person lautet nämlich: "Ich bin!" Und so könnten wir meinen, diese Person, das bin doch ich! Das ist doch nicht ein Teil von mir, das ist doch das Ganze! Aber weit gefehlt: Auch dies ist nur ein Teil, wenn auch der zentrale Teil. Sein Name lautet auch: Das EGO. (Dies muss immer in Großbuchstaben geschrieben werden.) Und EGO ist natürlich die lateinische Bezeichnung für "Ich", daher die Verwechslung dieses Teils mit dem Ganzen. Wie gesagt: Wir haben hier die Hauptrolle des Stückes. Und diese Hauptrolle ist männlich.

Es gibt noch einen anderen Grund, warum wir vielleicht denken, wir hätten diese Teilperson, den inneren König, gar nicht. Das EGO hat in manchen intellektuellen oder spirituellen Kreisen einen schlechten Leumund. EGO, da klingt doch sehr mit, man sei egoistisch. Und das wollen wir keinesfalls sein. Wir wollen doch nicht herrschen, andere beherrschen. Wir doch nicht. Und doch: Niemand kommt ohne das EGO aus. Der Wahn, ich habe mein EGO überwunden, ist der cleverste Trick des EGOs. Sagen wir es deutlich: Ohne EGO geht es nicht – für niemanden. Irgendjemand im Ensemble meiner Teilpersonen muss die Richtlinienkompetenz haben, so wie sie der Bundeskanzler / die Bundeskanzlerin gegenüber den Kabinettministern innehat und ausübt. Bei dieser Macht, dieser Herrschaft, geht es in erster Linie um die Herrschaft den anderen inneren Bestrebungen gegenüber.

Aber lassen wir auch hier wieder zunächst die Bilder sprechen. Im Titelbild zu diesem Beitrag finden wir in der Mitte, im Zentrum des Bildes einige Symbolisierungen für diesen Archetyp in seiner wohlgestalteten Form. Von unten nach oben sehen wir König Artus im Zentrum seiner Ritter der Tafelrunde. Er ist hier "primus inter pares", Erster unter Gleichen. Es sind alles edle Leute (Edelleute), aber die Person in der Mitte ist mit einer besonderen Würde behaftet, es ist eine Ehrenposition. Als weiteres Symbol finden wir in der Mitte des Bildes den Löwen, den König der Tiere aus der Welt der Fabeln und der Sagen, mit seiner Krone. Er strahlt eine gelassene Kraft aus. Und darüber finden wir den Göttervater aus der antiken Götterwelt, auch hier wieder ein Erster unter Gleichen, der herausgehobene Gott unter den anderen Göttern.
Auf der rechten und der linken Seite des Titelbildes finde sich verschiedene Fehlgestaltung dieser Urkraft des Herrschers. Der König kann ein Märchenkönig sein, ein Traumtänzer mit seinem Märchenschloss (Neuschwanstein) im Wolkenkuckusheim. Hier ist er den realen Gegebenheiten der Untertanen, die er regierend eigentlich gestalten sollte, komplett entrückt. Auf der Gegenseite finden wir den Herrscher als Tyrannen und rücksichtslosen Ausbeuter. Damit ist das Spektrum, in welchem sich diese innere Figur des Königs verwirklichen kann – im Guten wie im Bösen – andeutungsweise umrissen. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

Der Archetyp „Der König“ als Personifizierung

Aber wir versuchen hier ja immer uns diesen archetypischen, urwüchsigen Kräften und Bestrebungen in uns zu nähern, in dem wir sie uns wie Personen vorstellen, eben als Ensemble von Teilpersonen in unserer Seele. Und das Bild ist hier für diese Hauptrolle natürlich der Herrscher als König.



Karte "Das EGO" gezeichnet von Thea Weller
Aus: Peter Orban, Ingrid Zinnel, Thea Weller: Symbolon. Das Spiel der Erinnerungen. [Kartenset und Erläuterungsbuch]. Kailash-Verlag 20063

Die nebenstehende Symbolon-Karte zeigt uns den König auf seinem Thron und mit allen Insignien seiner Würde.

Er ist erhöht gegenüber dem Getriebe der Stadt und des Lagers unter ihm. Seinen Thron ziert auf jeder Seite eine Löwenfigur. Er hält das Zepter als Zeichen seiner weltlichen Macht und seiner Hoheitsbefugnisse in der rechten Hand. In der Linken trägt er den Reichsapfel, die Weltkugel mit dem aufgesetzten Kreuz. Die Weltkugel deutet den universellen Herrschaftsanspruch an. Diese innere Person in mir beherrscht die Welt, nämlich meine Welt. (Eine andere gibt es für mich nicht.) Das Kreuz auf dem Reichsapfel deutet die religiöse Verbindung an, die Religio (Rückverbindung) der Herrschaft an das Göttliche. Hier folgt die Gestaltungsmacht der Herrschaft einer höheren Ordnung. Der purpurne Umhang und die Krone auf dem Kopf sind weitere Zeichen der Würde und der Erhöhung. Ja, die Krone macht ein wenig größer. Und hinter dem König erstrahlt eine riesenhafte Sonne als Quelle seiner Kraft. Die Sonnenenergie ist natürlich auch die Fülle der Lebensenergie schlechthin.

Da sitzt er nun, der unumschränkte Souverän in seiner vollen Würde im sicheren Gefühl, niemand könne an ihn heranreichen und es mit ihm aufnehmen.
Sein Motto lautet: "Es ist den Untertanen jederzeit erlaubt, das zu tun, was ich möchte."

Im günstigsten Fall stellen wir uns diesen Herrscher als weise und gütig vor. Dann können wir uns ihm anvertrauen, so wie wir uns als Kind gerne einem liebevollen und wohlwollenden Vater anvertrauen.

Wir reden ja hier immer über innere Anteile und Bestrebungen oder eben als Bild von einem inneren Team von Teilpersonen. Und in diesem Kontext mag die Vorstellung von Macht und Herrschaft ihren Schrecken ein wenig verlieren, geht es doch bei dieser Macht um die Selbstermächtigung. Irgendjemand muss das innere Team ja führen, im günstigen Fall weise und zum Wohle des Ganzen, also zu meinem Wohle.

Aber natürlich gehört es auch zur Königswürde, die Herrschaft nicht nur nach innen auszuüben, sondern auch nach außen zur Geltung zu bringen. Ja, dies ist auch eine wesentliche Funktion dieser inneren Gestalt. Sie soll meine verschiedenen Bestrebungen und Impulse nicht nur effektiv bündeln, sie soll die Herrschaftsansprüche auch nach außen geltend machen.
Und hier beginnt das eigentliche Drama. Hier gerät diese innere Person, mein EGO, in Konflikt mit den inneren Königen oder EGOs der anderen Menschen. Und hier zeigt es sich dann, wie es um meinen inneren König wirklich bestellt ist, wie es mit meiner Selbstbestimmung, meinem Selbstwert, meiner Integrität und meiner Würde wirklich aussieht.

"Die Würde des Menschen ist unantastbar" heißt es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Was aber, wenn nun doch jemand meine Würde anzutasten versucht? Hier ist dieser Archetypus mit seiner speziellen Energie dafür zuständig, meine Würde und meine Grenzen wirksam zu sichern.

Die mit dem Archetyp verbundenen Wesenszüge und Energien

Betrachten wir noch einmal die Charakteristika dieser inneren Person, meines Königs und Herrschers, im Einzelnen:

Die Energie der Sonne

Die Energie, die in dieser inneren Person wirkt, ist die Sonnenenergie. Letztlich geht alle irdische Energie auf das Feuer des Zentralgestirns in unserem Sonnensystem zurück. Und diese Energie, die Lebensenergie selber, das vitale Prinzip wirkt in dieser inneren Gestalt. Jeder innere König ist ein Sonnenkönig. Und diese Energie strahlt nach außen, wenn dieser Archetyp kraftvoll in Aktion tritt. In der menschlichen Sphäre nennen wir dies Charisma.

Der Gestaltungswille

Wir hatten gesagt, der Archetyp des inneren Königs verkörpert das Prinzip des "Ich Bin!". Das stimmt natürlich. Aber wenn das "Ich Bin" sich auf etwas richtet, eine Intention entsteht, dann wird aus dem "Ich Bin" ein "Ich Will". Aber was wird denn da gewollt? Es ist der Wille zur Gestaltung, zur Beeinflussung der eigenen Lebensverhältnisse. Dieser Wille kann den Naturkräften etwas entgegen setzen, vielleicht in Form einer Behausung, die uns vor den Einflüssen von Wind und Wetter schützt. Der Gestaltungswille ermöglicht es auch, der Natur Nahrung und andere nützliche Dinge abzugewinnen. Aber natürlich steht dieser Gestaltungswille mitunter auch in Konkurrenz zu einem entgegengesetzten Gestaltungswillen anderer Menschen. Hier wird aus dem Gestaltungswillen dann ein Durchsetzungswille.

Noch etwas ist wichtig bei der Betrachtung des Willens. Auch der erste Archetetyp, der Krieger, hat den Willen als wichtige Eigenschaft. Aber der Wille des Kriegers ist anders, er ist impulsiv, er ist initiativ, er führt dazu, dass etwas begonnen wird. Der Krieger interessiert sich in seiner Impulsivität aber nicht für die Folgen. Der Wille des Königs richtet sich aber genau auf diese Folgen. Was soll erreicht werden? Der Wille des Kriegers bringt uns z.B. dazu, ein gewisses Projekt überhaupt "in Angriff zu nehmen" (sic!). Der Wille des Königs lässt uns dabei durchhalten. Der Krieger kann Neuland gewinnen, aber nur der König kann das neu gewonnene Land auch gestalten, ordnen, fruchtbar machen.

Die Befruchtung – Das männliche Prinzip I

Ich erwähnte eingangs schon, diese innere Person ist in ihrem Wesen zutiefst männlich, so wie der vorige (vierte) Archetyp der Mutter bzw. des Kleinkindes zutiefst im Wesen weiblich ist. Wir finden in diesem Archetyp die notwendige Ergänzung zum ebenfalls männlichen Archetyp des Kriegers. Sehr deutlich wird dies im Bereich der Sexualität / Fortpflanzung. Für den Krieger geht es dabei um das Eindringen – und vielleicht noch darum, seinen Samen einfach "abzuladen". Was daraus wird, ist dem Krieger egal. Für den König geht es aber genau darum, was daraus wird, ihm geht es um die Befruchtung. Es soll etwas daraus entstehen, und zwar neues Leben. Und in diesem neuen Leben ist mein Ich (mein EGO) enthalten. Ich will mich fortpflanzen. Hier wirkt in der Tiefe der Seele eine Art magischer Unsterblichkeitszauber. In meinem Nachwuchs lebe ich weiter. In der Sexualität ist für diesen Archetyp eben sehr wohl – im Unterschied zum ersten Archetyp – wichtig, dass etwas daraus entsteht, dass es zur Befruchtung kommt.
Man könnte sagen, der erste Archetyp ist beschädigt und gekränkt, wenn es zu Erektionsstörungen kommt. Der hier behandelte Archetyp des Königs ist dagegen in der Sexualität beschädigt und gekränkt, wenn sich sein Samen als unfruchtbar erweist.

Der Drang nach oben – Das männliche Prinzip II

Mit dem Archetyp des Königs ist noch etwas anderes Ur-Männliches verbunden, der Drang in die Höhe, der Drang nach oben. Der König steht an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie, hier ist der Platz an der Sonne. Und da möchte das Männliche hin. Dafür strengt man sich an, dafür kämpft man und konkurriert man. Es geht immer um den Vergleich: Ich bin aber besser (höher) als du. Das Männliche muss irgendwie nach oben, selbst wenn man nicht genau weiß, wozu eigentlich. Oben ist einfach besser als unten. Je weiter oben, desto näher der Sonne. Und wenn es denn so ist, dass an der obersten Spitze des höchsten Berges nur einer stehen kann, ich dort also alleine bin, dann ist das eben so. Hauptsache, der Sonne so nahe wie möglich. Auch wenn ich sie nie wirklich erreichen werde.
Wir hatten beim letzten, zutiefst weiblichen Archetyp der Mutter darauf hingewiesen, dass dieser Archetetyp eng mit dem Element Wasser verbunden ist. Und das Wasser zieht uns in die Tiefe. Das Männliche ist mit dem Land, der Erde verbunden und es zieht einen dort auf den höchsten Berg. Nach oben, das will er hin, der König-Archetyp in mir. Und wenn er da noch nicht ist, ist es zumindest wichtig, dahin unterwegs zu sein, im Aufstieg begriffen zu sein. Kann man dabei fallen? Ja, natürlich. Könige fallen oder werden gestürzt – und doch muss und will er nach oben.

Das Besondere – Das Eigene

Der König hat eine besondere, eine herausgehobene Position. Es kann nur einen geben. So lautete auch ein Filmtitel: "Highlander – Es kann nur einen geben". Und tatsächlich gilt ja für jeden Menschen: Niemand ist wie du. Du bist einzigartig. So jemanden, mit genau der Kombination von Eigenschaften, Fähigkeiten und Temperament hat es vor dir noch nie gegeben und wird es nach dir auch nie wieder geben.
Und wenn wir diese Besonderheiten in der Welt zur Geltung bringen, dann spricht man landläufig auch von Persönlichkeit. Und dieser Archetyp des Königs ist die treibende Kraft der Persönlichkeitsentwicklung, der Entwicklung der ganz besonderen Talente und Neigungen, die uns einmalig machen. Immer wenn wir die nur uns eigene Farbschattierung als Licht leuchten lassen, wenn wir den nur für uns eigenen Ton singen oder summen, dann ist dieser Archetetyp am Werke.

Der Jahreszeitliche Bezug dieses Archetyps

Dem Archetyp „Der König“ entspricht im Jahreszyklus der Hochsommer und die Zeit zwischen ca. dem 20. Juli und ca. dem 20. August. Die Zeit ist warm und von der Sonne geprägt. Und an ihrem Ende findet sich oft schon die Vorahnung des Herbstes und damit der Ernte als Ausweis der Fruchtbarkeit.

Astrologische Entsprechung:

In der Astrologie entspricht dieser Archetypus dem 5. Haus, dem Tierkreiszeichen Löwe und der Sonne.

Fehlentwicklungen und Irrwege des Archetyps "Der König"

Im Titelbild zu diesem Beitrag sind auf der linken und der rechten Seite des Bildes zwei verschiedene Fehlentwicklungen angedeutet, welche dieser Archetyp annehmen kann.

Der Märchenkönig im Luftschloss

Dem Königsprinzip einwohnend ist ja der Gestaltungswille. Und dazu benötigt man natürlich eine gewisse Vorstellungsgabe. "Die Welt als Wille und Vorstellung" lautet ein Buchtitel des Philosophen Arthur Schopenhauer, es könnte auch das Credo dieser inneren Urgestalt sein.
Wenn allerdings der Teil der Vorstellung, der Phantasie, überschießt und sich löst von der Erde und der Materie, dann lebt der König in einer Märchenwelt und baut Luftschlösser. Er ist dann nicht mehr geerdet. Seine Kraft wirkt dann nicht in der diesseitigen Welt, sondern in einer jenseitigen Sphäre, der König kann dann seine Ordnungs- und Gestaltungsfunktion nicht wirklich ausfüllen.
Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn ein König in seinem Reich die Künste und die schönen Dinge fördert. Eine überschießende Pracht- und Prunkentfaltung kann allerdings, so lehrt die Historie, zum Sturz des Königs führen. Manchmal wir er dann auch durch die Untertanen einen Kopf kürzer gemacht.

Herrschsucht

Eine gut entwickelte Sonnenenergie, Löwenkraft und Königswürde bewirkt fruchtbare Landschaften und allgemeinen Wohlstand. Die Macht wird gestaltend eingesetzt zum Wohle des Ganzen.
Wenn der Machtaspekt überschießend ausgeprägt ist, wird die Macht zum Selbstzweck und die Herrschaft zur Herrschsucht. Das Eigeninteresse dominiert und das Wohlergehen des Gesamtsystems wird aus dem Auge verloren. Die Herrschaft gründet dann im Wesentlichen auf Gewalt. Der Wohlstand konzentriert sich auf sehr Wenige bei arger Armut der Vielen. Solche Verhältnisse werden im Bereich der Ökonomie als Ausbeutung beschrieben. Hier wird zwar nicht der Pol der Materie bzw. des Materiellen vernachlässigt, im Gegenteil haben wir hier eine ungesunde Fixierung auf das Materielle, allerdings immer nur in Bezug auf individuelle (egoistische) Einzelinteressen.

Der vierte Archetyp: Die Mutter / Das Kleinkind

Vorbemerkung: Dieser Text ist Teil einer 12-teiligen Serie über bestimmte Gestalten am Urgrund einer jeden menschlichen Seele, die wir in der Psychologie mit der Bezeichnung „Archetyp“ belegen. In jedem der 12 Teile wird jeweils einer der 12 wesentlichen Archetypen vorgestellt. Diese Gestalten gibt es bei jedem Menschen als innere Personen. Allerdings spielt nicht jede einzelne Gestalt in jedem Leben eine bedeutende Rolle. In Schauspiel meines Lebens gibt es natürlich Hauptrollen, aber eben auch Nebenrollen und Komparsen. Manche dieser kollektiven Urgestalten in mir kenne ich bis zu einem gewissen Grade. Andere sind mir völlig unbekannt und wenn sie dann doch einmal kurz in einer Szene auftauchen, bin ich überrascht.   

Manchmal erweist es sich in Familienaufstellungen als sinnvoll oder sogar notwendig, einen der Archetypen über Stellvertreter aufzustellen. Entweder, weil das Thema eng mit diesem Archetypus verbunden ist oder weil bei der Person, um die es geht, dieser Archetypus erkannbar dominant im Vordergrund steht. 
Die Beschreibungen des jeweiligen Archetyps sollen dich, liebe Leserin / lieber Leser, anregen, diese Gestalt in dir zu entdecken und vielleicht auch, mit ihr Kontakt aufzunehmen und in einen Austausch zu treten.

Einen Artikel darüber, was Archetypen allgemein sind und wie sie in unserer Seele wirken, findest du hier. Das dort gesagte gilt übergreifend für
alle Archetypen.

Widmung:

Diese Artikelserie ist meinem großen Lehrer Peter Orban gewidmet, der im Oktober des vergangenen Jahres verstorben ist. Lieber Peter, alles was ich über Archetypen meine verstanden zu haben, habe ich von dir. Wenn ich jetzt mein Verständnis der Archetypen beschreibe, möge dies ein Indiz dafür sein, dass deine Saat aufgegangen ist. Ein wenig lebst du weiter in denen, die von dir lernen durften.

Diese innere Gestalt in unserer Seele ist zuständig für die Gefühle. Welche Gefühle, mag der die geneigte Leserin / der geneigte Leser sich vielleicht fragen. Nun, einerseits könnte man sagen: Alle Gefühle! Aber das wird der Sache nicht ganz gerecht, obwohl es stimmt. Es geht um sehr grundlegende Gefühle, aus denen sich das meiste in der Gefühlswelt ableitet. Nun könnte man meinen, es ginge hier um die großen Gefühle. Mir scheint es treffender zu sagen, es geht um die tiefen Gefühle. Es geht um Zugehörigkeit, Geborgenheit, Heimat und das zu Hause sein in der Welt. Grundlegend sind diese Gefühle, weil sie mein Erleben und meine ganze Existenz prägen.

Auch dieser Archetyp hat eine doppelte Bezeichnung, nämlich einerseits die Mutter und das (kleine) Kind. Aber man muss das zusammen denken. Eine Mutter wird zur Mutter durch das Kind oder die Kinder, welche sie geboren hat. Und das noch sehr kleine Kind unterscheidet noch gar nicht zwischen sich und der Umwelt, zwischen sich und der Mutter. Es sind zwei Seiten derselben Medaille.
Dieser Archetyp, dieser innere Anteil in jeder Seele, ist von immenser Bedeutung – und doch hat er etwas Unscheinbares, Unauffälliges, Leises an sich. Es kann gut sein, dass wir ihn lange Zeit gar nicht bewusst bemerken.

Diese innere Person ist, ebenso wie der zweite Archetyp, zutiefst weiblich. Im Rollenrepertoire der verschiedenen Schauspiele und Drehbücher meines Lebens ist dieser Archetyp die zentrale weibliche Hauptrolle. Natürlich bedeutet dies nicht, diese durch und durch weibliche innere Person gäbe es nur bei Frauen. Nein, es gibt sie in jedem Menschen – es kann allerdings sein, dass du etwas länger brauchst, dich mit diesem Charakter in dir anzufreunden oder ihn überhaupt erst einmal in dir zu entdecken, wenn du ein Mann bist.

Der Archetyp „Die Mutter / Das Kind“ als Personifizierung

Wie immer ist eine erste Näherung an den Archetyp in der Seele über die Bilder gegeben. Es ist zu empfehlen, diese erst einmal auf sich wirken zu lassen als "Gestalt", ohne zu sehr ins Detail zu gehen. Im Titelbild dieses Beitrages sehen wir im Zentrum eine Frau, die sich in der Mitte ausdehnt. Im Zentrum dieses Raumes, welche die Frau in sich eröffnet, sehen wir ein ungeborenes Kind, das aus der Vereinigung einer Frau und eines Mannes entstanden ist. Das Umfeld dieses Zentrums ist deutlich in zwei Seiten geteilt. Eine helle Seite mit den Zeichen einer himmlischen, engelsgleichen Harmonie und eine dunkle Seite voller Ängste und Gespenster. Darauf wird zurückzukommen sein.

Die unten stehende Symbolon-Karte zeigt uns dasselbe Thema als Mutter, welche das schon geborene Kind in ihren Armen hält. Sie hält es auf ihrer linken Seite, sie hält es zu ihrem Herzen hin. Ihre Aufmerksamkeit ist ganz beim Kind. Die Darstellung erinnert an christlich geprägte Bilder von Maria mit dem neugeborenen Jesuskind. Diese Figur scheint einem Wasser zu entsteigen und im Hintergrund sehen wir einen vollen Mond, das Licht der Nacht.

Die Personifizierung als Mutter / Kind

Das Wesentliche an diesem Archetyp sind die Themen Schutz, Umsorgen, Geborgenheit und Verbindung. Es geht hier darum, was wesentlich ist dafür, dass ein neugeborenes Kind in dieser Welt heimisch werden kann und sich in dieser Welt zu Hause fühlt.


Karte "Die Mutter" gezeichnet von Thea Weller
Aus: Peter Orban, Ingrid Zinnel, Thea Weller: Symbolon. Das Spiel der Erinnerungen. [Kartenset und Erläuterungsbuch]. Kailash-Verlag 20063

Diese Themen beschreiben im günstigen Fall, wie es gelingen kann, dass ein neugeborenes Kind sich gewollt, willkommen und geliebt fühlt. Dann fühlt das Kind sich sicher in seiner Zugehörigkeit und seiner Bindung. So entsteht eine starke Verwurzelung, welche später eine raumgreifende Baumkrone tragen kann.

Aber natürlich ist mit diesen Themen auch verbunden, was geschieht, wenn die frühkindliche Bindung und Verbindung – aus welchen Gründen auch immer und in welcher Form auch immer – defizitär ist. Dann wird etwas Wesentliches am Beginn des Lebens vermisst. Und das kleine Kind spürt sehr deutlich, dass hier etwas Wesentliches fehlt. Allerdings kann es dies noch nicht wirklich sprachlich benennen.
Jedenfalls: Im ungünstigen Fall einer fehlenden Geborgenheit entsteht der Nährboden für allerlei Ängste und innere Dämonen und Gespenster. Es ist auch der Nährboden für das "Nein" zum Leben, für Trotz, Wut, Trauer und Hilflosigkeit. Die Welt ist dann dunkel und gefährlich, wir sind dann unbehaust in dieser Welt als grundlegendes Lebensgefühl.

Zur Veranschaulichung stelle man sich hier einmal vor, wie bis vor gar nicht so langer Zeit in Krankenhäusern die Neugeborenen direkt nach der Geburt üblicherweise behandelt wurden. Sie wurden von der Mutter getrennt – die Mutter muss sich ja von den Anstrengungen der Geburt erholen – und in einen Raum mit den anderen Neugeborenen gebracht.

Viele der Babys schrien, nach ihrer Mutter, nach Aufmerksamkeit und Wärme. Und man hat sie schreien lassen, bis sie sich müde geschrien hatten und dann einschliefen. Man stelle sich dies aus der Perspektive des Kindes vor. Es lebte eine Zeit lang sozusagen "paradiesisch", geschützt und genährt und versorgt im Körper der Mutter. Aber irgendwann wird es eng. Der Weg durch den Geburtskanal ist für das Baby ein Kampf um die Existenz. Auf der anderen Seite angekommen, ist es erst einmal kalt und man wird empfangen von einem viel zu hellen Licht, welches blendet. Was das Baby jetzt benötigt, ist der Hautkontakt und den vertrauten Herzschlag der Mutter als Rückversicherung, dass alles gut ist, dass ich gut angekommen bin auf der anderen Seite.

Und genau von dem, dessen das Neugeborene in diesem Moment am dringendsten bedarf, wird es getrennt. Es ist dann alleine. Und es kann nur eines machen: Schreien. Nur: Das Schreien nützt nichts. Man muss dabei auch bedenken, das Baby hat ein ganz anderes Zeitempfinden. Eine halbe Stunde oder auch eine Stunde ohne Reaktion auf das dringendste Bedürfnis ist im Erleben buchstäblich eine Ewigkeit. Dieses alleine gelassen werden für eine Zeit fühlt sich im Erleben des Babys so an, als ob niemals jemand kommen wird. "Lasset alle Hoffnung fahren" könnte das Motto sein. Hier sind wir auf der dunklen Seite des Titelbildes zu diesem Beitrag.

Man kann vielleicht tatsächlich am besten verstehen, wofür der Archetyp, um den es hier geht, zuständig ist und was er leistet, wenn wir uns das Fehlen dieser Qualität vorstellen. Erst in der Negativfolie der Abwesenheit können wir wirklich ermessen, was die Qualitäten dieses Archetyps wirklich bedeuten und wie tief sie in unserer Seele verwurzelt sind, wie grundlegend sie unser Leben prägen.

Die mit dem Archetyp verbundenen Wesenszüge und Energien

Mit dem Archetyp der Mutter bzw. des kleinen Kindes sind die folgenden charakteristischen Qualitäten verbunden:

Hingabe

Dieser Archetyp ist selbstlos. Er geht auf in der Hingabe an seine Aufgabe oder seine Funktion. Ich hatte eingangs geschrieben, diesem Archetyp sei etwas Unauffälliges und Stilles zu eigen. Das hat mit dieser Selbstlosigkeit zu tun. Dieser Archetyp rückt sich nicht selber ins Rampenlicht, ist nicht egozentrisch. Deswegen kann man ihn auch leicht übersehen.

"Das ewig weibliche zieht uns hinan"

In diesem Archetyp finden wir die Verkörperung des Weiblichen schlechthin. "Das ewig Weibliche zieht uns hinan" heißt es am Ende des zweiten Teils des Faust. Und Goethe legt diesen Satz einem "Chorus mysticus" in den Mund, also einem mystischen Chor. Einerseits ist natürlich klar, dass es kaum etwas Weiblicheres gibt als Schwangerschaft und Geburt, aber auch das Stillen des Babys an der Mutterbrust. Kein Mann kann dies, der Körper des Mannes ist dafür nicht ausgelegt. Aber etwas anderes noch scheint bei Goethe an dieser Stelle durch: Das Weibliche und eben nur das Weibliche verbindet mit der Ewigkeit. Nur das Weibliche kann neues Leben in die Welt bringen. Und so wird das Leben selber von Generation zu Generation weiter getragen, in dem es immer neu erzeugt wird. Von wem? Von den Müttern, also von den Frauen. Jede Geburt und jedes Mutter werden verbindet so mit der unendlichen Kette des Lebens.

Das Geheimnis

Wir erwähnten bereits, dass Goethe den Satz zum ewig Weiblichem durch einen mystischen Chor aussprechen lässt. Wir haben also die Qualität eines Mysteriums hier auch angesprochen. Und tatsächlich gibt es im Feld des Weiblichen und noch mehr im Feld der Mutterschaft ein großes Geheimnis. Weil es ein Mysterium ist, kann man das Geheimnis nicht lüften. Man kann hier nur andeuten und ahnen, aber nicht wissen. In jedem Fall: Das Frau-Sein und noch stärker das Mutter-Sein ist ein sehr weites Feld. So weit, dass man sich darin ziemlich verlaufen kann und als Mann sogar zwingend verlaufen muss.
Um hier noch einmal Goethe und den Schluss von Faust II zu bemühen: Das obige Zitat etwas erweitert lautet "Das Unbeschreibliche, Hier ist’s getan / Das Ewig-Weibliche Zieht uns hinan." Ja, eben! Es ist unbeschreiblich, weswegen ich hier aufhöre, zu versuchen es zu beschreiben.

Das Yin-Prinzip in Allem

Die Qualität des hier in Rede stehenden Archetyps steht auch für eines der beiden großen und sich gegenseitig ergänzenden kosmischen Prinzipien. Dieser Archetyp verkörpert eben die Yin-Seite. Es geht eher um empfangen als um Geben. Hier lebt das Weiche, nicht das Harte. Hier geht es um das Wachsen und Reifen (lassen) und nicht so sehr um das Machen. Der Yin Aspekt steht für das geschehen lassen als Prinzip im Gegensatz dazu, etwas erzwingen zu wollen. Hier wird etwas beleuchtet statt selber zu leuchten so wie der Mond als Licht der Nacht erscheint, weil er angestrahlt wird. Generell geht es hier eher um die Nachtseite als die Tagseite.

Das Element Wasser

Dieser Archetyp ist – weil weiblich – auf das Engste verbunden mit dem Element Wasser. Das Wasser ermöglicht das Leben, aus dem Wasser entsteht alles. Das Wasser passt sich jeder Form an. Das Wasser ist weich und doch bricht es – auf lange Sicht – den härtesten Stein.

Instinkt und Intuition

Die Qualität dieses Archetyp ist eher ein fühlendes Erfassen als ein gedankliches Analysieren. Darin liegt eine Sensibilität oder wir könnten auch sagen Empfindsamkeit. Diese Empfindlichkeit braucht ein starkes Gehäuse der Geborgenheit.

Der Jahreszeitliche Bezug dieses Archetyps

Dem Archetyp „Mutter/Kleinkind“ entspricht im Jahreszyklus der Beginn des Sommers und die Zeit zwischen ca. dem 20. Juni und ca. dem 20. Juli. Der Sommer ist hier noch frisch und die Zeitqualität ist von erwachender Fruchtbarkeit geprägt.

Astrologische Entsprechung:

In der Astrologie entspricht dieser Archetypus dem 4. Haus, dem Tierkreiszeichen Krebs und dem Mond.

Fehlentwicklungen und Heilungswege

Überbetonung der Charakteristika des Archetyps

Wenn die Qualitäten und Energien dieses Archetyps überbetont ausgeprägt sind, stellt sich die mütterliche Qualität als Überbehütung dar. Daraus entsteht Abhängigkeit, man kann nicht los lassen und das, was behütet und umsorgt werden soll, kann nicht in die Freiheit und Eigenständigkeit entlassen werden. Die Bindung, welche hier entsteht, ist durchzogen von Verlustangst.

Die Blockade der Energie des Archetyps

Wenn wir von den Qualitäten und Energien dieses Archetyps (teilweise) getrennt sind, ist eine tiefgreifende Verunsicherung die Folge. Auf dieser Grundlage gedeihen die verschiedensten Ängste, eine allgemeine Besorgnis und auch rein imaginierte Bedrohungen und Gefahren. In diesem Zustand sind wir empfänglich für alle möglichen Beeinflussung und Steuerungen von außen, die uns nicht gut tun.

Heilungswege

Es gibt hier eigentlich nur einen Heilungsweg: Wir müssen uns mit dem verletzten oder gekränkten oder verunsicherten "inneren Kind" befassen, das immer noch in uns lebt. Wir müssen dieses innere Kind aus dem Exil, aus dem Keller des Unbewussten abholen und an das Tageslicht des Bewusstseins begleiten. Das innere Kind muss erkannt und anerkannt werden. Dazu müssen wir – entgegen unserem Wollen – in die Kellergeschosse in unserer Psyche hinabsteigen. Das macht niemand freiwillig, das machen wir nur einer Not gehorchend. Dabei müssen wir darauf vorbereitet sein und es aushalten, dass dieses innere Kind uns trotzig oder ablehnend oder wütend gegenüber tritt. Und vor allem müssen wir bereit sein zum Mitgefühl für die seelischen Wunden, welche uns das innere Kind präsentiert. All dies will noch einmal – oder vielleicht auch zum ersten mal überhaupt – durchfühlt werden, bevor es heilen kann.

Der dritte Archetyp: Der Vermittler

Vorbemerkung: Dieser Text ist Teil einer 12-teiligen Serie über bestimmte Gestalten am Urgrund einer jeden menschlichen Seele, die wir in der Psychologie mit der Bezeichnung „Archetyp“ belegen. In jedem der 12 Teile wird jeweils einer der 12 wesentlichen Archetypen vorgestellt. Diese Gestalten gibt es bei jedem Menschen als innere Personen. Allerdings spielt nicht jede einzelne Gestalt in jedem Leben eine bedeutende Rolle. In Schauspiel meines Lebens gibt es natürlich Hauptrollen, aber eben auch Nebenrollen und Komparsen. Manche dieser kollektiven Urgestalten in mir kenne ich bis zu einem gewissen Grade. Andere sind mir völlig unbekannt und wenn sie dann doch einmal kurz in einer Szene auftauchen, bin ich überrascht.   

Manchmal erweist es sich in Familienaufstellungen als sinnvoll oder sogar notwendig, einen der Archetypen über Stellvertreter aufzustellen. Entweder, weil das Thema eng mit diesem Archetypus verbunden ist oder weil bei der Person, um die es geht, dieser Archetypus erkennbar dominant im Vordergrund steht. 
Die Beschreibungen des jeweiligen Archetyps sollen dich, liebe Leserin / lieber Leser, anregen, diese Gestalt in dir zu entdecken und vielleicht auch, mit ihr Kontakt aufzunehmen und in einen Austausch zu treten.

Einen Artikel darüber, was Archetypen allgemein sind und wie sie in unserer Seele wirken, findest du hier. Das dort gesagte gilt übergreifend für
alle Archetypen.

Widmung:

Diese Artikelserie ist meinem großen Lehrer Peter Orban gewidmet, der im Oktober des vergangenen Jahres verstorben ist. Lieber Peter, alles was ich über Archetypen meine verstanden zu haben, habe ich von dir. Wenn ich jetzt mein Verständnis der Archetypen beschreibe, möge dies ein Indiz dafür sein, dass deine Saat aufgegangen ist. Ein wenig lebst du weiter in denen, die von dir lernen durften.

Der dritte Archetyp verwaltet in mir den Bereich der Aufnahme, Verarbeitung und Weitergabe von Wissen. Diese innere Gestalt ist zuständig für intellektuelle Interessen, für den Austausch über gedankliche Konzepte und entsprechende Diskussionen. Interesse für fast alles, eine ausgeprägte Neugier und eine spielerische Offenheit für neue Informationen und Ansichten zeichnet diesen Archetyp aus. Er ist hochgradig kontaktfreudig und in jeder Hinsicht beweglich und anpassungsfähig, vor allem natürlich geistig beweglich. Überhaupt scheint diese innere Person, wenn sie im Drama meines Lebens eine tragende Rolle spielt, nie wirklich zur Ruhe zu kommen, sie ist immer unterwegs und stets auf der Suche nach neuen Informationen. Diesem Archetyp ist eine gewisse Leichtigkeit und Unbeschwertheit zu Eigen, man ist hier abgesehen von einem intellektuellen Interesse unbeteiligt, ja geradezu beliebig.

Es geht hier also um Wissen und Information und den Austausch derselben. Damit im Zusammenhang steht auch – neben der reinen Kommunikation auf der Sachebene – noch ein weiterer Zuständigkeitsbereich: Dieser Archetyp ist auch ein Botschafter, ein Vermittler zwischen verschiedenen Parteien, der aber selber keine Aktien in dem Spiel hat. Der Überbringer der Botschaften der jeweils anderen Partei ist selber parteilos. (Das es trotzdem in der menschlichen Geschichte nie unüblich war, diesen Botschafter einen Kopf kürzer zu machen, wenn die Botschaft unangenehm ist, ist nicht seine Schuld.)

In der Lebendigkeit und Offenheit für jede Information und für jeden Standpunkt hat dieser Archetyp etwas sehr junges an sich, er wirkt jugendlich, manchmal vielleicht sogar fast kindlich mit seiner unschuldigen Wissbegier. Es kann natürlich auch einmal vorkommen, dass die zu überbringende Information ein wenig ausgeschmückt wird. Es soll ja schließlich eine interessante Geschichte sein, die man zu erzählen hat. Wenn sich dies mit einer gehörigen Portion Phantasie paart, können die erzählten Geschichten auch recht phantastisch ausfallen.
Da dieser Archetyp im Medium der Information, des Verstandes und des Intellekts lebt, wirkt er sehr ätherisch und seltsam körperlos. Es geht von ihm eine feenhafte Aura aus.

Das Titelbild dieses Beitrages bildet diese Charakteristika dieses Archetyps ab. Die Welt dieses Archetyps ist bunt, vielfältig, phantasievoll bis fantastisch und vor allem leicht und luftig. Wenn wir uns diese seelische Gestalt in uns als Person, als Personifizierung vorstellen, dann kann man zu einem Bild wie dem unten stehenden gelangen. Wir sehen hier Hermes, den Götterboten in der griechischen Mythologie. Bei den antiken Römern war dieselbe Gestalt als Merkur bekannt. Die Gestalt ist unterwegs, hat die Stadt hinter sich gelassen. Sie hat eine Botschaft zu überbringen, die sie gesiegelt (versiegelt?) in der Hand hält. Der Götterbote ist mit Flügeln an den Füßen und an der Kopfbedeckung aufgerüstet, sie ist im Wortsinne "leichtfüßig". Man kann sich vorstellen, dass dieser Bote der Götter schnell unterwegs ist, aber er wirkt nicht angestrengt, alles ich spielerisch und er scheint auch eher zu schweben als zu laufen.

Der Archetyp „Der Vermittler“ als Personifizierung

Wie gesagt: Wir müssen uns dies Person als recht jung und auch als unbeschwert und optimistisch vorstellen. Diese Gestalt macht sich keine Sorgen. Es kümmert sie auch nicht, welche Folgen die überbrachte Botschaft vielleicht auslösen wird, das ist alles nicht seine Sache.

Die Personifizierung als "Der Vermittler"

Wir hatten schon darauf hingewiesen, dass dieser Archetyp kaum Körperlichkeit ausstrahlt.


Karte "Der Vermittler" gezeichnet von Thea Weller
Aus: Peter Orban, Ingrid Zinnel, Thea Weller: Symbolon. Das Spiel der Erinnerungen. [Kartenset und Erläuterungsbuch]. Kailash-Verlag 20063

Das bedeutet auch: Während die beiden ersten Archetypen jeweils eine zutiefst männliche (1. Archetyp – Der Krieger) bzw. eine zutiefst weibliche (2. Archetyp – Die Sinnliche) Qualität aufwiesen, ist diese innere Gestalt geschlechtlich neutral.

Überhaupt ist diese Gestalt, da sie ja vorwiegend im Verstand lebt, nicht wirklich geerdet, nicht wirklich verbunden. Sie ist zwar dabei, aber eben neutral, was auch bedeutet: Nie wirklich zugehörig.

Zugehörigkeit oder auch nur ein ausgeprägter eigener Standpunkt oder auch nur ein guter Kontakt zur eigenen Körperlichkeit, all dies würde Bindung bedeuten. Und mit der Bindung kommt die Schwere. Und genau dies muss diese innere Gestalt um jeden Preis vermeiden.
Diese innere Person braucht die Leichtigkeit, um mit allem und jedem Kontakt aufnehmen zu können, um jeden auch nur denkbaren Standpunkt zumindest gedanklich nachvollziehen zu können. Eine wirkliche Bindung an etwas oder an jemanden passt nicht zur ihrer Funktion, ihrer Rollenbeschreibung.

Die Regung der Seele, die hier ihre Verkörperung findet, möchte in Kontakt mit jedem, ja wirklich jedem, anderen Menschen treten können. Eigentlich möchte sie auch allen gefallen, aber das gesteht sie sich nicht ein. Aber ein wenig leidet sie schon darunter, dass letztlich alle immer nur an der Botschaft interessiert sind, nicht an dem Botschafter, hier liegt eine grundsätzliche Kränkung dieser inneren Gestalt.

Überhaupt wird diese innere Person von den Personen in der Außenwelt oft nicht so wirklich gewürdigt. Ja, es ist diese innere Gestalt, die Überhaupt die Kontakte knüpft mit anderen Menschen, die Menschen einander vorstellt. Allein: Das leichtfüßig-schwebende im Charakter wird oft als Oberflächlichkeit von den Menschen in der Außenwelt kritisiert. Die Neutralität wird oft als "Wurstigkeit" ausgelegt und das Verlangen nach Vielfalt und Abwechslung trägt dieser inneren Person den Ruf ein, keine Tiefe aufzuweisen. Eine schillernde Seifenblase, die kurz schwebt und dabei hübsch anzuschauen ist, aber sehr schnell platzt und dann einfach ein Nichts hinterlässt – so ist oft die Außenwahrnehmung.

"Mittendrin statt nur dabei" hieß es einmal in einer Werbebotschaft. Die Tragik dieses Archetypen ist: Er ist "irgendwie" überall mittendrin, aber nirgend wirklich dabei. Er ist unbeteiligt. Und er wird oft übersehen.

Die mit dem Archetyp verbundenen Wesenszüge und Energien

Wenden wir uns nun den Prinzipien und Energien zu, welche mit diesem Archetyp verbunden sind.

Wissen / Information

Wissen und Information sind das Medium, in welchem dieser Archetyp lebt, so wie der Fisch nur im Wasser leben kann. Wissen wird rasch und leicht aufgenommen und an passender Stelle wieder abgegeben. Botschaften werden von einer beteiligten Partei an eine andere beteiligte Partei übermittelt.
Dieser innere Anteil in mir kann sich für vieles interessieren, er ist wissensdurstig. Aber fragt man "wozu?", dann kommt dieser Archetyp in Erklärungsnot. "Ja, einfach um es zu wissen" könnte er sagen. Tatsächlich wird er eher sagen: "Ich finde es einfach interessant". Das Wissen ist keinem Zweck untergeordnet. Das Wissen ist Selbstzweck.

Neutralität

Die Aufgabe dieses Archetypen in mir ist es, verschiedene Informationen, Theorien und gedanklichen Konzepte aufzunehmen. Dieser Teil in mir kann dann auch verschiedene Theorien und Konzepte vergleichen, er kann darüber referieren, was die Wesenszüge der jeweiligen Theorien sind, worin sie sich ähneln und wo sie sich unterscheiden. Er kann sogar eine Theorie über diese anderen Theorien und Konzepte entwickeln. Nur eines kann er nicht: Er kann sich nicht für eine bestimmte Theorie entscheiden, einen Standpunkt einnehmen. Er ist kein Anhänger einer bestimmten Schule, die er fanatisch vertritt und verteidigt. (Dafür ist ein anderer Archetyp zuständig, nämlich der 8., auf den zu seiner Zeit einzugehen sein wird.)
Die Neutralität bedeutet eben auch: Keine (wirkliche) innere Beteiligung. Das kann durchaus als Identitätsproblem angesehen werden, welches diesem Archetyp eigen ist. Die identitätsstiftende Zugehörigkeit zu einer bestimmten Denkrichtung oder Theorieschule ist diesem Archetyp versagt. Positiv gewendet: Dieser Archetyp ist eines sicherlich nicht: Ein Dogmatiker.

Der Austausch

Dieser Archetyp kann sich über Wissen, Informationen und Standpunkte lebhaft austauschen. (Er spricht dann mit genau diesem Archetyp im Inneren seines Gegenübers.) Oder er kann Botschaften übermitteln zwischen zwei interessierten Parteien. Er kann bei Streit und Auseinandersetzungen zwischen zwei Parteien (nennen wir sie einmal A und B) vermitteln, in dem er B den Standpunkt von A erläutert und A den Standpunkt von B. Er kann als Makler den Austausch zweier Vertragsparteien befördern, er kann Käufer und Verkäufer zusammen führen und das Geschäft befördern, so dass es für beide Seiten einen Gewinn darstellt. Überhaupt vermittelt er Kontakte, bringt Menschen miteinander in Verbindung, trägt Botschaften von einem Mund zu einem anderen Ohr und andersherum.
Der Götterbote Hermes etwa war in der griechischen Mythologie dafür zuständig, den Menschen den Willen der Götter zu verkünden. Und bei den Göttern die Nöte und Sorgen der Menschen zu vertreten. Ebenso trug er Botschaften von einem Gott zu einem anderen Gott, wenn die Götter untereinander zerstritten waren und nicht mehr miteinander reden wollten, war in der Vorstellungswelt der antiken Griechen recht häufig der Fall war. Aber er war eben auch der Schutzpatron des Handels und der Kaufleute, jeder Handel ist ja auch ein Austausch. Allerdings war er nicht nur der Schutzpatron der Kaufleute, sondern auch der Diebe. Ja, auch der Diebstahl ist ein Austausch, etwas geht von der einen Hand in eine andere Hand über. Und wir merken wieder: Der Götterbote ist hier neutral, er wertet nicht.

Der Jahreszeitliche Bezug dieses Archetyps

Auch bei diesem Archetyp finden wir eine Entsprechung zu einem bestimmten Punkt im Zyklus der Jahreszeiten. Diesem Archetyp entspricht die Zeit von ca. 20. Mai bis ca. 20. Juni, also dem späten Frühling mit dem Übergang in den Sommer. Es ist die luftig-leichte Energie des frühen Sommers bzw. späten Frühlings, die diesem Archetyp besonders entspricht. Die Tage sind lang und hell und bieten viele Möglichkeiten für Aktivitäten und Gespräche, war der kontaktfreudigen Natur dieses Archetyps entgegen kommt.

Astrologische Entsprechung:

In der Astrologie entspricht dieser Archetypus dem 3. Haus, dem Tierkreiszeichen Zwilling und dem Planeten Merkur.

Fehlentwicklungen und reife Entwicklungsformen des Archetyps

Die Energie dieses Archetyps ist auf den Themen Kommunikation, Kontakte, flüssige Rede über Sachverhalte, lebendiger Austausch und schwunghafter Handel akzentuiert. Hier hat er seine Aufgabe, seine Rolle, seine Funktion.

Fehlentwicklungen der Energien dieses Archetyps

Bei einer Hemmung dieser archetypischen Energien wird alles angezweifelt. Ich vertraue dann nicht meinem eigenem Wissen oder zumindest nicht meiner Fähigkeiten, dieses Wissen effektiv in Worte zu kleiden. Aber ich vertraue diesbezüglich auch anderen nicht, dass sie echte Erkenntnisse oder wertvolle Informationen haben könnten. Im Extrem kann dies auch bedeuten, dass ich Angst habe, einen Gedanken zu Ende zu führen, was zu einer Konzentrationsschwäche und einer Zerfahrenheit im Denken und im Ausdruck führt.

Andere Formen der Fehlentwicklung dieser Energien kann sich etwa als gesteigerte Kritiksucht äußern oder auch als Geschwätzigkeit oder Rechthaberei. Ebenso wäre hier das Prahlen mit einem Wissen zu nennen, über das ich eigentlich nicht oder nicht in genügendem Maße verfüge. Auch eine bestimmte Form der Lüge wäre hier zu nennen, die sich eben aus der Unsicherheit über mein Wissen speist und die deshalb lieber irgendetwas erfindet, als sagen zu müssen "das weiß ich nicht".

Die reife Entwicklung der Energien dieses Archetyps

Die reife Form, man könnte vielleicht sogar sagen die "erlöste" Form der Energien dieses Archetyps lässt sich durch zwei Worte kennzeichnen: Wahrheit und Klarheit. Wahrheit – oder Wahrhaftigkeit – und Klarheit sowohl in meinem Denken wie auch in meinem Ausdruck.
Was die Entwicklung der Wahrhaftigkeit im Denken und Sprechen angeht, scheint mir der erste und wichtigste Schritt, gleichzeitig aber auch der schwierigste Schritt zu sein, der Versuchung zu widerstehen, sich selber etwas vorzumachen. Meine Vermutung ist, dass Unaufrichtigkeit mir selbst und anderen gegenüber auf die Dauer zu einer Verminderung der Lebenskräfte führt. Wenn an dem Gedanken etwas Wahres ist, könnte man die empfundene Lebensenergie als Indikator nehmen. Wenn ich mich also ab und zu frage, ob bestimmte Gedanken oder Äußerungen mich schwächen oder mich kraftvoller machen, könnte dies ein Wegweiser zu mehr Wahrhaftigkeit sein.
Bezüglich der Entwicklung von Klarheit im Denken und Sprechen mag die Vorstellung hilfreich sein, dass ich mich mit meinen Informationen oder meinem Wissen an einen halbwegs aufgeweckten Achtjährigen wende. Mein Denken und mein Sprechen sollten (idealerweise) also so gestaltet sein, dass es von diesem Achtjährigen ohne Mühe verstanden werden kann.

Der zweite Archetyp: Die Sinnliche

Vorbemerkung: Dieser Text ist Teil einer 12-teiligen Serie über bestimmte Gestalten am Urgrund einer jeden menschlichen Seele, die wir in der Psychologie mit der Bezeichnung „Archetyp“ belegen. In jedem der 12 Teile wird jeweils einer der 12 wesentlichen Archetypen vorgestellt. Diese Gestalten gibt es bei jedem Menschen als innere Personen. Allerdings spielt nicht jede einzelne Gestalt in jedem Leben eine bedeutende Rolle. In Schauspiel meines Lebens gibt es natürlich Hauptrollen, aber eben auch Nebenrollen und Komparsen. Manche dieser kollektiven Urgestalten in mir kenne ich bis zu einem gewissen Grade. Andere sind mir völlig unbekannt und wenn sie dann doch einmal kurz in einer Szene auftauchen, bin ich überrascht.   

Manchmal erweist es sich in Familienaufstellungen als sinnvoll oder sogar notwendig, einen der Archetypen über Stellvertreter aufzustellen. Entweder, weil das Thema eng mit diesem Archetypus verbunden ist oder weil bei der Person, um die es geht, dieser Archetypus erkennbar dominant im Vordergrund steht. 
Die Beschreibungen des jeweiligen Archetyps sollen dich, liebe Leserin / lieber Leser, anregen, diese Gestalt in dir zu entdecken und vielleicht auch, mit ihr Kontakt aufzunehmen und in einen Austausch zu treten.

Einen Artikel darüber, was Archetypen allgemein sind und wie sie in unserer Seele wirken, findest du hier. Das dort gesagte gilt übergreifend für
alle Archetypen.

Widmung:

Diese Artikelserie ist meinem großen Lehrer Peter Orban gewidmet, der im Oktober des vergangenen Jahres verstorben ist. Lieber Peter, alles was ich über Archetypen meine verstanden zu haben, habe ich von dir. Wenn ich jetzt mein Verständnis der Archetypen beschreibe, möge dies ein Indiz dafür sein, dass deine Saat aufgegangen ist. Ein wenig lebst du weiter in denen, die von dir lernen durften.

Während der erste Archetyp, der Krieger, in seiner Natur etwas zutiefst männliches verkörpert ist der zweite Archetypus ebenso zutiefst weiblich in seinem Wesen. Wie immer bedeutet dies überhaupt nicht, mit diesem Archetyp kämest du nur in Berührung, wenn du eine Frau bist. (Ebenso wenig, wie der Archetyp des Kriegers einen nur etwas anginge, wenn man ein Mann sei.) Es kann allerdings sein, dass du, wenn du ein Mann bist, es schwieriger findest, diesen Archetyp in dir zu entdecken oder dich mit ihm anzufreunden.

Wie kann man sich dieser Wesenheit nähern, wie kann man sie in sich kennen lernen? Ein Zugangsweg geht über die Bilder. Lass vielleicht erst einmal das Titelbild dieses Beitrages und dann die unten stehende Bebilderung dieses Prinzips als Person, also das Bild "Die Geliebte" auf dich wirken. Das Unbewusste, die Seele, erfasst über die Bilder sofort und unmittelbar, worum es hier geht. Wenn wir es in Sprache ausdrücken wollen, ist der Prozess etwas langwieriger – und leider auch stärker mit der Gefahr von Missverständnissen verbunden. Wie gesagt: Schau erst einmal auf die Bilder.
Was sehen wir im Titelbild? Wir sehen die in der Mitte die süßen Früchte und ihren Genuss. Wir sehen im oberen Teil die Farbenpracht von Blüten und Landschaften, eben die blühenden Landschaften. Eine oft gewählte Verheißung. Im unteren Teil links sehen wir die Insignien des Reichtums: Gold, Geschmeide, eine Krone und einen güldenen Pokal. Diese Schätze werden durch einen Drachen bewacht. Wir sehen ebenso im unteren Teil links und rechts die Schätze der Erde, was aus den Wurzeln erwächst und geerntet, aber auch gehortet werden kann. Die Getreidesäcke, die Amphoren, vermutlich gefüllt mit Wein. Aber auch die mit Geld gefüllten Säcke, aus deren Mitte die Gebäude, die Technik, die Industrie einer städtischen Zivilisation entspringt. Kurz: Wie sehen die Verbindung von materiellem Reichtum und sinnlichem Genuss.
Was sehen wir auf der personifizierten Symbolon-Karte für dieses Prinzip? Wir sehen eine junge, eine attraktive Frau. Auch sie ist umgeben von den Insignien des sinnlichen Genusses, auch hier wieder die Früchte und der Wein, zu ihren Füßen das wohltemperierte Bad. Auch hier ist die Landschaft voller Blüten, Früchten und Farben, eine frühlingshafte Anmutung. Die junge Frau ist elegant gekleidet, geschmackvoll geschmückt und frisiert. Sie betrachtet sich in einem Spiegel, wohlgefällig. Eine Brust ist entblößt, eine starke erotische Konnotation durchzieht die Abbildung.

Soweit die Bilder. Auch bei diesem Archetyp werden wir uns als erstes damit befassen, wie wir uns die hier wirkenden Kräfte vorstellen können, wenn wir sie uns als Person vorstellen. Was ist dies für eine Person? Was treibt sie um? Aber auch die Personifizierung ist natürlich nur ein Bild, eine Vorstellung, etwas was wir vor unser geistiges Auge hinstellen, um es besser fassen zu können. Die Person verkörpert Prinzipien und Urkräfte. Dies ist die nächste Beschreibungsebene: Welche Aspekte des Lebens bringt dieser Archetyp zum Ausdruck und zur Geltung? Die Anregung für dich, liebe Leserin und lieber Leser, ist dabei: Womit gehe ich in Resonanz? Wie erlebe ich diese Prinzipien in meiner Innenwelt?

Auch dieser Archetyp hat eine jahreszeitliche Entsprechung, den Hochfrühling. Auch darüber wird zu sprechen sein. Ein weiterer – und für diesen Beitrag letzter – Zugang zu dieser inneren Person und den damit verbundenen Bestrebungen ist die Entwicklungsperspektive. Wie dient diese seelische Figur am Grunde meiner Seele dem Leben? Was bedeutet es, wenn ihre Bestrebungen gehemmt werden? Welche Kompensationsstrategien ergeben sich aus der Hemmung? Was bedeutet eine gesunde Entwicklung der Eigenschaften, die mit dieser seelischen Ur-Gestalt verbunden sind?

Der Archetyp „Die Sinnliche“ als Personifizierung

Die Bilder machen es sehr deutlich: Wir haben es hier mit einer Person zu tun, die durch und durch sinnlich, man könnte auch sagen genussfreudig ist. Es geht um die sinnlichen Eindrücke und den Genuss der Dinge in der materiellen Welt. Aber natürlich geht es nicht um beliebige Dinge, die Dinge müssen schön sein, sie müssen Wert haben. Die Dinge, mit denen ich mich umgebe, die ich besitzen muss, sollen über ihren Wert meinen Wert zum Ausdruck bringen. Die Dinge sagen: Ich bin wertvoll! Mein Selbst hat einen Wert, und zwar einen hohen. Etwas überspitzt: Ich bin ein Luxusgeschöpf! Ich bin attraktiv, ich bin es wert, begehrt zu werden. (Aber: Dessen muss ich mich immer wieder versichern, der Blick in den Spiegel ist notwendig.)
Hier wird etwas nicht ausgesprochen, aber angedeutet, dass wir ganz wertfrei betrachten müssen, sonst erfassen wir nicht, worum es hier geht. Wenn die Person sagt oder besser andeutet, ich bin wertvoll, ich bin ein Luxusgeschöpf, dann sagt sie auch: Mich muss man sich leisten können. Ja, ich stelle all die Freuden der Materie und all das Wertvolle zur Schau, um damit die dazu passenden Personen anzuziehen, in mein Leben zu ziehen. Ich habe all diese Dinge, ich habe einen erlesenen Geschmack – und wer mich haben will, sollte gut betucht sein. Sonst passt er nicht zu mir, nicht zu meinen Werten. (Noch einmal: Wir müssen das ohne Bewertung, vor allem ohne Abwertung betrachten.)
Mit der Attraktivität haben wir auch das Thema Erotik an Bord. Diese innere Gestalt sorgt nicht nur für – oder: sorgt sich nicht nur um – die Attraktivität im Allgemeinen, dass ich irgendwie gefalle, nein, es geht natürlich auch und nicht zu knapp um die sexuelle Attraktivität. Im Zeitalter der Dating-Apps und Dating-Plattformen gibt es ja auch die Redeweise vom sexuellen Marktwert(!), im Englischen "sexual market value", der sich in "matches", "likes" und Aufrufzahlen durchaus messen lässt. Diese innere Gestalt ist also nicht nur irgendwie sinnlich, sie ist auch zutiefst erotisch-sinnlich, der Bereich der Erotik wird von dieser Gestalt verwaltet, er gehört zu ihrem "Geschäftsgebiet". Aber auch hier: Dies wird angedeutet, durchaus deutlich angedeutet, aber natürlich nicht ausgesprochen. Wie ja überhaupt die Erotik die Andeutung ist, und nicht das Explizite. (Das Explizite wäre hier z. B. die Pornografie, und das ist ein ganz anderer Bereich als die Erotik.)

Die Personifizierung als "Die Sinnliche"

Die Personifizierung auf der Symbolon-Karte trägt den Titel "Die Geliebte". Ich habe ihr als Rollenbezeichnung im Theaterstück des Lebens die Bezeichnung "Die Sinnliche" gegeben. Aber das sind nur feine Unterschiede in der Akzentsetzung. Eine noch treffendere, allerdings veraltete und daher nicht sofort verständliche Bezeichnung wäre vielleicht "Die Kurtisane" oder noch älter "Die Hetäre".


Karte "Die Geliebte" gezeichnet von Thea Weller
Aus: Peter Orban, Ingrid Zinnel, Thea Weller: Symbolon. Das Spiel der Erinnerungen. [Kartenset und Erläuterungsbuch]. Kailash-Verlag 20063

Es geht hier also um die materiellen Güter und die Sinnlichkeit, den sinnlichen Genuss. Aber was leistet dieser Archetyp für das Leben? Er sichert.

Vergleichen wir dieses Grundmuster mit dem erstem Archetyp, dem Eroberer des Neulandes, dem Pionier, so können wir hier die notwendige Ergänzung sehen. Das gewonnene Neuland muss gesichert werden, es muss Besitz werden. Dazu muss ich Grenzen setzen, Zäune ziehen.
Erst wenn ich im neu gewonnenen Land mich verwurzeln kann, kann ich sagen: "Dies ist jetzt meins" oder auch "Dies ist jetzt meine Heimat". Der Archetyp sorgt also für die Konsolidierung des Neuen, er sichert den Bestand. Der erste Archetyp kann das nicht. Der muss nach jeder gewonnen Schlacht immer neu aufbrechen, den nächsten Horizont erkunden. Er kann nicht sesshaft werden. Dieser Archetyp kann das.

Erst durch diesen Archetyp können die Früchte des Erreichten gewonnen werden. Wir sind hier im Element Erde, hier werden wir bodenständig, hier wird das Erreichte und Gewonnene konserviert. Hier finden dann auch die Grenzsetzungen statt, die Unterscheidung zwischen Dein und Mein. Durch die offene Landschaft darf jeder latschen, mit der Markierung als "mein Besitz" kann ich bestimmen, wer in meinem Bereich Einlass erhält und wer nicht.

Natürlich erhält nur Zugang, wer zu mir passt, zu meinen Werten und meinem Lebensstil. Wenn der Krieger sagt "ich erobere" sagt diese Gestalt hier "ich besitze". My home is my castle heißt es im englischen. Erst mit der Abgrenzung und der Besitzsicherung ist der Genuss in Ruhe möglich.

Das Materielle dient also (auch) der Sicherung. Die Bevorratung mit materiellen Dingen verleiht mir die Stabilität gegen die Wechselfälle des Lebens. Und ja, auch das Hamstern und das Horten fällt in diese Domäne. Diese innere Gestalt hält gerne fest am einmal Erworbenen, sie trennt sich nicht so leicht von den Dingen. Auch hier erleben wir die Ergänzung zum ersten Archetyp. Der Eroberer und Abenteurer muss mit leichtem Gepäck reisen, er darf sich nicht zu sehr an die Dinge binden. Die Sinnliche als Archetyp hängt dagegen durchaus gerne ihr Herz an die Dinge, dass macht sie beständig aber natürlich auch weniger beweglich. Hier wird die Arbeit am Sesshaft-Werden geleistet, hier entstehen die Zivilisation, die Kultur und das Dauerhafte. Wie erwähnt entsteht auch hier der Besitz, etwas was hinterlassen und vererbt werden kann, was es in einer nomadischen Lebensweise nicht gibt und auch nur hinderlich wäre. Und noch etwas ist damit verbunden: Die Bequemlichkeit und auch die etablierten Gewohnheiten und Routinen.

Kommen wir noch einmal auf die Person – oder besser: die Personifikation des hier gemeinten Prinzips – zurück. Die Symbolon-Karte ist ja betitelt mit "Die Geliebte". Wir könnten aber auch sagen, dass es hier um "Das Geliebte" geht. Es geht um den Besitz und den Wohlstand, an dem ich hänge. Was ich als "meins" bezeichne, damit identifiziere ich mich auch. In gewisser Weise ist diese Person auch ihr Besitz. Es gab einmal eine Werbung für Geldanlagen, wo ein Mann einen anderen Mann beeindrucken will, in dem er Fotos auf dem Tisch aufblättert: "MEIN Auto, MEIN Boot, MEIN Haus, MEIN Pferd, MEIN ….(was auch immer)". Ja, das ist Besitzerstolz. Und es ist gleichzeitig auch kalkuliertes Eindrucks-Management. Der andere soll sehen: Dies alles habe ich. Dies alles habe ich erreicht. Dies sind die Früchte meiner Arbeit. (Oder eben meiner schlauen Anlagestrategie, wie die Werbung verheißt.) Auch die Redeweise im Volksmund "haste was, biste was" verweist auf diesen Zusammenhang. Ich bin, was ich habe. Deswegen ist das Haben wichtig. Nur wenn ich habe, und zwar viel habe, gelte ich etwas. Womit wir wieder beim Wert sind, beim Selbstwert, der hier zur Geltung kommt oder zumindest kommen soll.

Ja, natürlich ist dies auch ein Käfig, in dem man festsitzen kann, aber es ist eben ein goldener Käfig, ein schön anzuschauender Käfig, ein Käfig, in dem man es sich behaglich einrichten kann. So behaglich, dass man fast vergessen kann, in einem Käfig zu sitzen. In spirituellen Kreisen hat diese innere Person keinen guten Leumund – und doch kommt niemand ohne sie aus.

Die mit dem Archetyp verbundenen Wesenszüge und Energien

Wenden wir uns zusammenfassend noch einmal ein wenig ab von der Vorstellung einer Person und wenden wir uns stattdessen den Prinzipien und Energien zu, welche diese Person verkörpert.

Der Besitz

Es geht hier um den Besitz und um das Materielle, im günstigen Fall in Form von Wohlstand oder gar Reichtum. Aber: Hier ist nicht der abstrakte Reichtum gemeint in Form von Zahlen auf einem Konto. Nein, hier muss der Reichtum sich in konkreten Dingen ausdrücken, mit denen ich mich umgebe und die vor allem für andere sichtbar sind. Und die Art der Dinge ist hier wesentlich. Wenn ich mir Gemälde an die Wände meiner Wohnung hänge, ist es entscheidend, ob es sich um Heiligenbilder aus der Renaissance, französische Impressionisten oder abstrakte Kunst handelt.
Es reicht nicht, dass es wertvoll im Sinne von teuer ist. Es muss auch zu meinen Werten, meinem (Lebens)Stil, passen es muss mich ausdrücken. (Oder zumindest meine Vorlieben oder auch meine Bildung.)

Das Eigene / Der Selbstwert

Die Dinge, mit denen ich mich umgebe, meine Kleidung, meine Wohnungseinrichtung, mein Fahrzeug usw. müssen etwas über mich aussagen. Sie müssen ausstrahlen, was meine Individualität und Unverwechselbarkeit ausmacht. Die Dinge müssen davon sprechen, worauf ich Wert lege und was mir Wert (Selbstwert!) verleiht. Ich muss mich in meinen Dingen spiegeln können.

Die Attraktivität

Wenn die Dinge ausstrahlen, worin mein Wert besteht, machen sie mich attraktiv. Sie ziehen diejenigen Menschen in mein Leben, die mit meinen Werten kompatibel sind und halten die inkompatiblen Menschen auf Distanz. Die sexuelle Attraktivität ist ein Teil dieses Spiels – und dies gilt beileibe nicht nur für die Frauen.

Das Grenzen setzen

Der Besitz, die In-Besitz-Nahme der Materie bedeutet auch das scharfe setzten von Grenzen. Hier wird unterschieden, was ist meins und was ist deins. Hier wird auch die Grenze gesetzt, wer darf in diesem Raum "Bestimmer" sein.

Das Bewahren

In diesem Archetyp finden wir das Prinzip der Beständigkeit. Besitz hat nur Wert, wenn er von Dauer ist. Wir finden hier ein zutiefst konservatives Motiv. Dieses Prinzip (und damit die Teilperson in mir) arbeitet gegen den Verfall, so gut es nur geht. Von der Arbeit gegen den Verfall der körperlichen Attraktivität leben ganze Industrien, nicht nur die Kosmetikindustrie.

Das Weibliche

Das Weibliche in der Form der Sinnlichkeit ist ein aufnehmendes Prinzip, ist Yin, nicht Yang. Die Dinge in der materiellen Welt wirken über die Sinne auf mich ein, in diesem Prinzip nehme ich mit allen Sinnen auf. Ich setze mich den sinnlichen Einwirkungen mit der größtmöglichen Fläche aus. Hier gilt: Mehr ist mehr! Hier geht es um die Fülle. Am Rande sei vermerkt: Das aufnehmende Prinzip im Übermaß macht aus der Fülle die Völlerei. Die Betonung liegt jedenfalls auf dem Nehmen, nicht dem Geben, sie liegt auch mehr auf dem Eindruck als auf dem Ausdruck.

Der Jahreszeitliche Bezug dieses Archetyps

Auch bei diesem Archetyp finden wir eine Entsprechung zu einem bestimmten Punkt im Zyklus der Jahreszeiten. Es geht hier um den Hochfrühling, um die Zeit von etwa dem 20. April bis etwa dem 20. Mai. Der vorangegange Zeitraum markierte den Beginn des neuen Lebens, den ersten noch vereinzelten Durchbruch des frischen Grüns. Hier treten wir jetzt ein in die Fülle des neuen Lebens. Es blüht überall, nach und nach kleidet sich jeder Ast und jeder Strauch in ein neues Blättergewand. Die Fülle der Farben, Formen und Gerüche bietet dem Sehen, Riechen, Fühlen und Schmecken ein reiches Angebot. Und nicht zuletzt verheißt die Fülle der Blüten die Reichhaltigkeit der späteren Ernte.

Astrologische Entsprechung:

In der Astrologie entspricht dieser Archetypus dem 2. Haus, dem Tierkreiszeichen Stier und dem Planeten Venus.

Der Entwicklungspfad dieses Archetyps

Es ist leicht, sich über diesen Archetyp und seine konkrete Ausprägungsformen zu erheben, sie zu verachten. Man könnte zum Beispiel den Vorwurf der Eitelkeit gegen diese innere Person in Anschlag bringen, wo immer sie sich zeigt. Und doch haben wir gesehen, wir brauchen diese innere Person. Ohne sie gibt es keinen Beständigkeit und ohne sie gilt für jede Eroberung: Wie gewonnen, so zerronnen.

Wir benötigen die Fähigkeit zur Abgrenzung, zur Unterscheidung zwischen Ich und Du, zwischen meins und deins. Und diese Grenzziehung wird von dieser inneren Person verwaltet. Wir brauchen als inkarnierte (verkörperte) Seelenwesen diese innere Person, um im eigenen Körper mit allen seinen Vorzügen und Mängeln wirklich uns heimisch einzuwohnen. Und wir benötigen auch in einem gewissen Maße den Besitz, die Sicherheit (die durchaus körperliche Sicherheit), um in der Welt der Materie heimisch werden zu können, uns eine Heimstatt schaffen zu können. Und wir müssen den angeeigneten Besitz auch bewahren können. Es bedarf im Leben auch der Entwicklung einer Genussfähigkeit, der Entwicklung von Lebensfreude, ohne die alles schal wird.
Und nicht zuletzt dient diese innere Person dem Leben, dem Fortbestand des Lebens, der ohne Sexualität nicht denkbar ist. Zwar gehört die Sexualität selber nicht zum Zuständigkeitsbereich dieses Archetypen, dafür sind andere Urgestalten zuständig, die wir noch kennen lernen werden. Aber diese innere Person verwaltet den Bereich der Erotik, der Attraktivität und der Anziehung als notwendige Hinführung zur Sexualität.

Die Hemmung der Impulse dieses Archetyps

Die Hemmung der Energien dieses Archetyps führen zu Abgrenzungsschwierigkeiten und damit zu einem schwachen Ich-Gefühl, zu einer mangelhaften Ausformung der eigenen Identität und des Selbstwertes. Auch können wir dann kein gutes Verhältnis zum materiellen Besitz und zur Sicherung der Lebensgrundlagen entwickeln, es droht Armut und Besitzlosigkeit. Wir können dann nicht mit unseren gegebenen Talenten wuchern, wozu uns ein Gleichnis im neuen Testament durchaus auffordert. Und eine wenig entwickelte Genussfähigkeit geht nicht nur zu Lasten der Lebensfreude, wer nicht genießen kann, wird auch für andere oft ungenießbar.

Die Kompensation der defizitären Hemmung

Nicht selten werden die Einschränkungen durch die gehemmten Impulse dieses Archetyps in ungesunder Weise kompensiert. Hier finden wir eine übersteigerte Form des Luxus oder die Verschwendung. Auch bestimmte Formen des Reichtums wären hier zu nennen, die man als exzessiven oder obszönen Reichtum bezeichnen könnte. Gemeint ist die Form des Reichtums, bei der es nicht um die damit möglichen sinnlichen Genüsse geht, sondern um den Reichtum um des Reichtums willen. Wenn es nur darum geht, reicher zu sein als jemand anderes, höher platziert zu sein in der entsprechenden Forbes-Liste als alle anderen, dann haben wir es mit der ungesunden Kompensation zu tun. Auch die Völlerei erwähnten wir bereits, diese Fehlentwicklung der Genussfähigkeit tötet den wirklichen Genuss mehr, also unsere Sinne und damit die Sinnesfreuden zu verfeinern und zu intensivieren.

Die gesunde Entwicklung der archetypischen Energien

Die gesunde und entwicklungsfördernde Entfaltung dieses Archetyps zeigt sich in einer natürlichen Ich-Stärke und in einem klaren Selbstbewusstsein. Sich seiner selbst bewusst zu sein bedeutet, ich weiß was meine unverwechselbare Individualität ausmacht. Ich weiß dann, was zu mir passt und was nicht zu mir passt. Mit diesem gefestigten Ich muss ich mich weder selber überhöhen noch anderen Menschen abwerten noch fremden Maßstäben hinterherhecheln.

Wenn ich wirklich weiß, wer ich bin und welche Werte wirklich meine eigenen sind, dann bin ich auch nicht mehr steuerbar durch fremde Vorstellungsbilder, durch Ideale wie ich sein müsste, um attraktiv zu und etwas zu gelten.

Aber wer kann das schon von sich sagen …

Bild: "Wider von Mabel Amver (Pixabay Inhaltslizenz)

Der erste Archetyp: Der Krieger / Das Neugeborene

Vorbemerkung: Dieser Text ist Teil einer 12-teiligen Serie über bestimmte Gestalten am Urgrund einer jeden menschlichen Seele, die wir in der Psychologie mit der Bezeichnung „Archetyp“ belegen. In jedem der 12 Teile wird jeweils einer der 12 wesentlichen Archetypen vorgestellt. Diese Gestalten gibt es bei jedem Menschen als innere Personen. Allerdings spielt nicht jede einzelne Gestalt in jedem Leben eine bedeutende Rolle. In Schauspiel meines Lebens gibt es natürlich Hauptrollen, aber eben auch Nebenrollen und Komparsen. Manche dieser kollektiven Urgestalten in mir kenne ich bis zu einem gewissen Grade. Andere sind mir völlig unbekannt und wenn sie dann doch einmal kurz in einer Szene auftauchen, bin ich überrascht.   

Manchmal erweist es sich in Familienaufstellungen als sinnvoll oder sogar notwendig, einen der Archetypen über Stellvertreter aufzustellen. Entweder, weil das Thema eng mit diesem Archetypus verbunden ist oder weil bei der Person, um die es geht, dieser Archetypus erkannbar dominant im Vordergrund steht. 
Die Beschreibungen des jeweiligen Archetyps sollen dich, liebe Leserin / lieber Leser, anregen, diese Gestalt in dir zu entdecken und vielleicht auch, mit ihr Kontakt aufzunehmen und in einen Austausch zu treten.

Einen Artikel darüber, was Archetypen allgemein sind und wie sie in unserer Seele wirken, findest du hier. Das dort gesagte gilt übergreifend für
alle Archetypen.

Widmung:

Diese Artikelserie ist meinem großen Lehrer Peter Orban gewidmet, der im Oktober des vergangenen Jahres verstorben ist. Lieber Peter, alles was ich über Archetypen meine verstanden zu haben, habe ich von dir. Wenn ich jetzt mein Verständnis der Archetypen beschreibe, möge dies ein Indiz dafür sein, dass deine Saat aufgegangen ist. Ein wenig lebst du weiter in denen, die von dir lernen durften.

Den Archetypen kann man sich unterschiedlich nähern in der Beschreibung. Ich mache es hier in dieser Artikelserie über mehrere Wege. Einerseits haben wir die Bilder, welche den Archetyp in eine gestaltete und erkennbare Form bringen. Die Bilder werden in der Tiefe von der Seele sofort verstanden. Mehr auf den Verstand zielen die Texte. Hier werde ich einerseits beschreiben, wie wir uns die Verkörperung des Archetyps als Person vorstellen könnten. Was für eine Art Mensch wäre dies, was ist das Anliegen dieser Person, was treibt sie an? Zum anderen werde ich textliche auf einige Wesenszüge und Qualitäten des Archetyps eingehen, besonders dort, wo sie leicht missverstanden werden könnten. Und Abschließend wird der Archetyp in den Zyklus der Jahreszeiten eingeordnet verbunden mit einigen Hinweisen auf Heilungswege, welche mit diesem Archetyp verbunden sind.

Der Archetyp „Der Krieger / Das Neugeborene“ als Personifizierung

Die Artikelserie zu den 12 wesentlichen Archetypen startet – wie sollte es anders sein – als Erstes mit einem „Ur-Typus“, der genau diese Qualität des Beginns, des Neuen, der Initiative und des Anfangs beinhaltet. In der Betitelung habe ich diese Deutungsebene – wir stellen uns den Typus als Person vor, damit wir eine lebendige Vorstellung bekommen – doppelt benannt, nämlich als Krieger und als das Neugeborene. Hier könnte eine doppelte Irritation beim Lesen auftreten. Einerseits mag man sich fragen, wie die Gestalten des Kriegers und des Neugeborenen zusammen passen. Und zum zweiten mag eben die Gestalt des Kriegers für viele eine sein, die durchaus sehr ambivalente Gefühle auslöst. Dies gilt es also zu erklären.

Die Personifizierung als Krieger

Der Krieger steht für den Mut, zu kämpfen. Sei es, dass um die Wahrung der Grenzen und den Schutz der Meinigen gekämpft wird, sei es, dass es um die Gewinnung und Aneignung von Neuland gekämpft wird.

Karte "Der Krieger" gezeichnet von Thea Weller
Aus: Peter Orban, Ingrid Zinnel, Thea Weller: Symbolon. Das Spiel der Erinnerungen. [Kartenset und Erläuterungsbuch]. Kailash-Verlag 20063

Die Grundeigenschaften sind Entschiedenheit und Entschlossenheit, der rückhaltlose Einsatz aller Kräfte. Wenn dieser Archetyp in uns auftaucht, ist alles Zögern, alles Bedenken aber auch alle Furcht hinter uns gelassen. Das Wesen des Kriegers ist die Tat, damit auch die Tatkräftigkeit. Hier bin ich ganz. Und ich bin ganz in der Tat aufgehend. Es gibt nichts anderes als die Tat. Hier bin ich ganz in meiner Kraft, in meiner vollen Größe und im Vollbesitz meiner Fähigkeiten. Hier wird alles gewagt, alles eingesetzt, worüber ich verfügen kann. Das Ergebnis ist unsicher. Hier geht es um buchstäblich Alles. Es geht um Leben oder Tod, um Bestehen oder Untergehen. Man könnte auch sagen: Es geht um das reine Sein. Hier muss ich mich beweisen, wer ich wirklich bin. Der Krieger atmet die Tat, er ist ein Täter durch und durch. (Auch hier achte man auf die emotionale Assoziation, die mit dem Wort „Täter“ verbunden ist.)

Nun liegt ja im Wortfeld des Kriegers auch der Krieg. Hier könnte eine Irritation liegen, warum man sich vielleicht mit diesem Archetypus nicht so recht anfreunden mag. Wir verbinden – in Deutschland ganz besonders – mit Krieg natürlich auch Leid und Zerstörung. Der Krieger wäre demnach der Bringer von Leid und Zerstörung.

Hier ist aber etwas ganz wichtig zu verstehen, sonst erfassen wir das Wesen dieser inneren Gestalt nicht. Der Krieger ist nicht der Soldat. Der Soldat ist ein Mensch, der freiwillig oder gezwungen in einer Armee als Organisation das „Kriegshandwerk“ ausübt. Diese Armeen dienen bestimmten, meist politischen, Zwecksetzungen. Der Soldat dient diesen Zwecken und Interessengruppen, manchmal halbherzig, manchmal fanatisch und verblendet, manchmal auch verroht.

Der Krieger dient keinen fremden Zwecken. Der Krieger kämpft nur für das Seine. Der Krieger kämpft auch nicht, weil er den Kampf liebt. Er kämpft nur, wenn er muss, dann aber vollständig. Er ist nicht geleitet durch Hass auf das, wogegen er kämpft, ihn leitet die Notwendigkeit. Eine Not muss gewendet werden. Die Bücher von Carlos Castaneda erzählen von den Unterweisungen durch den Schamanen Don Juan, mit dem Ziel den (inneren) Krieger in Carlos Castaneda zu entwickeln – nicht um Kriege zu führen, sondern um „den Weg des Herzens“ gehen zu können. Die Kämpfe, die hier geführt werden, sind im Wesentlichen die Kämpfe mit den inneren Widersachern. Es geht um den Kampf mit allem, was mich davon abhält, das Leben vollständig anzunehmen, mit allen Geheimnissen und Gefahren. An einer Stelle lässt Castaneda seinen Schamanen-Lehrer sagen: Der Krieger sei sich der ihm unergründlichen Geheimnisse bewusst und sich auch seiner Pflicht bewusst, wenigstens zu versuchen, diese zu enträtseln. So könne er seinen rechtmäßigen Platz unter diesen Geheimnissen einnehmen und sich selbst als ein solches betrachten. Eine ähnliche Konnotation des Kriegers finden wir auch in vielen Schulen der Kampfkunst und so wäre die Personifikation des Kriegers zu verstehen, wenn wir uns dem Wirken dieses Archetyps in uns nähern wollen.

Die Personifizierung als das Neugeborene

Warum habe ich aber als zweite Personifizierung hier noch das neugeborene Baby genannt? Wie passt dies in das Bild. Das Neugeborene verkörpert im wortwörtlichen Sinne den Wesenszug der Unmittelbarkeit. Das Neugeborene erlebt sich als Körper und mit allem, was ihm widerfährt, vollständig. Wenn das Baby Hunger verspürt, dann ist es in dem Moment dieser Hunger – und nichts anderes. Das Baby erlebt sich auch noch nicht getrennt von der (Um)Welt, die es umgibt, es ist noch eins mit der Welt, mit seiner Welt. Es gibt noch kein „Du“, weil noch gar kein „Ich“ entwickelt ist. Das Baby ist reine körperliche Existenz. Alles ist, wie es ist – und das Baby reagiert unmittelbar darauf. Es gibt hier noch keine Gedanken, keine Bewertungen, keine Pläne. Es gibt nur das Sein, in Einheit mit allem, was mich umgibt. Hier ist noch kein Ego.

Diese Unmittelbarkeit und dieses Eins-Sein als reines Sein und eben auch vor allem das Sein als rein körperliche Existenz, als Verkörperung, das ist etwas, was das Neugeborene noch nicht verloren hat, es ist das Ursprüngliche. Das Baby wird im Laufe seiner Entwicklung diese Einheit verlieren müssen, es geht nicht anders. Die Aufgabe des Kriegers ist es dann, ab einem bestimmten Punkt der Entwicklung, wieder zu dieser Einheit zurückzufinden. Das ist der Kampf, den der Krieger führt. Diesen Weg gibt es nicht, er muss im Beschreiten des Weges erst geschaffen werden. Über den Weg wissen wir nur eines: Er führt nach Hause.

Die mit dem Archetyp verbundenen Wesenszüge und Energien

Um uns dieser Wesenheit in uns noch weiter zu nähern, seien noch wichtige Qualitäten dieses Archetyps beschrieben.

Die Furchtlosigkeit / Das Wagnis

Man könnte versucht sein, eine Qualität des Kriegers als Mut zu beschreiben. Mit schein allerdings, Mut trifft es nicht ganz. Mut benötige ich, wenn es gilt, eine Angst oder eine Furcht zu überwinden. Der Krieger erwacht aber genau betrachtet erst, wenn der Mut seine Arbeit geleistet hat. Hier habe ich die Furcht hinter mir gelassen, hier gibt es nur noch die Tat, die körperliche Betätigung, das Anspannen aller Kräfte. In der Tat gibt es keinen Platz für einen Gedanken, also auch keinen Gedanken an die negativen Folgen der Tat. Ebenso wenig gibt es einen Gedanken an das, was es im Kampf oder in der Tat zu gewinnen gibt. Das mag vor der Tat eine Rolle spielen und auch nach der Tat wieder auftauchen. (Aber da wirkt dann nicht mehr die innere Gestalt des Kriegers, da hat dann ein anderer Archetyp das Ruder übernommen.)

Die Absichtslosigkeit / Die Gleichgültigkeit

Ganz ähnlich wie beim Wagnis ist es so: Wenn der innere Krieger am Werke ist, gibt es keine Absicht. Das erscheint vielleicht erst einmal kaum glaubhaft. Möchte der Krieger den nicht den Kampf gewinnen? Ist das keine Absicht? Natürlich ist das eine Absicht. Aber: Die Absicht wirkt nur, solange es gilt, den Krieger auf den Plan zu rufen. Hat der Kampf einmal begonnen, gibt es nur noch den Kampf und das Bestehen in ihm. Die Absicht verschwindet hier, sie würde nur vom gegenwärtigen Moment und der gerade nötigen Bewegung ablenken. Es ist wie bei der Zen-Übung des Bogenschießens: Wer im Moment, wo der Pfeil von der Spannung des Bogens entlassen wird, an das Ziel denkt, wird das Ziel verfehlen. (Zumindest das Ziel der Zen-Übung – selbst wenn der Pfeil treffen sollte.) Und in diesem Sinn ist der Krieger auch Gleichgültig. Mit Gleichgültigkeit ist hier nicht „Wurschtigkeit“ gemeint. Sondern: Im Kampf denke ich nicht an den Ausgang, nicht an den möglichen Gewinn und den möglichen Verlust. Auch dies würde nur Ablenken von dem, was zu tun ist. Es ist Gleichgültigkeit im wortwörtlichen Sinne: Jeder Ausgang des Kampfes ist gleichermaßen gültig.

Die Rücksichtslosigkeit

Auch hier mag die erste Assoziation negativ belegt sein. Es ist aber im reinen Wortsinne gemeint. Der Krieger schaut nicht zurück. Er schaut nur nach vorne, was vor ihm liegt. Was mich überhaupt hier hin gebracht hat, dass ich jetzt kämpfe oder dass sich jetzt hier ein Gegner zeigt, ist bedeutungslos. Es gibt nur das große JETZT. Es gibt hier kein Bedauern von vergangenen Niederlagen oder Verfehlungen und auch keine Erinnerung an vergangenen Schmerzen. Wenn es sie gibt, bin ich nicht im Modus des Kriegers.

Allerdings, so viel muss gesagt werden: Natürlich verweist unsere negative Assoziation mit dem Begriff „Rücksichtslosigkeit“ auch auf die Schattenseite des Wirkens des Archetyp Kriegers in uns. Der Krieger hat tatsächlich keinen Blick für die Opfer, die seinen Weg säumen. Es gibt hier kein Bedauern und keine Reue und keine Entschuldigung. Ja, wir werten das negativ, aber das ist die Position des Zuschauers von der Seite oder die Position der Analyse im Nachhinein, die Situation des Re-Flektierens. Dem Krieger ist dies fremd, in seiner Welt gibt es das alles nicht. Es gibt nur ihn, den Gegner und den Kampf. Und im Kampf geht alles auf.

Die Selbstlosigkeit

Wenn im Kampf alles aufgeht, verschwindet auch das Selbst. Nebenbei gesagt: Auch der Gegner verschwindet. Es gibt ihn nicht mehr als Gegner, es gibt ihn nur als zu meisternde Situation. Und so verschmelze ich auch mit dem Gegner, wenn ich in der Herausforderung aufgehe. Der Gegner ist nicht mehr „das Anderer“, er ist Teil von mir, er ist Teil meiner Herausforderung. Aber – und hier wird es paradox – auch dieses Ich gibt es in dem Moment nicht mehr. Es gibt nur noch die Tat, die Betätigung. Auch dies ist Teil der so widergewonnen Einheit mit den Umständen, das Selbst ist nicht mehr spürbar, nicht mehr erkennbar. Ja, auch dies kann eine Schattenseite des Archetyps Krieger sein.

Das ewig Neue

Für den Krieger ist alles, was er tut, neu und frisch und noch nie dagewesen. Ja, natürlich hat er sich vorbereitet, hat geübt oder trainiert und hat Erfahrungen in vergangenen Kämpfen gesammelt. In der jetzigen Situation aber muss er das alles vergessen. Keine Herausforderung, kein Kampf ist genau gleich. Es ist jedes Mal (auch) anders und so immer neu und so wird es auch erlebt: Immer wieder neu und einzigartig. Der Krieger kann sich hier auf nichts verlassen, auf keine eigefleischten Routinen, auf nichts Gelerntes und auf erworbenen Meriten. Nur im Feld des Unbekannten kann das Neuland gewonnen werden. Auf dieses Unbekannte muss der Krieger sich einlassen und er muss alles scheinbar Bekannte als Unbekanntes ansehen. Jede Routine ist hier trügerisch und mit der Gefahr des Verderbens verbunden.

Wir könnten auch sagen: Allem wohnt die Energie des Anfangs inne, die Qualität des Beginnens oder eben auch Neu-Beginnens. Im Augenblick des Beginnens ist noch alles möglich. „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ lautet eine Gedichtzeile von Hermann Hesse. Der Krieger ist der Zauberer des Beginnens. Er ist der Gegenpol nicht nur zum Zögern und Zaudern, sondern auch der Gegenpol der langweiligen Routine.

Das Männliche

Der Archetyp des Kriegers ist zutiefst männlich. Hier sind die Auseinandersetzung und das Kräftemessen positiv besetzt. Hier finden wir die Entschlusskraft, die Tatkraft, die Initiative, ja die Kraft überhaupt. Hier soll und muss etwas bewegt und überwunden werden. Hier wird auch etwas erobert und gewonnen, wie eben auch der Mann seine Frau erst einmal für sich gewinnen muss, eben tatkräftig, wie sprechen hier auch vom Erobern. Hier finden wir die Qualität des Eindringens, die Überwindung von Hindernissen. Ebenso zeigen sich hier die Qualitäten von Kraft und Härte.

Wir finden diese Prinzipien in der Sexualität recht schön anschaulich vor. Der männliche (eregierte) Penis dringt in die Frau ein. Dazu werden Hindernisse, möglicherweise auch Hemmungen, überwunden. Ja, in einer spezifischen Ausprägungsform bedeutet dies Vergewaltigung. Auch dies liegt im Möglichkeitsraum der männlichen Sexualität.     
Oder auch wenn wir an die Prinzipien Kraft und Härte denken: Das Hartwerden ist es, was den Penis vom Phallus unterscheidet. Der Volksmund spricht im Deutschen hier auch von der Manneskraft.        
Und auch die männliche Seite der Fruchtbarkeit ist eben mit dem hart werden des Penis und dem Eindringen in die Frau verbunden.

Wenn dieser Archetypus deutlich männliche Züge trägt, bedeutet dies natürlich nicht, nur Männer hätten diesen Archetyp in sich, als Teilpersönlichkeit sozusagen. Auch bei jeder Frau gibt es im Lebensfilm diese Position auf der Besetzungsliste der inneren Personen. Es kann allerdings sein, dass man sich als Frau etwas schwerer tut, sich mit dieser inneren Gestalt anzufreunden.

Der Jahreszeitliche Bezug dieses Archetyps – Heilwege

Dem Archetyp „Krieger / Neugeborenes“ entspricht im Jahreszyklus der Frühlingsbeginn. Hier beginnt der Kreislauf des Lebens neu. Hier bricht sich die Vegetation neu durch in die Sichtbarkeit, die Pflanzen sprießen aus dem Boden, die neuen Blätter der Bäume brechen aus dem bisher kahlen Geäst hervor. Aus Sicht der Zyklik im Jahresverlauf beginnt hier das Jahr und nicht am 1. Januar. In einem Kinderlied heißt es: „Im Märzen der Bauer / die Rößlein anspannt.“ Im landwirtschaftlichen Bereich beginnt also hier das wieder tätig werden, das Tatprinzip. Mit dem (astronomischen) Frühlingsanfang, dem Punkt der Tag- und Nachtgleiche, beginnt die Zeit, in welcher das aktive Prinzip (Tag) gegenüber dem passiven oder ruhenden Prinzip (Nacht) das Übergewicht besitzt. Die Natur steht hier im Zeichen der Erneuerung.

Astrologische Entsprechung:

In der Astrologie entspricht dieser Archetypus dem 1. Haus, dem Tierkreiszeichen Widder und dem Planeten (und Kriegsgott) Mars.

Entsprechung in den „12 Toren der Heilung“

In dem Buch „Die zwölf Tore der Heilung“ von Regina Sonnenschmidt und Harald Knauss1 werden die 12 Archetypen und ihre Jahreszeiten mit 12 Heilungswegen in Beziehung gesetzt. Ich gebe hier einige von den Autoren genannte Aspekte wieder, die zu dieser Jahreszeit, diesem Archetyp und eben diesem „Tor der Heilung“ gehören.

Bei diesem Archetyp und der zugehörigen Jahreszeit von ca. 20. März bis ca. 20 April geht es um Tatkraft, Lebenswillen und Selbständigkeit. Im gesundheitlichen Bereich ist als Organ hier die Galle besonders angesprochen. Beeinträchtigt wird die Tatkraft durch ständige Erschöpfung und Nervosität. Als Mittel ist hier das Schüßlersalz Kalium Phosphoricum (Nr. 5) besonders wirksam.

Für den mit diesem Archetypus verbundenen Heilungsweg ist regelmäßiger Aufenthalt an der frischen Luft günstig.

Als Affirmationen passen zu dieser Zeitqualität schlagen die Autoren von "Die zwölf Tore der Heilung die folgenden Sätze:

  • Ich nehme mein Leben in seiner ganzen Fülle an
  • Ich sage Ja zum Leben
  • Ich bin begeistert vom Leben, von mir und meinen Fähigkeiten
  • Mein Streben richtet sich auf eine positive Zukunft
  • Ich finde den Rhythmus meines Lebens

Die Autoren empfehlen dazu auch zwei passende Energieübungen vor. Empfohlen wird, diese Übungen im Freien auszuführen.

1. Das staunende „A“

  • Stehen Sie fest auf der Erde. Atmen Sie gleichmäßig ein und aus.
  • Spüren Sie die Kraft, die aus der Erde aufsteigt. Ist dieses Gefühl stark genug, machen Sie mit dem linken Fuß einen Schritt nach vorne.
  • Heben Sie dabei die Arme an und führen Sie die Handflächen auf Brusthöhe nach vorne, als wollten Sie etwas wegschieben.
  • Der linke Arm ist dabei etwas höher als der rechte. Während dieser Armbewegung lassen Sie ein „FA“ mit einem langgezogenen „A“ ertönen.
  • Beim Einatmen senken Sie die Arme wieder, atmen dann aus und wieder ein und beginnen erneut mit der Lautgebung von „FA“.
  • Dabei heben sich die Arme und schieben mit den Handflächen (links höher als rechts) die Energie nach vorne.
  • Wiederholen Sie die Übung sieben Mal. Sie werden eine gute Erdung spüren.

2. Die Ka-Rune

  • Stehen Sie bequem, die Arme locker hängen lassen.
  • Bringen Sie mit einem Schwung die Hände nach oben, wobei beide Arme die Form des Y nachvollziehen. Der Blick geht dabei nach oben, dem Himmel entgegen. Am besten gelingt die Übung, wenn Sie sie direkt als Begrüßung der Sonne durchführen.
  • Gleichzeitig mit den Armen bewegen Sie den rechten Fuß nach vorne und seitwärts hoch.
  • Dann dieselbe Bewegung nochmals mit dem linken Fuß.
  • Jedes Mal, wenn Sie die Arme hoch werfen, können Sie den freudigen, lebensfrohen Laut „Ka“ ausstoßen, oder noch besser ein „Juchhu“ oder „Jippie“.
  1. Sonnenschmidt, R. & Knauss, H. (2005): Die zwölf Tore der Heilung. Das Spiel der Kräfte im Jahresverlauf. Berlin: Verlag Homöopathie und Symbol. ↩︎

Familienaufstellungen und die „Nachsorge“

Bei Familienaufstellungen geht es oft um sehr existentielle Themen, um Dinge, die im wahrsten Sinne mit Leben und Tod zu tun haben. Zumindest geht es fast immer auch um die Grundbedingung des Lebens, wer mich sozusagen ins Leben gerufen hat und bei wem ich diese Lebensreise begonnen habe, wo ich also meine frühesten Eindrücke und Prägungen erfahren habe.

Mitunter sind Menschen in einer Aufstellung emotional sehr bewegt. Dies kann auch dann passieren, wenn ich „nur“ als Stellvertreter an einer Aufstellung teilnehme, wenn es also gar nicht meine eigenen Themen geht. (Wobei man anmerken könnte: Da die Themen von Aufstellungen in den meisten Fälle allgemein menschliche Themen sind, gibt es oft eine gewisse Resonanz, auch wenn meine Umstände etwas anders gelagert sind.) Aber besonders bei den Personen, für die eine Aufstellung gemacht wird, kann es emotional sehr intensiv sein.

Es kommt daher mitunter eine Frage auf, die mir als Leiter von Familienaufstellungen schon gelegentlich gestellt wurde: Was passiert, wenn die Erlebnisse in einer Aufstellung emotional zu überwältigend sind? Wenn in einer Person etwas innerlich angerührt wird, was sie nicht verarbeiten kann? Wie kann so etwas aufgefangen werden und gibt es die Möglichkeit, sich hier im Nachgang einer Aufstellung noch weiter unterstützen zu lassen.

In eine ähnliche Richtung geht auch eine Kritik an der Methode der Familienaufstellung, die mitunter geäußert wird. Die Methode sei sogar gefährlich sei, weil insbesondere bei labilen Personen Zustände ausgelöst werden können, die dann nicht aufgefangen werden können bzw. mit denen die Klienten dann alleine gelassen werden. Es könne vorkommen – so die Kritik – dass es Menschen nach einer Familienaufstellung schlechter gehe als vorher.

Ich selber handhabe es so, dass ich (fast möchte ich sagen: natürlich) zur Verfügung stehe, falls jemand im Nachgang zu einer Familienaufstellung einen Beratungs- oder Unterstützungsbedarf hat.         
Auf der anderen Seite habe ich es selten erlebt, dass ein solcher Bedarf entsteht durch eine Familienaufstellung. Nicht, dass es gar nicht vorkäme, aber doch relativ selten. Die Tatsache, dass jemand emotional sehr bewegt ist in einer Aufstellung, heißt auch nicht zwingend, dass hier das Verarbeitungsvermögen der Person überfordert wäre.

Andererseits will ich weder die Befürchtung, die vielleicht mitunter gehegt wird noch die erwähnte generelle Kritik an der Methode hier auf die leichte Schulter nehmen. Ja, es kann vorkommen, dass der Verlauf einer Familienaufstellung eine Person in ihrer emotionalen Regulation überfordert. Und es kommt sicherlich auch vor, dass die Leitung einer Aufstellung nicht genügend umsichtig und nicht mit dem nötigen Einfühlungsvermögen erfolgt.

Warum verläuft es in den meisten Fällen gut?

Ich will hier einige Gedanken und Eindrücke anbringen, die vielleicht ein wenig erklären mögen, warum die mitunter befürchtete Überforderung durch das, was sich in einer Aufstellung zeigt, meist nicht eintritt.

Einerseits wäre hier zu erwähnen, dass eine starke emotionale Bewegung in einer Aufstellung, wenn es etwa zu heftigem Weinen oder Schluchzen kommt, nicht bedeuten muss, dass eine Person, welche solche starken emotionalen Bewegungen erfährt, in diesem verloren geht. Nach meinem Eindruck ist es in den allermeisten Fällen eher so, dass die Vermeidung eines emotional-berührt-Seins eher ein Problem aufrecht erhält. Dagegen ist das Durchgehen durch eine heftige Emotion tendenziell eher die Lösung. Nach dem Durchleben stellt sich oft eine gewisse Klarheit ein, mitunter auch ein innerer Friede. Aber natürlich nur unter der Voraussetzung, dass die Person, welche diese Gefühlslandschaften durchschreitet, sich dabei unterstützt und angenommen fühlt in der Begleitung. Was die heftigen Emotionen angeht, könnte man vielleicht sagen (so als Grundregel): Der Weg hindurch ist der Weg hinaus.

Aber noch etwas anderes spielt hier eine Rolle, was etwas schwerer greifbar ist. Wir sprechen ja im Rahmen der Familienaufstellungen oft von einem „wissenden Feld“. Dieses Informationsfeld, welches zwar spürbar, aber schwer zu beschreiben ist, entsteht durch die Aufstellung von Personen und Stellvertretern im Raum. Manchmal braucht es ein paar Minuten, bis sich das Feld entwickelt. Wenn sich das Feld aber einmal entwickelt hat, treibt dieses „wissende Feld“ die Entwicklung der Aufstellung voran. Nicht selten entwickelt sich eine Aufstellung dann in eine Richtung, die man vorher nicht vermuten oder sich vorstellen könnte.

Mir scheint es nun so zu sein, wenn man sich den Hinweisen aus diesem „wissenden Feld“ überlässt und seinen Hinweisen folgt, dann wird man geführt. Man wird geführt von einer größeren Intelligenz, die viel besser darum weiß, was gerade im Moment wichtig ist aber eben auch, wie viel einer Person zumutbar ist. Man könnte auch sagen: Hier wirkt eine Weisheit, die wir nicht wirklich erklären können. Wenn wir es schaffen, uns dem Feld und den Hinweisen, die aus dem Feld kommen, ganz zu überlassen, dann sorgt das Feld auch für eine Sicherheit. Dazu muss man allerdings seine Vorstellungen und Annahmen und manchmal auch seine Vorurteile für die Aufstellung hinten anstellen und stattdessen wach und aufmerksam auf die Hinweise auf dem Feld achten.

Dies gilt natürlich zuallererst für die Leitung der Aufstellung. Hier bedarf es der Bereitschaft, sich auch in der Leitung dem Prozess anzuvertrauen – ohne zu wissen, worauf es hinauslaufen wird.         
Wenn dies gelingt, werden alle Beteiligten geführt von einer Weisheit, die um die Grenzen des gerade Möglichen weiß und diese Grenzen nicht überschreitet.

Mir scheint, gefährlich kann es dann werden, wenn jemand – insbesondere in der Rolle der Leitung einer Aufstellung – etwas Bestimmtes unbedingt erreichen möchte. Dann, so mein Eindruck, verweigert sich das „wissende Feld“.

Anmerkung für die Leser / Leserinnen des letzten Blogbeitrages

Ich hatte im letzten Blogbeitrag in sehr allgemeiner Form über Archetypen in einer Aufstellung geschrieben. Ich hatte dort angekündigt, dass ich in den 12 Monaten des Jahres 2025 jeweils einen Beitrag zu einem der 12 großen Archetypen schreiben würde. Gemäß dieser Ankündigung wäre dieser Januar-Beitrag dann dem ersten Archetyp gewidmet.

Eine Kollegin hat mich allerdings – sehr zu recht, wie mir dann auffiel – darauf hingewiesen, dass die 12 Archetypen einen Zyklus aufweisen, der mit der Jahreszyklik korrespondiert. Und diese Jahreszyklik, um die es hier geht, beginnt nicht mit dem 1. Januar eines Jahres, sondern mit dem Frühlingsbeginn im März.

Ich habe mich daher entschieden, die Serie von 12 Blogbeiträgen zu den 12 großen Archetypen in der menschlichen Seele erst im März beginnen zu lassen, also mit dem übernächsten Blog-Beitrag. Dadurch ergeben sich die Beschreibungen der 12 Archetypen passend zu der damit korrespondierenden Jahreszeit.

Gestalten am Urgrund der Seele

Wenn man sich mit der Seele beschäftigt, sei es zum Zwecke der Selbsterkenntnis, sei es zur Lösung drängender eigener Probleme im Lebensvollzug, sei es im Rahmen einer beratenden oder helfenden Tätigkeit, bei der man anderen Menschen bei der Lösung solcher Lebensprobleme unterstützt oder begleitet, dann bekommt man es mit einer besonderen Situation zu tun. Die Besonderheit liegt darin, wenn wir beschreiben wollen, womit wir es da zu tun haben, bleibt immer eine gewisse Unschärfe. Und: Es sagt sich nicht so leicht. Das liegt weniger daran, dass der Gegenstand komplex oder kompliziert wäre. Das ist manchmal der Fall, manchmal aber auch nicht. Die Schwierigkeit liegt eher darin, dass er – der Gegenstand der Betrachtung – sich der verbalen Beschreibung immer wieder entzieht. Er lässt sich nicht wirklich definieren und schon gar nicht vermessen. Aber er kann verstanden werden. Nur liegt das Verständnis meist zwischen den Zeilen.

Schon das Wort „Seele“ macht es deutlich. Wir alle haben ein gewisses, eher intuitives Verständnis, was „die Seele“ sei. Wir erleben ihre Regungen, die uns auf eigentümliche Weise führt. Und wir erahnen ihre verschiedenen Kräfte, die in uns wirken. Und dies alles haben wir, auch wenn wir nicht wirklich definitiv – also im Sinne einer allgemeingültigen Definition – sagen könnten, was die Seele genau ist. Schon gar nicht können wir sie mit Größenangaben wie Höhe, Breite oder Tiefe versehen oder ihr Gewicht als Zahlenwert messen. Aber wir können darüber sprechen oder schreiben. Dies sind dann tastende Versuche einer Sache habhaft zu werden, die sich aber immer nur in Teilen beschreiben lässt und sich in anderen Teilen dem Zugriff des Verstandes und des rationalen Diskurses entzieht. Jede Beschreibung muss unvollständig bleiben. Aber vielleicht – so die Hoffnung – kann sich durch die Unvollständigkeit der Beschreibung hindurch eine Anmutung des nicht Beschreibbaren einstellen. Etwas im Adressaten des Wortes gerät in Resonanz. Etwas in den Sedimenten der Lebenserfahrung sagt beim Empfang der Worte: „Ja, ich verstehe.“

Manchmal ist in Bezug auf die Seele von Landschaften die Rede, von seelischen Landschaften. Diese Landschaften kann man schauen, man kann sie durchwandern, man kann sie auf sich wirken lassen. Und dann erleben wir vielleicht auch: Es gibt hier verschiedene Arten von Landschaften, so etwas wie Typen von Landschaften. Manche Landschaften ähneln einander, auch wenn sie nie gleich sind. Sie sind aber deutlich verschieden von anderen Arten von Landschaften. Auf ähnliche Art gibt es im Theater verschiedene Arten von Stücken. Es gibt Dramen, Tragödien, Komödien, Volksstücke, Singspiele, Possen, Mysterienspiele und vielerlei mehr. Und obwohl kein konkretes Theaterstück auf dem Spielplan mit einem anderen identisch ist, erkennen wir das Genre.     
Aber zurück zu den seelischen Landschaften als Bild: Wir können sie schauen oder durchwandern, wir erkennen die Art der Landschaft und ihre Wirkung auf uns. Nur eines können wir nicht: Sie vollständig erfassen in ihrer Gesamtheit.

Die Gestalten in den seelischen Landschaften

Aber nicht so sehr von den seelischen Landschaften soll hier die Rede sein, sondern von den Gestalten und Gestaltungen, welche diese Landschaften bewohnen. Und auch diese Bewohner der seelischen Landschaften (die Gestalten) haben eine ähnliche Unschärfe wie die Landschaft selber. Auch hier finden wir bestimmte „Typen“ vor. Aber die Beschreibung, was genau diese Charaktere auszeichnet, ist immer nur hinweisend und unvollständig.

Es soll also um die Bewohner der seelischen Landschaften gehen. Diese Bewohner haben Intentionen und Impulse, sie haben Ziele und Bedürfnisse. Die Bewohner können, anders als die Landschaft, handeln. Und sie handeln in uns und durch uns, manchmal auch hinter unserem Rücken. Besser gesagt: Sie handeln hinter dem Rücken des bewussten Verstandes. Sie treiben in uns ihr Wesen und drücken ihr Wesen in uns und durch uns aus.

Es gibt auch noch ein anderes Bild. Statt von Landschaften und Bewohnern können wir auch von inneren Räumen sprechen und den Bewohnern dieser Räume, die in diesen Räumen anzutreffen sind. Die Metapher wäre hier ein Gebäude. Und was die seelischen Räume und ihre Bewohner angeht, wissen wir eins: Wenn wir mit Ihnen Kontakt aufnehmen wollen, müssen wir nach unten, in die Tiefe. Die seelischen Räume liegen in den verschiedenen Kellergeschossen, also unter der Oberfläche. Zu ihnen müssen wir hinabsteigen. Und da gibt es verschiedene Ebenen.

In den oberen Ebenen der Kellergewölbe treffen wir die Räume und die zugehörigen Gestalten an, die sozusagen persönlich sind. Hier treffen wir Gestalten, die sich aus unserer individuellen Biografie gebildet haben, aus den konkreten Umständen, unter denen wir herangewachsen sind und aus den jeweils besonderen Erfahrungen gebildet, die wir um Laufe unseres Lebens gemacht haben.

Noch einmal eine Etage tiefer treffen wir auf Räume und Gestalten, die wir mit allen Menschen teilen, quer über alle geschichtlichen Epochen und unterschiedlichen kulturellen Prägungen.

Die Archetypen

Um diese Bewohner der unteren Etagen im Keller soll es hier und in den folgenden 12 Monaten des kommenden Jahres 2025 gehen. In diesem Beitrag soll es um eine erste Beschreibung dieser sog. Archetypen gehen. Und im nächsten Jahr will ich mich in jedem Monat jeweils einem Archetyp, einem von 12 Archetypen in der Seele, beschreibend nähern. Aber zunächst zu der Frage: Was sind Archetypen?

Es gibt – so die Behauptung – unterhalb der persönlichen inneren Instanzen noch eine Reihe von Gestalten, die in uns wirksam sind, auch ohne an bestimmte biografische Erfahrungen gebunden zu sein. Diese Gestalten haben wir gemeinsam mit allen Menschen, die jemals gelebt haben. Sie gehören sozusagen zur Grundausstattung der Menschheit als Gattung. Sie leben in den Märchen, den Sagen, den Mythen und allgemein in den Geschichten die erzählt werden, sei es in Form von Romanen, Bühnenstücken oder Filmen. Hier werden sie lebendig, hier werden sie erkennbar. Wir merken es daran, dass uns eine Geschichte (oder eben ein Film) fesselt, fasziniert und in den Bann zieht. Wir identifizieren uns dann vielleicht mit zentralen handelnden Personen, auch dann, wenn wir mit dem Kontext, dem Rahmen in dem die Geschichte erzählt wird, keine eigene Erfahrung haben, keinen biografischen Anknüpfungspunkt.

Diese Gestalten leben im kollektiven Unbewussten und sind kulturunabhängig. Wir können diese Gestalten erkennen und mit ihnen in Resonanz gehen, auch wenn sie in Geschichten aus ganz alten Zeiten oder aus ganz anderen Kulturkreisen uns entgegentreten. Auf einer bestimmten Ebene, auch wenn diese Ebene recht bewusstseinsfern ist, kennen wir diese Gestalten und wir haben sie immer schon gekannt. Wir kennen sie aus allen unseren Leben und Inkarnationen. Diese Gestalten sind so alt wie die Menschheit, sie sterben nie, solange es Menschen gibt, aber sie wechseln natürlich gelegentlich ihr Gewand. Sie leben am Urgrund der Seele und sie repräsentieren Ur-Erfahrungen des Menschseins. Sie müssen nicht individuell als Erfahrung gewonnen werden, sie sind immer schon da, unabhängig von konkretren individuellen Erfahrungen. Und sie begleiten uns durch das Leben – durch jedes Leben. Psychoanalytisch gesprochen: Diese inneren Gestalten sind nicht das Resultat von Verdrängung, Resultat von konflikthaften Erfahrungen, die wir nicht im Bewusstsein halten können oder wollen und die wir daher in den Untergrund der „Illegalität“ abschieben, also verdrängen. Diese Ur-Gestalten wurden nie verdrängt, sie waren immer schon da – und zwar unten, am Urgrund, im Unbewussten. Anders gesagt: Sie waren nie im Bewusstsein.

Wenn wir aber in unserem besonderen Leben auf eine Situation treffen, welche der Grundnatur einer dieser Urgestalten entsprechen, dann regt sich dieser Archetyp in uns. Und oft werden wir dann von gewaltigen Kräften ergriffen. Es fühlt sich dann vielleicht so an, als ob wir mit unserem Willen dagegen ziemlich machtlos wären, irgendetwas, was wir nicht genau verstehen, kommt über uns, ergreift uns und beeinflusst unser Handeln. Wir erfahren dann starke innere Kräfte.        
Meine Vermutung ist, aber es ist wirklich nicht mehr als eine Vermutung, dass diese Kräfte deshalb so stark wirken, weil in den Momenten, wo mir mit einem Archetyp deutlich zu tun bekommen, wir hier etwas kollektiv menschliches ausagieren, nicht nur etwas individuelles. Im Archetyp steckt die gesamte Energie der Gattung Mensch.

Die Beobachtung, dass es im Unbewussten Bereiche gibt, die nicht rein individuelle Erfahrungen sind, sondern Erfahrungen der ganzen Menschheit, der ganzen Gattung, geht zumindest in der westlichen Moderne auf Carl Gustav Jung zurück. Er nannte diesen Bereich das kollektive Unbewusste. Und auf ihn geht auch die Bezeichnung „Archetypen“ zurück, welche er für die Ur-Gestalten wählte, die man in diesen kollektiven Bereichen des Unbewussten antreffen kann. Der Begriff kommt aus dem Altgriechischen. Hier meint „arche“ so etwas wie Ursprung. Und als Wortteil in einem zusammengesetzten Wort meint es dann so etwas wie „ur-“ oder „haupt-“. Und „typos“ leitet sich ab vom Verb „typein“, welches Schlagen bedeutet. In der Zusammensetzung bedeutet „typos“ dann so etwas wie eine Grundprägung oder eine Urform, so wie eben z.B. bei der Prägung einer Münze das Bild in das Metallstück hineingeschlagen wird. Man könnte „Archetyp“ also als Urform oder Grundgestalt oder auch Grundcharakter übersetzen.

Die Archetypen als etwas Überpersönliches

Ich hatte in diesem Blog kürzlich bereits in insgesamt vier Beiträgen in den Monaten Juli bis Oktober 2024 verschiedene Dinge angeführt[1], die man manchmal in einer Aufstellung über eine Stellvertreterperson sprechen lässt, obwohl es sich nicht wirklich um konkrete Personen handelt. Dies kann ein Land oder eine Region als Heimat sein, eine Krankheit oder ein Symptom, oder auch ein Haus oder einen Betrieb oder mitunter auch so etwas wie Gott, aber in manchen Aufstellungsformen auch Ziele oder Entscheidungsalternativen. Hier haben wir dann unpersönliche oder überpersönliche Positionen / Akteure in der Aufstellung.

Die Archetypen sind auch etwas Überpersönliches, weil es sich ja um Charaktere aus dem kollektiven Unbewussten handelt. Und manchmal erweist es sich als hilfreich oder gar notwendig, bei einem bestimmten Anliegen in einer Aufstellung auch einen Archetyp aufzustellen, der besonders mit dem Thema zu tun hat. Ich mache dies meist so, dass dieser Archetyp – also sein Steilvertreter – auf einen Stuhl gestellt wird. Damit wir zum Ausdruck gebracht, dass der Archetyp groß ist, viel größer als jeder Mensch. Man kann auf diese Weise in einer Aufstellung einem Archetyp begegnen, ihn kennen lernen, etwas darüber erfahren, wie er in meinem Leben wirkt, was er von mir will.

Die Archetypen als kollektive Gestalten gibt es in jedem von uns, und zwar alle. In diesen Kelleretagen hat jeder Archetyp einen Raum in jeder Seele. Allerdings in höchst unterschiedlichen Gewichtungen. Nicht jeder Archetyp ist in jedem Leben wichtig oder zentral. Meist sind das nur wenige oder auch nur einer, der wirklich bedeutsam ist. Die anderen gibt es auch in mir als Grundformen von seelischen Regungen, aber sie drücken sich vielleicht nur in Kleinigkeiten aus und werden kaum bemerkt. Auch kann es sich in unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedlich darstellen, ein Archetyp, der in einer bestimmten Lebensphase sehr dominant präsent war, verliert im älter werden an Bedeutung. Dagegen können sich in späteren Lebensabschnitten dann vielleicht andere Archetypen deutlich vernehmbar bemerkbar machen, die bislang kaum eine Rolle gespielt haben.

Als Analogie kann man sich dies vorstellen wie bei einem Theaterstück. Da gibt es Hauptrollen, welche durchgängig im Zentrum der Bühne und im Fokus der Scheinwerfer stehen. Und es gibt Nebenrollen, die vielleicht nur in einer Szene überhaupt auftreten und dort womöglich auch nur einen Satz haben. Und es gibt noch Statisten / Komparsen, die einfach nur anwesend sind im Hintergrund ohne eigenen Text. Und so ist es auch mit den Archetypen im Stück deines Lebens. Nur wenige sind Hauptdarsteller, die Mehrzahl wirkt unauffällig im Hintergrund. Aber je nach Akt des Dramas kann sich die Betonung ändern, es kann sein, dass eine Person / Rolle in den Vordergrund der Bühne und damit der Aufmerksamkeit gerät – aber eben nur in diesem einen von fünf Akten.

Wie gesagt: Im nächsten Jahr (2025) soll jeweils einer der monatlichen Beiträge in diesem Blog einem bestimmten Archetyp gewidmet sein. Wir werden uns jeweils einen konkreten Archetyp vor Augen führen. Ich werde diesen einen Archetyp jeweils in seinem Grundcharakter und seinem Wirken in unserer Seele ein wenig beschreiben. Eigentlich sollte ich hier besser sagen: Ich werde das versuchen, wohl wissend, dass meine Beschreibung vermutlich immer hinken wird und mit Sicherheit immer unvollständig bleibt. Allerdings hege ich die Hoffnung, dass die Beschreibungen für die Leserinnen und Leser ein Fingerzeig sein mögen. Wenn die Beschreibung in dir, liebe Leserin und lieber Leser, Assoziationen auslöst und Anlass bietet, dich mit dieser inneren Gestalt und ihrem Wirken in dir ein wenig zu beschäftigen, dann wäre das Ziel des jeweiligen Textes erreicht.

Widmung

Ich widme diesen Beitrag und auch die kommen zwölf Beiträge meinem großen Lehrer Peter Orban, der kürzlich verstorben ist. Alles Wesentliche, was ich über die Archetypen meine verstanden zu haben, habe ich von ihm.

Wenn ich versuche, mein gegenwärtiges Verständnis eines Archetyps in Worte zu kleiden, geschieht dies in dankbarer Erinnerung an das Wirken von Peter Orban, auch wenn meine Texte nicht an die Beschreibungen von Peter Organ heranreichen werden. Es soll eine Würdigung sein.


[1] Das Land als Heimat (Juli 2024)          
Krankheiten und Symptome (August 2024)         
Häuser, Wohnungen, Betriebe und Ähnliches (September 2024)   
Was sonst noch seelische Bedeutung haben kann (Oktober 2024)

Die Verstrickung über Erwartungen

Manchmal bleiben wir mit wichtigen Personen in unserem Leben, wie z.B. Eltern oder anderen wichtigen Personen, auf eine ungünstige Weise verbunden. Gemeint ist diejenige Art von Verbundenheit, die wir bei Familienaufstellungen auch als „Verstrickung“ bezeichnen. Dabei werden aus dem Feld des Familiensystems über eine unbewusste Identifizierung fremde Gefühle übernommen oder auch fremde Schicksale, Verhaltensweisen, Konflikte oder gar Erkrankungen. Gemeint ist hier also nicht die gesunde Bindung an andere Menschen oder das Herkunftssystem. Die gesunde Bindung ist lebensfördernd, sie dient dem Fluss der ursprünglichen Liebe und macht frei für Neues und für eigenständiges, mir gemäßes Handeln. Die ungünstige Bindung als Verstrickung macht dagegen unfrei, sie blockiert den natürlichen Lebensfluss und hält uns in ungünstigen Mustern im Verhalten fest.

Spezifisch geht es in diesem Beitrag um Erwartungen an wichtige Personen in unserem Leben, an denen wir festhalten, ohne es oft wirklich zu merken. Und noch genauer geht es um Erwartungen, bei denen wir aus Erfahrung wissen, dass sie von der fraglichen Person nicht erfüllt werden. Zusätzlich ist es meist auch so, dass die Erfüllung dieser Erwartungen in der Vergangenheit, also etwa in der Kindheit oder Jugend, sinnvoll und notwendig gewesen wäre, die Erfüllung der Erwartungen also schmerzlich vermisst wurde, aber in meinem Jetzt als erwachsene Person vielleicht gar nicht mehr angemessen wäre.

Die nicht perfekten Eltern und die seelischen Wunden der Kinder

Am deutlichsten wird dies in der Beziehung zu unseren Eltern. Das kleine Kind kommt sehr abhängig und bedürftig auf die Welt. Es ist auf Fürsorge und die liebevolle Zuwendung durch die Eltern angewiesen. Im Idealfall wird ein als Kind als Neugeborenes voller Freude willkommen geheißen und die wichtigen Bezugspersonen sind willens und in der Lage, diesen neuen Erdenbürger – den Nachwuchsmensch im Trainee-Programm, welches wir Kindheit und Jugend nennen – in all seinen Besonderheiten nicht nur zu sehen, sondern auch in der Entwicklung der ganz einzigartigen Anlagen zu fördern. Aber: Dies beschreibt eben ein Ideal. Und kein Ideal ist im Leben tatsächlich ohne Abstriche verwirklichbar. Eltern sind nicht perfekt[1], sie sind Menschen und somit fehlbar.

Das Kind erlebt also im Laufe des Heranreifens ein gewisses Ausmaß an Enttäuschungen von Erwartungen. Und ich meine hier jetzt nicht beliebige selbstsüchtige Ansprüche, sondern ich meine die Erwartungen, die wir alleine durch unsere Biologie mitbringen. Wir sind als Menschen – auch – Säugetiere, und zwar Säugetiere mit einer besonders langen Adoleszenz. Und hier gibt es von Anfang an ein Gefühl dafür, was man als komplexes Lebewesen benötigt, um sich gedeihlich zu entwickeln. Das Gefühl für stimmige Entwicklungsbedingungen ist von Anfang an vorhanden, auch wenn es erst sehr spät in der Entwicklung, wenn überhaupt, sprachlich ausgedrückt werden kann. Und das Gefühl äußert sich, wenn etwas fehlt, etwas vermisst wird.

Nun sind diese Enttäuschungen von Erwartungen wie gesagt gar nicht zu vermeiden. Es ist eine Frage des Ausmaßes. Ein gewisses Ausmaß an nicht erfüllten Erwartungen ist vermutlich sogar notwendig und im Effekt entwicklungsförderlich. Allerdings: Wenn es an wichtigen Voraussetzungen für eine gedeihliche Entwicklung in einem bedeutsamen Ausmaß und dauerhaft fehlt, dann entstehen so etwas wie „seelische Urwunden“. In einem therapeutischen Kontext kann man auch von Traumata sprechen, und zwar in Form von Entwicklungstraumata (im Gegensatz zum Schocktrauma).     
Ich bin den verschiedenen Formen von solchen seelischen Urwunden hier im Blog in einer 9-teiligen Artikelserie zwischen August 2023 und April 2024 ausführlich nachgegangen[2]. Hier geht es mir um etwas Anderes.

Die unterschwellige Bindung an das noch Offene und Unerledigte

Es gibt in unserer Psyche einen Mechanismus, der dafür sorgt, das noch offene Fragen oder auch unabgeschlossene Handlungen unterschwellig weiter verfolgt werden. Wenn ich eine Handlung begonnen, aber noch nicht abgeschlossen habe, wird ein Teil meiner geistigen Kapazität dafür verwendet, die Erinnerung daran, dass hier noch etwas zu tun ist, unterschwellig am Leben zu halten. Wenn wir ein Gespräch oder eine Veranstaltung mit einer für uns interessanten offenen Frage verlassen, dann arbeitet unser Geist im Unbewussten, manchmal sogar leicht merkbar im Randbewussten, an der Beantwortung dieser Frage, auch wenn wir uns mit dem normalen Tagesbewusstsein mit ganz anderen Dingen beschäftigen. Auch bei Lebensplänen oder sog. „Lebensskripten“ ist es oft so: Wenn ich den Weg zu einem größeren Lebensziel eine bestimmte Wegstrecke gegangen bin und dann diesen Weg durch bestimmte Umstände unterbrechen musste, dann bleibt in meinem Geist immer latent die Tatsache präsent, dass hier noch etwas unerledigt und nicht abgeschlossen ist. Und diese gedankliche Präsenz des Unabgeschlossenen hat einen großen Aufforderungscharakter.

Ähnlich ist es auch mit wichtigen Gefühlen und Emotionen, die auf etwas Fehlendes und Unabgeschlossenes verweisen und eben auch mit den Dingen, die bei uns in der Kindheit und Jugend gefehlt haben und die wir schmerzlich vermisst haben. Diese Dinge entfalten in unserem Innenleben und im seelischen Raum eine Bindung – die uns aber nicht immer gut tut. Ich möchte fast sagen, das was uns früher im Leben intensiv gefehlt hat, was also eine Art seelische Wunde damals war, entwickelt einen „klebrigen“ Charakter. Und das tut uns oft nicht gut, schränkt uns ein oder blockiert uns. Ein Teil unseres Potentials, was wir jetzt vollbringen könnten im Leben, ist gebunden an das, was früher gefehlt hat und steht nicht zur vollen Nutzung zur Verfügung.

Die unausgesprochenen Erwartungen

Natürlich sind hier die Eltern besonders wichtig für diejenigen Formen der Aufmerksamkeit, Anerkennung, Unterstützung usw., deren wir damals in unserem jüngeren Selbst so dringend bedurft hätten, die wir aber von unseren Eltern damals eben nicht erhalten haben. Warum auch immer das so war, ob die Eltern es gar nicht bemerkt haben, ob sie es gar nicht konnten – das ist einerlei.

Mein Eindruck, auch über viele Beispiel in Familienaufstellungen, ist: Warum wir uns so schwer lösen können von dem, was uns damals gefehlt hat, was wir jetzt aber als Erwachsen nicht mehr von Anderen benötigen, sondern selber erledigen können, hat damit zu tun, dass wir das damals Fehlende immer noch von unseren Eltern erwarten. Dies ist sicherlich oft höchst unbewusst, allenfalls manchmal vielleicht randbewusst, d.h. mit viel Selbstaufmerksamkeit und hinspüren bei mir selber kann ich es als feine Regung bemerken. Es ist dieser Wunsch oder die Erwartung, es möge im Kontakt mit meinen Eltern einmal anders sein, einmal möchten wir es erleben, dass wir das damals Fehlende doch noch, sozusagen nachträglich, von unseren Eltern erhalten. Vielleicht eben eine bestimmte Form der Anerkennung oder das wir in unserem So-Sein, in unserer Besonderheit gesehen und bestätigt werden.

Wie gesagt: Wir sind uns meist dieser Erwartungen an unsere Eltern nicht bewusst. Es ist eine unausgesprochene Erwartung, unausgesprochen auch vor uns selber. Und gerade dieser latente oder unterschwellige Charakter dieser Erwartung hält uns besonders gefangen und verhindert, dass wir uns lösen können von diesem Anspruch. Wenn wir uns den unausgesprochenen Erwartungen bewusst wären, dann würden wir in den meisten Fällen auch sofort erkennen: Es ist nicht zu erwarten, dass ich von meinen Eltern das damals Fehlende doch noch einmal bekomme. Wir wüssten sehr schnell, dazu kennen wir sie lange genug, an genau dieser Stelle haben sie vielleicht einen sog. „blinden Fleck“ oder sind einfach für dieses Bedürfnis nicht wirklich „schwingungsfähig“, so wie sie nun einmal sind mit ihren Eigenheiten und mit dem, wodurch sie geprägt wurden in ihrem Leben. Und wir würden vielleicht auch Bemerken: Jetzt, als erwachsene Person, benötige ich dasjenige, was mir als jüngerem Selbst gefehlt hat, auch eigentlich gar nicht mehr wirklich. So wie ich mit einem bestimmten Spielzeug, dass ich als Kind vielleicht gerne gehabt hätte aber eben nicht hatte, heute nicht mehr so wirklich viel anfangen könnte.

Die lösende Bewegung

Ich habe im Rahmen von Familienaufstellungen festgestellt, dass die in Erwartungen an unsere Eltern gebundene Energie wieder freigesetzt werden kann. Dazu benötigt es eine bestimmte (innere) Bewegung. Wenn ich etwa im Rahmen einer Aufstellung meiner Mutter oder meinem Vater gegenüber stehe, dann schaue ich auf das Elternteil, ich schaue den Vater oder die Mutter an und schaue ihm oder ihr in die Augen. Kurz: Ich schaue hin! Ich schaue nicht (nur) auf mich und mein Defizit.

Und ein wesentlicher Teil der lösenden Bewegung ist dann, dass ich Kontakt aufnehme und deutlich spüre, was ich von meinen Eltern tatsächlich erhalten habe. Und das Wichtigste dabei ist: Von ihnen habe ich das Leben erhalten. Von Ihnen habe ich mein Leben empfangen. Und das ist so fundamental, dass es die Einschränkungen, den Mangel und die Defizite überwiegt. Und dafür kann ich dankbar sein, wie auch immer die sonstigen Umstände gewesen sein mögen.  
Dieser Teil der lösenden Bewegung gehört sozusagen zur Ur-DNA der Familienaufstellungen. Das Leben erhalten zu haben, ist ein großes Geschenk. Auch wenn manches schwer war, oder schlimm war. Wie zentral diese Grundtatsache des Lebens ist, kann man ermessen, wenn man sich die Frage stellt: Wäre es besser, wenn es mich nicht gäbe?

Zur lösenden Bewegung gehört aber meinem Eindruck nach dann aber auch, dasjenige, was damals bedeutsam gefehlt hat, klar zu benennen. Es geht hier um einfache Aussagesätze, nach Möglichkeit ohne Vorwurf, eher als Feststellung. Auch hier: Wir stehen Vater oder Mutter gegenüber, schauen sie an, fassen sie in ihrem gesamten So-Sein ins Auge und sagen: „Damals, als Kind, hat mir xxx von dir sehr gefehlt.“ Oder: „Damals hätte ich mir von dir xxx so sehr gewünscht.“ Und xxx steht natürlich für das, was gefehlt hat und was einmal möglichst klar, aber auch einfach und kurz benannt werden sollte. Und evtl. fügen wir noch an: „Und damals war das schwer für mich“ oder auch „damals war das schlimm für mich“. Wir beziehen uns also auf die Vergangenheit, so wie wir sie erlebt haben. Wie es uns damals als Tochter oder Sohn mit den Eltern ergangen ist.
Dieser Teil ist nach meinem Eindruck in den Familienaufstellungen erst später mit der Entwicklung der Familienaufstellungen üblicher geworden. Aber dieser Schritt in der inneren Bewegung ist genauso wichtig, er ist die Ergänzung zum ersten Schritt, der Dankbarkeit für das Leben. Beides muss sich ergänzen, in einem gewissen Gleichgewicht sein.

Und dann benötigt es noch einen dritten Schritt in der Bewegung, der mir erst kürzlich wirklich klar geworden ist. Wir schauen immer noch auf Vater oder Mutter und sagen: „Damals hätte ich xxx gebraucht. Aber jetzt, wo ich schon einige Zeit erwachsen bin, erwarte ich es nicht mehr von dir.“ Auch hier: Wir sagen das ohne Bitterkeit, sondern gesammelt und als einfache Tatsachenfeststellung. Ich bin jetzt anders, meine Lebenssituation ist jetzt anders. Und wenn wir diesen Satz sagen, spüren wir nach, wie es uns mit dem Satz ergeht. Stimmt er? Können wir uns wirklich vollständig lösen von der Erwartung? Wenn wir es (noch) nicht können, verändern wir den Satz. Vielleicht in die Form: „Aber jetzt, als Erwachsener, bemerke ich, es wäre gut für mich, wenn ich von meiner Erwartung an dich lösen könnte, in dem Ausmaß, wie es für mich gerade möglich ist.“     
Dieser letzte Schritt der Bewegung löst den Anspruch, den ich vielleicht noch habe gegen meine Eltern, vielleicht auch ohne es zu merken. Ich löse mich von dem Anspruch, gehe in meine wahre Größe und Kraft und bleibe handlungsfähig.

Mir scheint, dass diese Bewegung in allen drei Teilen der Bewegung dazu beiträgt, dass die seelischen Wunden von früher jetzt für mich nur noch Narben sind. Ich kann mich erinnern, mit Blick auf die Narbe: Da war mal etwas und damals war es schmerzhaft. Aber jetzt schmerzt es nicht mehr, die seelische Wunde ist ausgeheilt. Es bleibt lediglich: Die Erinnerung … und eben die Narbe.


[1] Nebenbei bemerkt: Gäbe es „perfekte“ Eltern, wäre es durchaus fraglich, ob dies wirklich wünschenswert wäre. Einerseits, weil ein gewisses Ausmaß an Schwierigkeiten, an nicht perfekten Lebensbedingungen überhaupt erst Entwicklung und Reife ermöglicht und uns als Persönlichkeit ein „seelische Gewicht“ verleiht. Im Sport sagt man: Die Charakterbildung erfolgt anhand der Niederlagen, nicht anhand der Siege und Triumphe. Aber auch unabhängig davon: Wären wirklich perfekte Eltern überhaupt auszuhalten für die Kinder? Was für eine Art von Druck würde dies allein über das Lernen am Vorbild in den Kindern erzeugen? Ich vermute, wenn es perfekte Eltern gäbe, wäre dies für die Kinder eine im Wortsinne unmenschliche Situation.

[2] Die Teile der Artikelserie finden sich hier: Teil1, Teil2, Teil3, Teil4, Teil5, Teil6, Teil7, Teil8 und Teil9.

Unpersönliche Gestalten in einer Aufstellung: Was sonst noch seelische Bedeutung hat oder haben kann

In den letzten drei Beiträgen hier im Blog ging es um Gestaltungen und Gestalten, die mitunter in einer Aufstellung als Positionen mit Stellvertretern besetzt werden, bei denen es sich aber nicht um konkrete Menschen handelt, die leben oder gelebt haben. Im Blogartikel im Juli 2024 ging es dabei um Heimatländer, im August um Krankheiten oder Symptome und im September um Häuser, Wohnungen oder auch Betriebsgebäude. In diesem Beitrag soll dieses Thema noch einmal aufgegriffen werden. Einerseits dadurch, dass noch einige weitere Gegebenheiten aufgeführt werden, die man manchmal mit aufstellen muss. Aber es soll auch beschrieben werden, soweit das möglich ist, wann solche Gestalten, welche nicht reale Personen/Menschen repräsentieren, überhaupt für eine Aufstellung in Frage kommen.

Weitere unpersönliche Gestalten in einer Aufstellung

Das Feld von möglichen unpersönlichen Gestalten, die manchmal in einer Aufstellung vorkommen können oder gar vorkommen müssen, ist recht mannigfaltig. Es soll daher nur aufzählend Einiges kurz benannt werden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne auf die Einzelheiten näher einzugehen. Es soll lediglich das mögliche Spektrum zu angedeutet werden.

Es kann z.B. sein, dass es bei einem Anliegen notwendig oder sinnvoll ist, ein kreatives Werk wie vielleicht ein Buch, ein Gemälde oder vielleicht auch ein Drehbuch für ein Filmprojekt aufzustellen. Bei manchen Themen kann es sich als hilfreich erweisen, so etwas wie verschieden innere Anteile, sozusagen das „innere Team“ von Teilpersönlichkeiten, aufzustellen. Bei beruflichen Themen kann es sein, dass verschiedene Arbeitsfelder aufgestellt werden.     
Wenn Menschen beruflich in „ideologischen Organisationen“ tätig sind, dann ist es oft notwendig, auch diese Organisation oder deren Zweck mit aufzustellen. Mit „ideologischen Organisationen“ meine ich Organisationen, deren Zweck in erster Linie in der Beförderung einer bestimmten Idee oder Weltsicht besteht, also in einem geistigen Inhalt. Hier wäre z.B. an politische Parteien, Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen, Tierschutzvereinigungen aber vor Allem an religiöse Organisationen wie Kirchen zu denken.   
Manchmal müssen auch bestimmte Instanzen von politischen Systemen aufgestellt werden wie etwa die Gestapo in der Zeit des Nationalsozialismus. Auch bei bestimmten ehrenamtlichen Tätigkeiten kann es sein, dass man diese Tätigkeit oder deren Zweck oder die Menschengruppe, denen diese ehrenamtliche Tätigkeit dient, aufstellen muss. Als letztes Beispiel sei hier angeführt, dass in machen Fällen vielleicht auch ein Haustier aufgestellt werden kann oder muss.

Spezielle Aufstellungsformate

Bislang ging es um nicht menschliche (unpersönliche) Stellvertreterpositionen in einer sozusagen „normalen“ Aufstellung. Ein Mensch schildert ein Anliegen, eine seelische Problematik, eine Verstrickung und mittels der Aufstellung sollen die seelischen Kräfte und Bewegungen dahinter sich zeigen können und einer Lösung zugeführt werden. Und da kann es eben sein, dass man Personen aus dem Familiensystem aufstellt und zusätzlich, weil es eben in dem Fall relevant ist, vielleicht noch das Herkunftsland eines Elternteiles oder den Familienbetrieb, den der Vater in der vierten Generation geführt hat und der dann Pleite gegangen ist – oder was auch immer es im Einzelfall ist. Hier werden also sowohl reale Personen wie auch etwas Unpersönliches oder Überpersönliches aufgestellt.

Es haben sich aber inzwischen auch einige Aufstellungsformen oder Austellungsformate entwickelt, bei denen man ausschließlich etwas unpersönliches oder abstraktes aufstellt, wo also keiner der Stellvertreter für eine konkrete Person steht. Bei Zielaufstellungen wird die Situation adressieren, dass bestimmte Ziele immer wieder verfehlt werden, obwohl alle Voraussetzungen für die Zielerreichung vorliegen und es sich sachlogisch nicht erklären lässt. Hier stellt man dann etwa das Ziel auf zusammen mit Blockaden, Ressourcen und auch die hinter dem Ziel liegende Aufgabe, welche sich mit dem Erreichen des Zieles stellt. Bei einer schwerwiegenden Entscheidung, bei der die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten nicht getroffen werden kann (Entscheidungsdilemma), kann der blockierte Entscheidungsprozess mit einer sog. Tetralemma-Aufstellung eine neue Sichtweise erfahren und somit wieder in den Fluss kommen. Im Rahmen von Organisationsaufstellungen werden meist Abteilungen oder Organisationseinheiten oder Funktionen aufgestellt und durch Stellvertreter vertreten, aber auch die Produkte oder die Kunden. Dies alles wären Aufstellungsformen, bei denen ausschließlich abstrakte Positionen aufgestellt werden und keine natürlichen Personen.

Woran entscheidet sich, ob etwas für eine Aufstellung geeignet ist?

Man könnte jetzt vielleicht auf den Gedanken verfallen, dass eigentlich ja fast alles irgendwie aufgestellt werden könnte. Das ist auch nicht ganz falsch. Aber in einer Aufstellung geht es ja um seelische Bewegungen und Dynamiken. Etwas Un- oder Überpersönliches würde man nur dann aufstellen, wenn es für die jeweilige Person und das vorliegende Anliegen/Thema dieser Person auch von seelischer Bedeutung ist, wenn es in diesem Kontext ein seelisches Gewicht hat. Man könnte vielleicht auch sagen: Wenn diese unpersönliche oder überpersönliche Gestalt wesentlich zu dem größeren Feld gehört, durch welches die Klientin oder der Klient geführt wird. Oder noch anders gesagt, wenn die unpersönliche Gestalt, die wir durch eine Stellvertreterperson ins Feld der Aufstellung einführen und die wir über die stellvertretende Wahrnehmung in Form von Gefühlen und Intentionen sprechen lassen, im Kontext eines schicksalhaften Geschehens steht.

Im Gegenzug kann man sagen, wenn eine eher abstrakte Position in einer Aufstellung durch Stellvertreter verkörpert wird und das seelische Gewicht dabei aber fehlt, die Aufstellung oft oberflächlich bleibt, keine Tiefe gewinnt und sich irgendwie „schal“ anfühlt. Meist ist dann die Motivation beim Aufstellen genau dieser Thematik oder dieser Gestalten ein eher intellektuell gelagertes Interesse. Man möchte mal wissen, was es da alles vielleicht noch für Zusammenhänge gibt, aber ohne wirkliche Bedeutung für die eigene Lebensführung, ohne eine wirkliche seelische Not, welche eine Aufstellung „not-wendig“ machen würde. Mein Eindruck von solchen Aufstellungen ist, dass sich hier das seelische Feld verweigert. Die Informationen über die Stellvertreter kommen dann eher aus dem Verstand, aus irgendwelchen Gedanken oder Vorstellungen, welche sich die Stellvertreter machen. Es haftet der Aufstellung etwas Oberflächliches und Beliebiges an.

Wie kann man nun entscheiden, ob und wenn ja welche unpersönlichen Positionen in eine Aufstellung eingeführt werden sollten? Nach meinem Eindruck gibt es da keine wirkliche Regel, es gibt hier auch kein Sachwissen, an das man sich halten könnte. Mir erscheint es so: Wenn ich als Aufstellungsleiter mir das Anliegen schildern lasse, lausche und spüre ich in das Gesagte hinein, möglichst ohne jegliche Vorannahme. Vor allem ohne die Vorannahme, dass ich, nur weil mir jemand ein Anliegen benennt und etwas über die Hintergründe dabei sagt, irgendetwas wirklich davon verstehen würde. Aus dieser Haltung des Nichtwissens, aus der Haltung der möglichst vollständigen Leere und Unvoreingenommenheit, soweit mir das möglich ist, ergibt sich dann Etwas. Irgendetwas erreicht mich, vielleicht bei einem bestimmten gesagten Wort oder einem bestimmten Satzteil und es ist wie wenn in mir ein Ton erklingt, eine kleine Glocke angeschlagen wird. Und dann weiß ich: Dies hier ist wichtig, dies sollten wir aufstellen. Aber ich weiß nicht, woher ich das weiß. Ich könnte das nicht begründen. Ich weiß nur: Es kommt nicht von mir. Es kommt aus dem, was wir in der Aufstellungsarbeit das „wissende Feld“ nennen. Und was das genau ist, bleibt allen Beschreibungsversuchen zu Trotz, ein Mysterium.

Eine noch ganz andere Art von überpersönlichen Gestalten

Abschließend möchte ich noch eine ganz andere Art von solchen überpersönlichen Gestalten anführen, die ich manchmal in Aufstellungen über Stellvertreter sich ausdrücken lasse: Die Archetypen. Davon soll in zukünftigen Beiträgen die Rede sein.         
Hier nur so viel: Archetypen sind ganz alte, archaische Urbilder für seelische Kräfte, Impulse und Intentionen. Sie gehören zum kollektiven Unbewussten der Menschheitsfamilie, zur kompletten Menschheitsgeschichte mit ihren unterschiedlichsten Kulturen. Die Archetypen leben in jedem Menschen, in jeder Seele, allerdings in unterschiedlichen Gewichtungen. Und sie sind groß! Größer als jeder einzelne von uns.

Unpersönliche Gestalten in einer Aufstellung: Häuser, Wohnungen, Betriebe und Ähnliches

In diesem Beitrag soll es noch einmal darum gehen, dass manchmal in einer Aufstellung Positionen aufgestellt werden, die nicht Personen, konkrete Menschen sind. Nach dem es im vorletzten Beitrag um Länder oder Gebiete als Heimat ging und im letzten Beitrag um Krankheiten und Symptome, soll es hier um einige Weitere Gegebenheiten gehen, die man manchmal mit aufstellen muss, weil sie in engem Bezug stehen zu dem seelischem Geschen, welches als Anliegen eines Menschen das Thema der Aufstellung ist.

Häuser oder Wohnungen

Manchmal spielen Häuser oder Wohnungen so in ein Anliegen hinein, dass man sie als eigene Position aufstellen sollte. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das Haus oder die Wohnung schon länger, über mehrere Generationen hinweg, im Besitz der Familie ist. Die Bedeutung ist mitunter auch noch einmal stärker, wenn für das Thema wichtige Vorfahren oder gar man selber in diesem Haus geboren wurde.

Es mag auf den ersten Blick etwas merkwürdig erscheinen, wenn man z.B. ein Haus nicht nur aufstellt und dann die Person, um die es geht, fragt, wie es ihr mit dem Haus geht, sondern auch das Haus danach fragt, wie es ihm mit der Protagonistin oder dem Protagonisten geht. Hier stellt sich vielleicht die Frage, hat ein Haus überhaupt eine Stimme, ein Wollen, hat ein Haus etwas Seelisches?  
Ob ein Haus eine Seele hat, weiß ich nicht wirklich zu sagen. Aber es gibt etwas – da bin ich mir inzwischen durch Beobachtung in Aufstellungen recht sicher – was man am besten so beschreiben kann: Manchmal ist sozusagen in dem Gemäuer ein Geist eingewoben, zum Beispiel eben der Geist einer Familie über mehrere Generationen, der Geist der Ahnen. Und was dann über das Haus in der Aufstellung spricht, ist vielleicht der Geist der Vorfahren, die sich hier melden.

Grundsätzlich ist es meist so in den Aufstellungen, wenn man ein Haus wie eine Person sprechen lässt, dass ein Haus gerne einen guten Raum oder guten Rahmen bietet, für die Menschen, die es bewohnen. Das Haus ist zufrieden, wenn es belebt ist, wenn es den Bewohnern gut geht und insbesondere auch, wenn in dem Haus neues Leben einen Ort zum Aufwachsen findet, Häuser freuen sich oft über Kinder.

Es gibt aber noch etwas Anderes was hier eine Rolle spielen kann. Wenn den Bewohnern eines Hauses schweres Unrecht angetan wurde mit Bezug zu diesem Haus oder zu Wohnungen in diesem Haus, dann haftet auch dies im Gemäuer und wirkt auf spätere Bewohner, wenn auch mitunter sehr unterschwellig. Im Nationalsozialismus wurden Juden deportiert und ermordet und natürlich waren manche dieser Juden auch Immobilienbesitzer. Die entsprechenden Häuser oder Wohnungen wurden dann „arisiert“, gingen dann an sogenannte „Volksdeutsche“, oft zu einem Preis weit unter Wert. Und dann schwebt in dem Haus eben der geistige Abdruck dieses Geschehens: Das Unrecht aber auch, dass die neuen Bewohner einen Vorteil aus dem Unrecht an den alten Bewohnern gezogen haben.

In so einem Fall ist es zentral, dass das Unrecht und das schwere Schicksal der früheren jüdischen Bewohner anerkannt und gewürdigt wird.

Ähnlich gelagert dürfte der Fall sein, wenn neue Bewohner in Häuser einziehen, deren frühere Bewohner vertrieben wurden, meist unter Zurücklassung des gesamten Inventars wie Möbel und persönliche Gegenstände. Dies ist etwa im Rahmen der „Westverschiebung“ Polens nach dem zweiten Weltkrieg in vielen Fällen passiert. Und die neuen polnischen Bewohner von Häusern und Wohnungen, in denen ehemals Deutsche lebten, waren oft selber Vertriebene aus dem früheren östlichen Teil Polens, der dann zum Staatsgebiet der UdSSR gehörte. Man kann sich leicht vorstellen, dass durch die Übernahme von Möbeln und anderen Einrichtungsgegenständen der früheren Bewohner der Geist dieser ehemaligen Bewohner noch einmal deutlicher präsent ist.

Ich stand auch einmal als Stellvertreter für ein Haus in einer Aufstellung und in diesem Haus war ein Mord an dem Besitzer begangen worden, um sich danach das Haus anzueignen. Der Mord war nie polizeilich ermittelt oder gesühnt worden. Und die Empfindung in der Stellvertretung war eine starke Empörung. Das Haus fühlte sich empört über das Schicksal des früheren Besitzers, über die Tat und insbesondere über die Vertuschung der Tat. Es fühlte sich so an, als ob das Haus böse sei auf die jetzigen Bewohner, welche aber schon die nächste Generation nach dem Täter war. Tatsächlich lag wohl – wie man manchmal sagt – kein Segen auf diesem Immobilieneigentum für die nachfolgenden Bewohner. Es kam zu allerlei in der Häufung schwer erklärbaren Schäden, welche auf die Dauer die Finanzmittel der Nachgeborenen des Täters arg belasteten und es soll eine als „unheimlich“ beschriebene Atmosphäre in dem Haus geherrscht haben.

Firmen und Betriebe

Auch Firmen und Betriebe können eine seelische Auswirkung auf Menschen haben und sind deshalb manchmal in Aufstellungen vertreten. Dies gilt natürlich insbesondere, wenn es um Familienbetriebe handelt.

Wenn der Betrieb oder das Geschäft von der Person, für welche die Aufstellung gemacht wird, selbst gegründet wurde ist ein Zusammenhang mit einem wichtigen seelischem Thema oft unmittelbar evident. Die Gründung eines Unternehmens oder eines Betriebes entfaltet mitunter eine Eigendynamik, das Unternehmen verlangt für sein Gedeihen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Energie. Die Wirkung eines selbst gegründeten Unternehmens ist in mancher Hinsicht auf der seelischen Ebene vergleichbar mit einem eigenen Kind.

Aber auch für Nachfahren der Gründer können solche Familienbetriebe eine seelische Relevanz haben. Über das Unternehmen wirkt auf die Nachfahren der Geist der Ahnen. Die Entscheidung, seinen beruflichen Weg in diesem Familienunternehmen zu gestalten oder eben nicht, ist dann nicht mehr dasselbe wie wenn ich mich im Rahmen von Bewerbungen für den einen oder anderen Arbeitgeber entscheide, mit dem ich aber ansonsten nicht weiter verbunden bin. Die Entscheidung gegen eine Position in einem Familienunternehmen kann sich wie eine Entscheidung gegen die Vorfahren anfühlen. Und in manchen Fällen stellt es sich in einer Aufstellung so dar, dass für den beruflichen Erfolg außerhalb des Familienunternehmens nicht nur das Einverständnis und der Segen der Eltern nötig ist, sonder also ob auch der ausdrückliche Segen des Unternehmens erforderlich ist, um wirklich frei zu sein für eine Tätigkeit außerhalb des Familienbetriebes.

Mir scheint auch, dass ein solcher Einfluss besonders bei landwirtschaftlichen Betrieben besonders stark ist. Ich erinnere mich an eine Aufstellung, die für den Sohn eines Landwirtes durchgeführt wurde. Dieser hatte den väterlichen Hof, der seit Generationen im Familienbesitz bewirtschaftet wurde, nicht übernehmen wollen. Er war zum Studieren in eine Großstadt gezogen, hatte das Studium sehr erfolgreich absolviert, hatte aber große Schwierigkeiten in dem entsprechenden Berufsfeld Fuß zu fassen. In dieser Aufstellung haben wir auch den Hof aufgestellt und es war deutlich, dass es der Hof war, viel mehr als der Vater des Klienten, dem es wichtig war, dass der Hof in der Familientradition weiter geführt wurde. Es fiel dem Hof sehr schwer, sich mit der Vorstellung anzufreunden, dass er in naher Zukunft verkauft und in neue Hände übergehen würde. Und es sah so aus, also ob diese seelisch-geistige Wirkung des Hofes einen beruflichen Erfolg des Klienten in dem fremden Berufsfeld abseits der Landwirtschaft behindern würde. Er hat dann im Rahmen der Aufstellung den Hof gebeten, ihn frei zu geben für eine andere berufliche Tätigkeit. Dies kostete den Hof – in der Empfindung des Stellvertreters – einige Überwindung. Aber als der Hof sich dazu durchrungen hatte, dem Klienten den Segen zu geben für den beruflichen Erfolg abseits der Landwirtschaft, hatte dies eine entscheidende Stärkung und Erleichterung bei dem Klienten zur Folge.

Der Wechsel des beruflichen Tätigkeitsfeldes

In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch etwas erwähnen, was ich in Aufstellung immer wieder einmal sehen konnte und bei dem man es auch mit Gestalten in der Aufstellung zu tun hat, die nicht wirklich menschliche Personen sind.

Wenn ein Mensch nach längerer Zeit in einem bestimmten beruflichen Feld sich dazu entschließt, einen Neuanfang in einem ganz anderen beruflichem Tätigkeitsgebiet zu betreiben, dann ist auch hier in vielen Fällen für das Gelingen der Segen des alten Berufes wichtig. Natürlich wechselt man ein berufliches Feld nur dann, wenn man mit der bisherigen beruflichen Tätigkeit nicht mehr zufrieden ist oder nicht mehr gut zu Recht kommt. Bei einer solchen Entscheidung wird ein Mensch daher natürlich meist keine besonders guten Gefühle für die bisherige Tätigkeit hegen. Es ist ja das, wovon ich weg möchte. Vielleicht, weil es mich nicht mehr erfüllt. Vielleicht weil mir die Sinnerfüllung in dieser Tätigkeit abhanden gekommen ist.

Es ist also nicht gerade naheliegend, sich positiv auf diese Tätigkeit und dieses Berufsfeld zu beziehen. Aber gerade dann erweist sich (meist) als notwendig, sich noch einmal in Dankbarkeit dem Beruf, den ich zu verlassen gedenke, zuzuwenden. Es geht um die Dankbarkeit dafür, was mir der alte Beruf gegeben hat und war mir ermöglicht hat, gerade wenn ich länger in ihm tätig war. Im Kern geht es darum, dem alten Beruf, vertreten durch eine Stellvertreterperson, noch einmal in die Augen zu schauen und zu sagen: „Danke, dass du mich all die Zeit ernährt hast, mir ermöglicht hast, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten!“ Das ist ja nicht gerade unwichtig. Und manchmal ist vielleicht auch ein Dank angebracht für das, was man in diesem Beruf lernen konnte und durfte.

Auch hier wirkt es sich günstig aus, wenn der alte Beruf mir den Segen erteilt für den Erfolg im neuen Beruf. In der Tat ist es oft so, dass der Stellvertreter für den neuen Beruf in der Aufstellung erst dann eine gute Beziehung zum Klienten aufbaut, wenn dieser sich in Dankbarkeit vom alten Beruf verabschiedet und dessen Segen erhalten hat.

Unpersönliche Gestalten in einer Aufstellung: Krankheiten und Symptome

Im letzten Blogbeitrag ging es am Beispiel von Ländern oder auch Gegenden um überpersönliche, also kollektive Gegebenheiten, die wie eine Person in einer Aufstellung aufgestellt werden. In ähnlicher Weise soll es in diesem Beitrag um Krankheiten bzw. Symptome gehen, die man in einer Aufstellung durch eine Stellvertreterperson einführen kann und manchmal auch muss. Ich spreche hier von unpersönlichen (statt von überpersönlichen) Gestalten. Wenn wir eine Krankheit oder auch ein Symptom benennen, ist dies natürlich nicht wirklich eine Person, auch wenn eine Person als Stellvertreter dafür aufgestellt wird. Die Krankheit ist etwas eher Abstraktes, etwas Unpersönliches. Aber sie ist nicht in dem Sinne kollektiv, dass alle konkreten Menschen einer bestimmten Menschengruppe eben dazu gehören. Eine bestimmte Krankheit befällt bestimmte Menschen, andere aber nicht. Und auch die Ausprägung der Symptomatik kann individuell sehr verschieden sein.

Wann und warum stellt man Krankheiten oder Symptome auf?

Natürlich ist es oft so, dass eine Erkrankung oder Symptomatik überhaupt der Anlass für eine Aufstellung ist, das Anliegen der Aufstellung ist also dadurch bestimmt. Das bedeutet aber nicht zwingend in jedem Fall, dass man bei solchen Anliegen auch die Krankheit oder das Symptom als eigenständige Position einführen muss. Generell scheint mir, dass man sich bei Krankheiten / Symptomen in einer Aufstellung davor hüten sollte, hier zu „medizinisch“ zu denken oder die Aufstellung als eine Art von „Behandlung“ oder Therapie zu sehen[1].

Bei einer Aufstellung geht es ja – zumindest in meinem Verständnis – um die Bewegungen der Seele. Und das wäre die Leitfrage: Benötige ich in diesem konkreten Fall wirklich die Krankheit als Position in der Aufstellung, um die damit verbundene seelische Bewegung und die mögliche Lösung, wo also die Seele hin will, aufzuzeigen und somit der Person, um die es geht, eine Erleichterung zu verschaffen? Das ist nicht immer der Fall. Das mag erst einmal irritierend klingen. Man könnte ja denken: Ja, wenn es doch um die Krankheit geht, welche den Lebensvollzug einschränkt, wie kann es dann sein, dass die Krankheit nicht aufgestellt wird?

Die Krankheit / das Symptom und der Bezug zur Herkunftsfamilie

Sehr oft ist es so, dass bei einer schwerwiegenden Erkrankung der Bezug zur Herkunftsfamilie unmittelbar augenfällig ist. Wenn z.B. eine Frau an Brustkrebs erkrankt ist und man fragt: „Hatten andere Personen in deiner Herkunftsfamilie auch mit einer Brustkrebserkrankung – oder allgemeiner: mit einer Krebserkrankung überhaupt oder noch allgemeiner: mit einer schweren und lebensbedrohlichen Erkrankung – zu tun?“ und die Antwort dann wäre, dass sowohl die Mutter wie auch die Mutter Brustkrebs hatten und die Großmutter auch daran verstorben ist, dann ist die Hypothese einer systemischen Verstrickung sehr naheliegend.

In diesem Fall würde man vielleicht die Klientin, deren Mutter und deren Großmutter aufstellen. Und es könnte sich zeigen, dass die Seele der Klientin den Brustkrebs als Mittel benutz, um den weiblichen Ahnen nahe zu sein, um mit den weiblichen Ahnen verbunden zu sein und vielleicht auch, um etwas für die weiblichen Ahnen mitzutragen. Und die Lösung wäre vielleicht, dass die Klientin zu den weiblichen Vorfahren etwas sagt: „Ich sehe und achte euer schweres Schicksal!“ Und dann vielleicht an die Vorfahrinnen gewandt noch sagt: „Bitte, segnet mich, wenn ich vollständig gesunde!“ oder auch „Ich bleibe mit euch verbunden, auch ohne die Erkrankung!“

In so einem Fall benötigt man nicht unbedingt die Erkrankung selber als eigenständige Position in der Aufstellung, auch wenn natürlich in meinem Beispiel der Brustkrebs im Feld präsent ist. Aber wir müssen in diesem Fall vielleicht nicht den Brustkrebs als stellvertretende Wahrnehmung dabei haben, um etwas über die Intention des Brustkrebses zu erfahren.

Ich schreibe das hier bewusst vorsichtig in der Formulierung. Das Gesagte soll eben nicht bedeuten: Immer wenn der seelische Hintergrund der Erkrankung eine Verstrickung im Familiensystem bedeutet, eine „ich folge dir nach“ Struktur sich zeigt, man eben die Krankheit selbst oder die Symptomatik nicht aufstellt. Mitunter kann es sich auch in solchen Fällen als hilfreich oder gar notwendig erweisen, die Krankheit aufzustellen, weil sich darüber etwas näher klären lässt, in welcher Weise genau die Erkrankung für die Seele der Ahninnen wichtig war und vielleicht auch dann ähnlich bei der Klientin für die Seele wichtig ist.

Die Krankheit / das Symptom und der jetzige Lebensbezug

In anderen Fällen zeigt sich bei einem Aufstellungsanliegen vielleicht kein (deutlicher) Bezug zum familiären Herkunftssystem. Es erscheint eher so, als ob es für die Seele bei der Erkrankung darum ginge, einen inneren Konflikt zum Ausdruck zu bringen oder eine grundlegende Entscheidung in Bezug auf die Lebensführung zu befördern oder vielleicht auch, über die Erkrankung mit schicksalhaften Kräften in Berührung zu kommen. In so einem Fall schauen wir dann in der Aufstellung nicht auf die Herkunft der Person, um die es in der Aufstellung geht, sondern auf die jetzige Lebenssituation der Fokusperson in der Aufstellung. Welche Entscheidungen stehen hier an? Welche Entwicklungsprozesse und Reifungsstufen stehen vielleicht in Zusammenhang mit der Erkrankung? Wie ist es mit dem Lebenssinn der Fokusperson bestellt? Oder auch: Was wird durch die Erkrankung verhindert, was würde ich sofort tun, wenn die Erkrankung nicht wäre?

In solchen Fällen ist die Erkrankung oder das Symptom als Position in der Aufstellung oft sehr hilfreich. Man kann dann über die Stellvertreter, ihre unmittelbaren Reaktionen aber auch ihre Antworten auf Fragen, Hinweise darauf bekommen, was das eigentliche Anliegen der Erkrankung ist. Worauf möchte die Erkrankung mich aufmerksam machen? Was möchte die Erkrankung bei mir verhindern?

Ebenso spielt hier die Frage eine Rolle: Ist es überhaupt etwas „Persönliches“ in einem engeren Sinne? Geht es der Erkrankung wirklich im Kern um diese konkrete Person? Oder hat sich die Erkrankung im Lebensraum dieser Person niedergelassen, weil es nun mal „ihr Job“ ist, eine bestimmte Anzahl von Menschen zu befallen und diese Person gerade gut verfügbar war? So etwas zeigt sich in der Aufstellung, wenn man die Stellvertreterperson für die Erkrankung danach befragt, wie es ihr mit der Fokusperson in der Aufstellung geht.

Aber auch hier ist es so: Man kann hier keine Regel formulieren etwa in dem Sinne, immer wenn eine Erkrankung das Thema der Aufstellung ist und es nicht zentral um eine Familiensystemdynamik dabei zu gehen scheint, soll man die Erkrankung aufstellen. Auch ohne eine Verankerung des Themas in der Herkunftsfamilie und dem Ahnensystem könnte eine solche Aufstellung ohne eine explizite Stellvertreterperson für die Erkrankung auskommen. Es könnte sein, dass man vielleicht eine Entscheidungssituation aufstellt, also z.B. eine Stellvertreterperson für die eine Alternative und eine andere Stellvertreterperson für die andere Alternative der Entscheidung. Oder man stellt einen inneren Konflikt auf, der mit der Erkrankung zusammen hängt. Oder vielleicht stellt man auch „das Schicksal“ auf. Das wäre dann viel größer und umfassender als die konkrete Erkrankung.

Die Krankheit oder das Symptom aufstellen?

Ich habe bislang immer austauschbar über „die Krankheit“ bzw. „das Symptom“ gesprochen. Mein Eindruck aus den Aufstellungen ist: Dies ist nicht ganz dasselbe. Es macht einen Unterschied, ob ich die aufgestellt Gestalt als eine bestimmte Krankheit aufstelle oder als ein konkretes Symptom. Dieser Unterschied ist auch für die entsprechenden Stellvertreter wichtig. Mir scheint, es macht auch hier einen Unterschied, ob ich mich in eine Krankheit oder in ein Symptom einfühle.

Worin liegt nun dieser Unterschied? Das finde ich schwer zu beschreiben. Die Entscheidung in einer Aufstellung fällt ja auch nicht anhand von irgendwelchen Überlegungen, sondern in welche Richtung die Mitteilungen aus dem Feld gehen. (So sollte es zumindest sein.) In der Leitung einer Aufstellung spüre ich meist schon in der Vorbesprechung deutliche innere Signale, ob hier die Krankheit oder das Symptom aufgestellt werden soll. Aber ich könnte das in der Situation oft nicht wirklich begründen, warum das eine oder das andere.

Rückblickend kann ich vielleicht ein paar grobe Tendenzen beschreiben, aber das ist für mich noch sehr hypothetisch. Vielleicht fällt die Wahl eher auf das Symptom statt auf die Krankheit, wenn es zentral darum geht, was wird durch die Erkrankung verhindert oder auch wird durch die Krankheit ermöglicht für die von der Erkrankung betroffene Person? Dieser Aspekt wäre ziemlich „handlungsnah“. Es geht um die ganz praktische und alltägliche Lebensführung.    
Dagegen würde die Wahl vielleicht eher auf „Krankheit“ statt „Symptom“ fallen, wenn es eher um den Lebenssinn der Fokusperson geht oder auch, wenn über die Erkrankung sich so etwas wie eine „Reifungskrise“ ausdrückt, wenn also ein Mensch einen Übergang in eine grundlegend neue Lebensphase durchlebt und die Erkrankung bei der „Initiation“ in diese neue Lebensphase mitwirkt.

Aber das sind von meiner Seite aus vorläufige und tastende Versuche, den Unterschied zu beschreiben. Und die Beschreibung ist vielleicht nicht mehr als der Ausdruck meines derzeitigen Standes im Irrtum. Es ist für die Aufstellung auch nicht wichtig, zu verstehen, warum genau im Einzelfall entweder die Krankheit oder das Symptom aufgestellt wird, solange aus dem wissenden Feld klare Signale für das eine oder das andere vernehmbar sind.

Die Krankheit / das Symptom als Freund und Begleiter

Ein letzter Punkt scheint mir bei diesem Thema noch wichtig. Wenn in einer Aufstellung eine Krankheit oder ein Symptom über eine Stellvertreterperson aufgestellt wird, ist es in den allermeisten Fällen im Verlauf der Aufstellung so, dass die Fokusperson sich bei der Krankheit bzw. bei dem Symptom bedankt. Dies mag verwundern, weil man ja üblicherweise die Krankheit oder das Symptom eher „weg haben“ möchte. Wir möchten, dass die Krankheit oder das Symptom eben nicht in unserm Leben präsent ist. Vielleicht möchten wir die Krankheit oder das Symptom auch bekämpfen. Der Gedanke, mich bei diesem Gegner auch noch zu bedanken, erscheint bei dieser Intention absurd.

Und doch ist es so, dass der Dank an die Krankheit oder an das Symptom sehr oft eine entscheidende Rolle bei der Lösung spielt. Mit der Dankbarkeit, so sieht es in der Aufstellung oft aus, kann sich die Krankheit oder das Symptom dann auch zurückziehen.

Warum ist das so? Vielleicht können wir sagen, die Erkrankung hilft uns, auf ein bestimmtes Thema aufmerksam zu werden. Die Erkrankung unterstützt uns bei grundlegenden Lebensveränderungen. (Weil: Ohne dies würden wir diese Veränderungen nicht vornehmen.) Und letztlich ist eine schwerwiegende Erkrankung natürlich auch ein langfristiger Begleiter in meinem Leben, ein treuer Begleiter. Hört sich das zynisch an? Ich meine es nicht zynisch. Aber es ist ja eine Tatsache: Eine schwere Erkrankung ist eine Herausforderung! Und wie bei vielen anderen Dingen auch, die für uns schwer und herausfordernd sind, kann man zumindest rückblickend meist ganz gut angeben, warum und in welcher Weise mir diese Herausforderung genutzt hat. Vorausgesetzt natürlich, die Herausforderung war keine Überforderung. Aber auch dies kann meist nur rückblickend entschieden werden.

Ich hatte ja oben davon gesprochen, dass wir natürlich dazu neigen, die Erkrankung als Gegner bekämpfen zu wollen. Dies ist auch die medizinische Denkweise und hier hat sie auch eine gewisse Berechtigung. Vielleicht können wir die Gegnerschaft aber auch so sehen, wie einen Gegner z.B. im Schachspiel oder in einer Sportart wie z.B. Tennis. Wenn wir an diese Dinge denken, ist es überhaupt nicht absurd, wenn ich mich etwa nach einer interessanten Schachpartie bei meinem Gegner bedanke. Er, der Gegner, hat mich vielleicht in dieser Partie an die Grenzen meiner Fähigkeiten gebracht und vielleicht sogar ein kleines Stück darüber hinaus. Und für das, was ich da lernen durfte und für den Anreiz für meine Weiterentwicklung kann ich mich durchaus bedanken, da ist überhaupt nichts Absurdes dabei.
Diese Sichtweise würde natürlich auch bedeuten, das Leben insgesamt (auch!) als Spiel zu betrachten. Ein großes Spiel, ein durchaus oft sehr ernstes Spiel – aber eben doch auch ein Spiel. Und was wäre ein solches Spiel wie Schach ohne einen Gegner?


[1] In einem anderen Beitrag hatte ich etwas dazu geschrieben, ob man eine Familienaufstellung als Therapie ansehen kann bzw. ob Aufstellungen eine Therapiemethode sind. Hier hatte ich die Ansicht vertreten, dass Aufstellungen nicht wirklich eine Therapie oder Therapieform sind, aber profunde therapeutische Wirkungen haben können. Diese therapeutischen Wirkungen stellen sich aber paradoxerweise eher dann ein, wenn man sich von einem therapeutischen Denkansatz, in dem es um die Beseitigung einer Störung geht, löst.

Überpersönliche Gestalten in einer Aufstellung: Das Land als Heimat

Mitunter erweist es sich in einer Aufstellung als notwendig für ein bestimmtes Thema, nicht nur Stellvertreter für die Person selbst und z.B. wichtige Mitglieder der Herkunftsfamilie aufzustellen, sondern in die Aufstellung auch als Position etwas einzuführen, was überpersönlich ist. Dies kann etwa das Herkunftsland sein, wenn jemand oder seine Familie das Herkunftsland und dessen Kultur verlassen hat und in ein anderes Land und eine andere Kultur migriert ist.

Wenn wir solch eine Position in einer Aufstellung haben, spreche ich von „Gestalten“, um damit auszudrücken, dass es sich hier nicht um konkrete Personen handelt, sondern um etwas Überpersönliches oder etwas Kollektives.    
In einer Aufstellung geht es ja um Bewegungen der Seele und in unserer Seele – in jedem Menschen – hausen eben auch Gestalten und damit verbundene seelische Kräfte, die nicht oder nicht nur mit konkreten Personen aus meiner Herkunftsfamilie verbunden sind, sondern die einen übergreifenden Charakter aufweisen.

In diesem Beitrag will ich mich damit beschäftigen, in welcher Weise Länder in einer Aufstellung eine Rolle spielen (können). Andere solche überpersönlichen Gestaltungen in der Seele können die sogenannten „Archetypen“ sein. Dies sind mythologische Figuren, die wir aus Märchen, Sagen und Göttervorstellungen kennen und die im kollektiven Unbewussten von Menschen verankert sind. Ebenfalls unpersönlich bzw. überpersönlich kann man manchmal auch eine Krankheit als Position in eine Aufstellung einführen, oder auch ein Unternehmen oder eine Ideologie oder dergleichen, wenn es seelische Bedeutsamkeit hat und für das Anliegen, welches in der Aufstellung bearbeitet wird, wichtig ist.

Hier soll es aber – wie gesagt – um Länder gehen. Und dies muss ein wenig erläutert werden, weil hier Missverständnisse möglich sind, durch welche dann mit einem Mal alles falsch wird. Hier wäre zuallererst auf den Unterschied zwischen Land und Staat einzugehen.

Land und Staat

In einer Aufstellung interessiert uns die Wirkung, die ein Land auf meine Seele hat. Und hier müssen wir, nach dem Eindruck, den ich bislang in Aufstellungen gewonnen habe, zwischen Land und Staat unterscheiden. Ein Staat ist im Kern ein verwaltungstechnisches Konstrukt, welches bestimmt, welchen gesetzlichen Bestimmungen ich unterliege und welche Steuern ich an welche Institution zu zahlen habe, wenn ich in diesem Staat wohne. Ein Staat hat aber keine Seele und damit keine seelische Qualität in der Wirkung auf seine Einwohner. Anders sieht es mit einem Land aus, wenn wir damit das Lebensgebiet einer Bevölkerung meinen, die durch eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Kultur, gemeinsame Bräuche und vielleicht auch gemeinsame Geschichten und Mythologien verbunden ist. Dies hat eine seelische Qualität und somit auch seelische Auswirkungen, die wir vor allem damit verbinden, was wir unsere Heimat nennen.

Die seelische Wirkung von einem Land als Heimat ist natürlich auch über meine Familie vermittelt. Hier wäre vor allem die Muttersprache zu nennen, die wir erlernen in der frühen Kindheit. Allein das Wort „Muttersprache“ verweist ja sehr deutlich auf die Mutter, also auf einen Elternteil. In einem weiteren Sinn kann man vielleicht auch sagen, wo meine Heimat ist, wird dadurch bestimmt, wo die Gebeine meiner Vorfahren in der Erde liegen. So hat es zumindest Bert Hellinger einmal ausgedrückt. In der Familienaufstellung geht es bei den Vorfahren ja immer um meine Wurzeln, und die Gegend auf diesem Globus, wo die Vorfahren beerdigt sind, verwurzelt uns somit seelisch mit dieser Gegend, diesem Landstrich und den dortigen Sitten und Gebräuchen.

Auch hier sieht man – wie ich finde – den Unterschied zu einem Staat. Ein bestimmtes Land mit seinem Volk und seiner Kultur kann im Rahmen von geschichtlichen Prozessen zum Beispiel von einem anderen Staat erobert und in das Staatsgebiet eingegliedert werden. In der Seele bleibt das Land aber über Sprache und Kultur präsent. Um ein Beispiel zu nennen: Durch die historischen Teilungen hat es Polen in verschiedenen Phasen der Geschichte als Staat nicht gegeben, das Gebiet und seine Bevölkerung wurden staatlich z.B. zwischen Preußen, Russland und Österreich aufgeteilt. Trotzdem lebte das polnische Volk und sein Sprache und Kultur natürlich weiter. Und dieser Aspekt ist der seelisch relevante, Politik, Verwaltung und Staatsgrenzen interessieren die Seele nicht. (Obwohl sie natürlich praktisch im Alltagsleben große Auswirkungen haben können.)

Die Wirkungsweise von Ländern in der Seele

In einer Aufstellung behandeln wir Länder – im Sinne eines Sprach- und Kulturraumes – wie Personen. Das bedeutet, für die Aufstellung wird eine Stellvertreterperson ausgewählt, in der Aufstellung platziert und nach ihren Emotionen, ihrem Befinden und ihren Beziehungen zu anderen Positionen der Aufstellung befragt. Allerdings handhabe ich es meist so, dass ich Länder bzw. die Stellvertreter für Länder in einer Aufstellung auf einen Stuhl stelle. Da es sich hier um etwas handelt, was kollektiv ist, ist diese Gestalt in einer Aufstellung größer als jede einzelne Person und dies kann man eben dadurch adressieren, dass die Stellvertreterperson auf einem Stuhl steht.

Was sich in Aufstellungen zeigt ist, dass Länder gegenüber den ihnen zugehörigen Personen oft wie Eltern gegenüber ihren Kindern empfinden. Noch genauer: Eigentlich wie eine Mutter gegenüber ihren Kindern, weshalb meinem Eindruck nach Länder in einer Aufstellung auch eine deutlich weibliche Qualität haben.

Und was möchte eine Mutter normalerweise für Ihre Kinder? Sie möchte, dass es Ihnen gut geht, dass sie sich entwickeln können, dass sie ein erfülltes Leben haben. Ein Land leidet, wenn es der Bevölkerung – aus welchem Grund auch immer – nicht gut geht. In vielen Fällen – allerdings nicht immer – ist ein Land auch traurig, wenn seine Kinder, die Landeskinder, das Land verlassen oder verlassen müssen. Aber diese Trauer ähnelt eher dem manchmal durchaus etwas wehmütigen Abschiedsschmerz, den Eltern empfinden mögen, wenn ein Kind das Elternhaus verlässt um in die Eigenständigkeit des eigenen Lebens aufzubrechen. Und Länder erfreuen sich daran, wenn es den Landeskindern im fremden Land gut geht. Es erscheint mir manchmal so, als ob das Land sagen würde: „Durch dein Dasein und dein Wirken im fremden Land: Künde dort von mir!“. (Aber vielleicht ist das auch nur eine Vorstellung oder ein Phantasie, welche ich an den Prozess herantrage, ich bin mir da nicht ganz sicher.)

Was ich aber häufiger schon erlebt habe: Es ist einem Land sehr recht, wenn die Landeskinder, auch wenn sie ihr ganzes Leben oder einen großen Teil ihres Lebens in der Fremde verbracht haben, nach dem Ableben in der Erde dieses Landes beerdigt werden.

Das Kind mit Eltern aus zwei unterschiedlichen Kulturen

Nun gibt es natürlich auch oft die Situation, dass sich zwei Menschen mit unterschiedlichen Heimatländern zusammen tun und gemeinsam ein Kind (oder auch mehrere Kinder) haben. Wie verhält es sich hier? Hier habe ich es mehrfach erlebt, dass es sich gut auswirkt für diese Kinder, wenn sie auf die beiden Heimatländer der Eltern schauen und zu jedem Heimatland sagen können: „Ich bin eines deiner Kinder. Und ich gehöre aber auch – gleichzeitig – zu jenem anderen Land.“

In diesem Fall ist es auch nicht ganz unwichtig, wie die Beziehung der beiden Länder untereinander sich gestaltet. Ich habe da auch schon gewisse Eifersüchteleien zweier Länder erlebt bei der Frage, zu wem denn nun dieses Menschenkind „eigentlich“ oder zumindest stärker gehört.

Variation des Themas: Das Gebiet

Im Rahmen von Aufstellungen in den letzten knapp 25 Jahren habe ich aber noch ein anderes Phänomen beobachten können, das ähnlich wie ein Land / Volk / Kulturraum reagiert, aber ohne Bezug auf ein konkretes Volk bzw. eine konkrete Kultur.

Manchmal verhalten sich besondere Gebiete oder Regionen, etwas was man in einem Nationalstaat vielleicht als Provinz bezeichnen könnte, zu ihren Bewohnern und den Menschen, die dort geboren werden und aufwachsen wie Länder zu ihren Landeskindern.

Ein prägnantes Beispiel, dass ich bereits häufiger in Aufstellungen erleben durfte, wäre Schlesien. Diese Gegend fungiert öfter für Menschen als Heimat (im Sinne von: wo meine Vorfahren lebten und begraben sind) unabhängig von Sprache, Kultur und Nationalität. Oder besser gesagt: Übergreifend über Sprache, Kultur und Nationalität. Ich habe das schon bei hier in Deutschland lebenden Polen erlebt, wo sich als wirksamer Bezugspunkt in Bezug auf Heimat eben nicht „Polen“, sondern „Schlesien“ ergab. Und ganz ähnlich bei Deutschen, deren Vorfahren in Schlesien lebten und welche vielleicht geflüchtet sind oder vertrieben wurden.

Hier scheint es so, als ob die Gestalt Schlesien auch Landeskinder hat und sie ist diesen ihren Landeskindern gleichermaßen zugewandt, völlig unabhängig davon, ob die Sprache und Kultur dieser Landeskinder polnisch, deutsch oder auch böhmisch, tschechisch oder was auch immer sein mag. Die Zugehörigkeit dieses Gebietes Schlesien zu Staaten oder (König)Reichen war ja in der Geschichte höchst wechselhaft, mal gehörte das Gebiet zu Böhmen, mal zu Preußen, mal zur österreichischen K&K-Monarchie, mal zu Polen und mitunter in unterschiedlichen Aufteilungen zu Mehrerem gleichzeitig.

Vielleicht, aber das ist nur eine Vermutung, bildet sich eine solche eigenständige Identität einer Region, eigenständig gegenüber Ländern als Sprach- und Kulturräumen und dann eben auch eigenständig in der seelischen Wirksamkeit, besonders dann heraus, wenn diese Region für lange Zeit umkämpft und umstritten war und diese Region dann auch von unterschiedlichsten Volksgruppen besiedelt wurde?

Variation des Themas: Der Bauernhof

Ich habe es auch einmal in einer Aufstellung erlebt, dass das Land eine zentrale Rolle für die Aufstellung spielte, aber in einer sehr viel kleineren Einheit, was das Land anging. In dem Fall ging es nämlich um einen Bauernhof und das zugehörige zu bewirtschaftende Land. Der Mann, für den wir die Aufstellung gemacht haben, stammte aus einer Bauernfamilie und das Land, welches sein Vater als Landwirt bewirtschaftet, war schon seit Generationen im Familienbesitz. Eigentlich wäre dieser Mann als Nachfolger seines Vaters vorgesehen gewesen, also dass er den Hof erbt und den bäuerlichen Betrieb weiterführt.

Er hat sich dann aber dagegen entschieden und stattdessen das Dorf und den Bauernhof verlassen, um in einer Großstadt zu studieren. Hier hat er auch sehr erfolgreich einen sehr guten Abschluss gemacht, hatte allerdings danach die schwer erklärliche Situation, dass er trotz bester Qualifikation beruflich nie wirklich erfolgreich sein konnte in seinem Beruf.

In der Aufstellung hatten wir dann irgendwann einen Stellvertreter für den Bauernhof und das damit verbundene Land eingeführt in die Aufstellung. Und es ergab sich die Lösung dadurch, dass der junge Mann den Hof intensiv anschaute und ihm in etwa sagte: „Ich bin bei dir auf die Welt gekommen und groß geworden. Du hast viele meiner Vorfahren mit einem Einkommen und einem Lebenssinn versorgt. Dafür danke ich dir! Es fällt mir auch nicht leicht, mich von dir zu lösen, aber mein Lebensweg ist ein anderer. Mich ruft beruflich etwas Anderes.“ Der Hof war sehr traurig und äußerte etwas in der Art: „Ich wäre gerne weiter mit deiner Familie verbunden geblieben, mit dir in der nächsten Generation und vielleicht auch darüber hinaus mit einem Sohn von dir.“ Der entscheidende Schritt war dann, als der junge Mann den Hof bat: „Bitte segne mich, wenn ich in einem anderen Beruf erfolgreich werde!“ und der Hof diesen Segen, durchaus mit schwerem Herzen aber trotzdem von Herzen erteilte.

Hier wirkte auch das Land und die Heimat (und auch die Familientradition) deutlich in die Seele dieses Mannes hinein. Allerdings nicht in der größeren Form als Land und Heimat eines ganzen Volkes, sondern in der kleineren Form als Hof und Land und Heimat einer Familie.

Die seelischen Urwunden – Teil 9: Eine Rückschau

Ich beschließe diese kleine Serie von Blogbeiträgen zu seelischen Urwunden mit einer Rückschau. Wir starteten damit, einen Betrachtungsrahmen aufzuspannen. Es ging dabei um die Frage, was braucht ein Mensch, der als Baby auf die Welt kommt, um sich gut und seiner Eigenart gemäß zu entwickeln. Es ist ja so, dass der Mensch unter allen Säugetieren die längste Adoleszenz aufweist und damit auch eines großen Maßes an Betreuung und Fürsorge in der Entwicklung bedarf. Der Bezugsrahmen für das Thema seelische Urwunden war nun die Überlegung, wie sollte ein neuer Mensch am Anfang seiner Entwicklung idealerweise in dieser Welt willkommen geheißen werden?

Es soll hier noch einmal darauf hingewiesen werden, dass dieser Bezugsrahmen idealisiert ist. Und ein Ideal ist in der Realität nicht perfekt zu erreichen. Es geht auch weniger darum, etwa den Eltern oder der Gesellschaft oder wem auch immer die Schuld zu geben. Der Bezugsrahmen diente nur dazu, vor dem Hintergrund dieser Folie zu beschreiben, wenn man so will, was alles schief gehen kann. Noch genauer: Was alles auf einer grundlegenden, existenziellen Ebene schmerzlich vermisst werden kann. Wobei – auch dies sei hier noch einmal betont – wir von einem Fehlen von gedeihlichen Bedingen sprechen, welche wirklich schwerwiegend und dauerhaft sind, welche die natürlichen Bedürfnisse des Kindes bedeutsam verletzt, das Ur-Vertrauen signifikant in der einen oder anderen Weise erschüttert. Dann entsteht im Prozess des Heranwachsens eben eine Ur-Wunde, ein manchmal lebenslang bleibender wunder Punkt.

Vor dem Hintergrund dieser Folie wurden die folgenden sieben Urwunden in einzelnen Beiträgen beschrieben:

  • Verlassen werden / getrennt werden
  • Nicht gesehen werden, nicht beachtet werden
  • Verkannt oder verwechselt zu werden
  • Nicht oder nicht vollständig da sein dürfen (Du bist zuviel!)
  • Betrogen zu werden, hintergangen zu werden
  • Gedemütigt werden oder eklatante Ungerechtigkeit zu erleben
  • Nicht oder nicht genug geliebt zu werden.

Man kann hier natürlich fragen: Sind es genau diese sieben Urwunden, die es gibt? Oder auch: Hängen diese Urwunden nicht auch miteinander zusammen, was sicherlich richtig ist. Man könnte auch fragen: Ist nicht die letztgenannte Urwunde, nicht oder nicht genug geliebt zu werden, die zentrale Urwunde, alles andere nur konkrete Ausformungen davon? Dies mag alles sein. Es ist sicherlich kein trennscharfes oder gar diagnostisches System. Es sind beobachtbare Phänomene, die sich sicherlich auch anders benennen oder gruppieren lassen.

Urwunden als Entwicklungstraumata

Was hier mit der Bezeichnung Urwunde bezeichnet wurde, lässt sich auch als Trauma oder Traumatisierung beschreiben. Wir reden hier von Entwicklungstraumata im Gegensatz zum Schocktrauma. In so fern wäre für alle angeführten Urwunden etwas Generelles nachzutragen. Jeder einzelne Blogbeitrag zu jeder einzelnen Urwunde hat ja am Ende einen Teil, der sich damit befasst, was hier helfen kann. Und da gilt eben für alle erwähnten Urwunden gemeinsam, dass hier alle Methoden helfen, die sich mit der Heilung von Entwicklungstraumata beschäftigen. Und dies ist ein weites Feld …

Seelische Urwunden als spezifische Ausformung eines Entwicklungstraumas aufzufassen, bringt uns aber auch noch auf eine andere Spur, die für alle genannten seelischen Urwunden gleichermaßen gilt.

Überlebensstrategien statt Leben

Entwicklungstraumata bewirken, dass ein Mensch sich bestimmte Überlebensstrategien aneignet. Diese helfen, den existentiellen Mangel auszuhalten, ihn teilweise zu kompensieren. Diese Überlebensstrategien waren, zu dem Zeitpunkt, wo sie erlernt wurden, wichtig und meist notwendig. Viele dieser Überlebensstrategien bestehen darin, etwas zu verleugnen, zu verdrängen und sich unempfindlich zu machen gegen seelische Schmerzen. Diese Überlebensstrategien waren einmal eine Lösung. Sie waren oft die einzige Lösung, die einem Kind, besonders einem kleinen Kind, zur Verfügung stand.

Später, im Leben als Erwachsener, erweisen sich diese gelernten Überlebensstrategien aber oft als einschränkend und hinderlich, als dysfunktional. Um wirklich vollständig zu leben, müssen die Überlebensstrategien der Vergangenheit losgelassen werden. Und dies ist nicht so einfach.

Eine Schwierigkeit ist, dass wir uns mit unseren Überlebensstrategien sehr identifiziert haben. Wenn wir hier umlernen, unsere Spielräume erweitern und unser Leben vollständiger leben wollen, erleben wir – zumindest am Anfang – ein sehr unvertrautes Gefühl. Es kann sein, dass wir merken, es geht uns besser – aber gleichzeitig fühlt es sich irgendwie wie „Nicht-Ich“ an. Und das alleine ist beunruhigend. Es gibt einen Teil des Nervensystems, der unbedingt am Vertrauten festhalten möchte, auch wenn es negativ ist. Aber es ist eben bekannt und für diesen Teil des Nervensystems ist das Bekannte gleichbedeutend mit Sicherheit. Alles andere ist bedrohlich, weil es unbekannt ist. Jede ernsthafte Veränderung muss sich, zumindest eine Zeit lang, mit dem Gefühl mangelnder Vertrautheit konfrontieren und dieses Gefühl aushalten, den Rückstellkräften zum Alten widerstehen.

Eine andere Schwierigkeit liegt darin begründet, dass die Aufgabe einer Überlebensstrategie uns mit dem Schmerz von damals in Kontakt bringt. Der Sinn der Überlebensstrategie ist ja gerade, einen zu großen, nicht bewältigbaren Schmerz nicht fühlen zu müssen. Wenn eine Überlebensstrategie losgelassen wird, muss oft der Schmerz, der damals vermieden wurde zu fühlen, noch einmal gefühlt werden. Wir müssen diesem Schmerz erlauben, sich zu entfalten und durch unseren Körper zu fließen, wir müssen ihm erlauben, da zu sein. Wir müssen uns trauen, diesem Schmerz jetzt fühlend unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Das ist nicht leicht und bedarf oft einer kundigen Begleitung. Wir brauchen hier ein heikle Balance, in welcher mir in Kontakt kommen mit dem Schmerz, ohne dass er uns überwältigt und hinwegschwemmt. Anders formuliert: Was losgelassen werden soll, muss sich erst noch einmal vollständig zeigen (dürfen).

Eine Vorstellung vom guten uns vollständigen Leben

Wenn das Lösen bzw. Ablösen von einer einschränkenden Überlebensstrategie nicht einfach, manchmal auch schmerzhaft und in fast allen Fällen von Unsicherheiten begleitet ist, braucht es natürlich gute Gründe für diesen Prozess, welcher gleichzeitig eben auch ein Heilungsprozess bezogen auf eine Urwunde ist.

Manchmal wird man durch das Leben scheinbar dazu gezwungen. Dies kann eine schwere Erkrankung sein oder auch eine Veränderung in den Lebensumständen, welche ein anderes Ausmaß an Verantwortung gerade auch für andere Menschen mit sich bringt. Wir sind dann sozusagen am Ende der Tauglichkeit der Überlebensstrategie angekommen.

Für eine erfolgreiche Veränderung (im Sinne der Heilung einer Urwunde) ist es aber auch gut, neben der Notwendigkeit des Lösens vom Alten eine Aussicht auf die Vorzüge und Freuden des Neuen zu haben. Meist gibt es in der Vergangenheit eine Referenzerfahrung, wo wir für einen Moment aus der Überlebensstrategie herausgefallen sind und dadurch uns freier, glücklicher oder erfüllter gefühlt haben, auch wenn es vielleicht nur für einen kurzen Moment war. Solche Referenzerfahrungen, wo wir einmal von dem vollständigerem Leben gekostet haben, sind wichtig zu erinnern. Ebenso benötigen wir in die Zukunft hinein eine Vorstellung, vielleicht manchmal auch nur eine Ahnung, über die Fülle eines nicht nur auf das Überleben fokussierten Lebens.

Eine Metapher für die Heilung von seelischen Urwunden: Die seelische Narbe

Bei etlichen körperlichen Verletzungen entsteht am Ort der ursprünglichen Verletzung eine Narbe. Narbengewebe ist sehr fest und sehr wiederstandsfähig. Wenn wir auf eine solche Narbe an unserem Körper schauen, können wir uns erinnern: Das war damals, als ich diesen bestimmten Unfall hatte. Wir können uns erinnern, wie es damals war. Wir können uns vielleicht auch erinnern, welche Schmerzen wir damals hatten. Und manchmal kommt uns zu Bewusstsein, dass wir aus der Erfahrung etwas Wichtiges gelernt haben. Nur: Auch wenn wir uns an die damaligen Schmerzen erinnern können, fühlen wir jetzt nicht diesen Schmerz. Der liegt in der Vergangenheit, die Erinnerung ist nur eine Erfahrung, derer wir uns bewusst werden. Jetzt ist die Wunde verheilt und schmerzt nicht mehr.

Dies wäre das Bild, im übertragenen Sinne, für eine Heilung von seelischen Wunden. Wir können uns erinnern, wie es damals war und auch, wie schmerzhaft es damals war. Da muss nichts beschönigt oder verdrängt werden. Es war so, wie es war – und damals war es schmerzhaft. Und gleichzeitig wissen wir: Es ist vorbei, jetzt ist es anders. Im Zusammenhang mit seelischen Urwunden bedeutet dies vor Allem: Jetzt bin ich nicht mehr das kleine Kind, jetzt verfüge ich über andere Handlungsmöglichkeiten.

Vielleicht ein letzter Aspekt im Vergleich mit einer körperlichen Narbe: Viele Narben sind nicht unmittelbar sichtbar, sondern meist von Kleidung bedeckt und nur Menschen, die uns nahe stehen, bekommen die Narben zu Gesicht.    
Bei seelischen Narben, nachdem die Urwunde verheilt ist, kann es ähnlich sein. Nicht jeder muss meine seelische Narbe kennen und sehen, dass hier einmal eine seelische Wunde war, welche ihre Spuren hinterlassen hat. Aber wer mir (genügend) nahe steht, darf um die Narbe wissen, die auf eine alte Verletzung verweist.