Unpersönliche Gestalten in einer Aufstellung: Krankheiten und Symptome

Im letzten Blogbeitrag ging es am Beispiel von Ländern oder auch Gegenden um überpersönliche, also kollektive Gegebenheiten, die wie eine Person in einer Aufstellung aufgestellt werden. In ähnlicher Weise soll es in diesem Beitrag um Krankheiten bzw. Symptome gehen, die man in einer Aufstellung durch eine Stellvertreterperson einführen kann und manchmal auch muss. Ich spreche hier von unpersönlichen (statt von überpersönlichen) Gestalten. Wenn wir eine Krankheit oder auch ein Symptom benennen, ist dies natürlich nicht wirklich eine Person, auch wenn eine Person als Stellvertreter dafür aufgestellt wird. Die Krankheit ist etwas eher Abstraktes, etwas Unpersönliches. Aber sie ist nicht in dem Sinne kollektiv, dass alle konkreten Menschen einer bestimmten Menschengruppe eben dazu gehören. Eine bestimmte Krankheit befällt bestimmte Menschen, andere aber nicht. Und auch die Ausprägung der Symptomatik kann individuell sehr verschieden sein.

Wann und warum stellt man Krankheiten oder Symptome auf?

Natürlich ist es oft so, dass eine Erkrankung oder Symptomatik überhaupt der Anlass für eine Aufstellung ist, das Anliegen der Aufstellung ist also dadurch bestimmt. Das bedeutet aber nicht zwingend in jedem Fall, dass man bei solchen Anliegen auch die Krankheit oder das Symptom als eigenständige Position einführen muss. Generell scheint mir, dass man sich bei Krankheiten / Symptomen in einer Aufstellung davor hüten sollte, hier zu „medizinisch“ zu denken oder die Aufstellung als eine Art von „Behandlung“ oder Therapie zu sehen[1].

Bei einer Aufstellung geht es ja – zumindest in meinem Verständnis – um die Bewegungen der Seele. Und das wäre die Leitfrage: Benötige ich in diesem konkreten Fall wirklich die Krankheit als Position in der Aufstellung, um die damit verbundene seelische Bewegung und die mögliche Lösung, wo also die Seele hin will, aufzuzeigen und somit der Person, um die es geht, eine Erleichterung zu verschaffen? Das ist nicht immer der Fall. Das mag erst einmal irritierend klingen. Man könnte ja denken: Ja, wenn es doch um die Krankheit geht, welche den Lebensvollzug einschränkt, wie kann es dann sein, dass die Krankheit nicht aufgestellt wird?

Die Krankheit / das Symptom und der Bezug zur Herkunftsfamilie

Sehr oft ist es so, dass bei einer schwerwiegenden Erkrankung der Bezug zur Herkunftsfamilie unmittelbar augenfällig ist. Wenn z.B. eine Frau an Brustkrebs erkrankt ist und man fragt: „Hatten andere Personen in deiner Herkunftsfamilie auch mit einer Brustkrebserkrankung – oder allgemeiner: mit einer Krebserkrankung überhaupt oder noch allgemeiner: mit einer schweren und lebensbedrohlichen Erkrankung – zu tun?“ und die Antwort dann wäre, dass sowohl die Mutter wie auch die Mutter Brustkrebs hatten und die Großmutter auch daran verstorben ist, dann ist die Hypothese einer systemischen Verstrickung sehr naheliegend.

In diesem Fall würde man vielleicht die Klientin, deren Mutter und deren Großmutter aufstellen. Und es könnte sich zeigen, dass die Seele der Klientin den Brustkrebs als Mittel benutz, um den weiblichen Ahnen nahe zu sein, um mit den weiblichen Ahnen verbunden zu sein und vielleicht auch, um etwas für die weiblichen Ahnen mitzutragen. Und die Lösung wäre vielleicht, dass die Klientin zu den weiblichen Vorfahren etwas sagt: „Ich sehe und achte euer schweres Schicksal!“ Und dann vielleicht an die Vorfahrinnen gewandt noch sagt: „Bitte, segnet mich, wenn ich vollständig gesunde!“ oder auch „Ich bleibe mit euch verbunden, auch ohne die Erkrankung!“

In so einem Fall benötigt man nicht unbedingt die Erkrankung selber als eigenständige Position in der Aufstellung, auch wenn natürlich in meinem Beispiel der Brustkrebs im Feld präsent ist. Aber wir müssen in diesem Fall vielleicht nicht den Brustkrebs als stellvertretende Wahrnehmung dabei haben, um etwas über die Intention des Brustkrebses zu erfahren.

Ich schreibe das hier bewusst vorsichtig in der Formulierung. Das Gesagte soll eben nicht bedeuten: Immer wenn der seelische Hintergrund der Erkrankung eine Verstrickung im Familiensystem bedeutet, eine „ich folge dir nach“ Struktur sich zeigt, man eben die Krankheit selbst oder die Symptomatik nicht aufstellt. Mitunter kann es sich auch in solchen Fällen als hilfreich oder gar notwendig erweisen, die Krankheit aufzustellen, weil sich darüber etwas näher klären lässt, in welcher Weise genau die Erkrankung für die Seele der Ahninnen wichtig war und vielleicht auch dann ähnlich bei der Klientin für die Seele wichtig ist.

Die Krankheit / das Symptom und der jetzige Lebensbezug

In anderen Fällen zeigt sich bei einem Aufstellungsanliegen vielleicht kein (deutlicher) Bezug zum familiären Herkunftssystem. Es erscheint eher so, als ob es für die Seele bei der Erkrankung darum ginge, einen inneren Konflikt zum Ausdruck zu bringen oder eine grundlegende Entscheidung in Bezug auf die Lebensführung zu befördern oder vielleicht auch, über die Erkrankung mit schicksalhaften Kräften in Berührung zu kommen. In so einem Fall schauen wir dann in der Aufstellung nicht auf die Herkunft der Person, um die es in der Aufstellung geht, sondern auf die jetzige Lebenssituation der Fokusperson in der Aufstellung. Welche Entscheidungen stehen hier an? Welche Entwicklungsprozesse und Reifungsstufen stehen vielleicht in Zusammenhang mit der Erkrankung? Wie ist es mit dem Lebenssinn der Fokusperson bestellt? Oder auch: Was wird durch die Erkrankung verhindert, was würde ich sofort tun, wenn die Erkrankung nicht wäre?

In solchen Fällen ist die Erkrankung oder das Symptom als Position in der Aufstellung oft sehr hilfreich. Man kann dann über die Stellvertreter, ihre unmittelbaren Reaktionen aber auch ihre Antworten auf Fragen, Hinweise darauf bekommen, was das eigentliche Anliegen der Erkrankung ist. Worauf möchte die Erkrankung mich aufmerksam machen? Was möchte die Erkrankung bei mir verhindern?

Ebenso spielt hier die Frage eine Rolle: Ist es überhaupt etwas „Persönliches“ in einem engeren Sinne? Geht es der Erkrankung wirklich im Kern um diese konkrete Person? Oder hat sich die Erkrankung im Lebensraum dieser Person niedergelassen, weil es nun mal „ihr Job“ ist, eine bestimmte Anzahl von Menschen zu befallen und diese Person gerade gut verfügbar war? So etwas zeigt sich in der Aufstellung, wenn man die Stellvertreterperson für die Erkrankung danach befragt, wie es ihr mit der Fokusperson in der Aufstellung geht.

Aber auch hier ist es so: Man kann hier keine Regel formulieren etwa in dem Sinne, immer wenn eine Erkrankung das Thema der Aufstellung ist und es nicht zentral um eine Familiensystemdynamik dabei zu gehen scheint, soll man die Erkrankung aufstellen. Auch ohne eine Verankerung des Themas in der Herkunftsfamilie und dem Ahnensystem könnte eine solche Aufstellung ohne eine explizite Stellvertreterperson für die Erkrankung auskommen. Es könnte sein, dass man vielleicht eine Entscheidungssituation aufstellt, also z.B. eine Stellvertreterperson für die eine Alternative und eine andere Stellvertreterperson für die andere Alternative der Entscheidung. Oder man stellt einen inneren Konflikt auf, der mit der Erkrankung zusammen hängt. Oder vielleicht stellt man auch „das Schicksal“ auf. Das wäre dann viel größer und umfassender als die konkrete Erkrankung.

Die Krankheit oder das Symptom aufstellen?

Ich habe bislang immer austauschbar über „die Krankheit“ bzw. „das Symptom“ gesprochen. Mein Eindruck aus den Aufstellungen ist: Dies ist nicht ganz dasselbe. Es macht einen Unterschied, ob ich die aufgestellt Gestalt als eine bestimmte Krankheit aufstelle oder als ein konkretes Symptom. Dieser Unterschied ist auch für die entsprechenden Stellvertreter wichtig. Mir scheint, es macht auch hier einen Unterschied, ob ich mich in eine Krankheit oder in ein Symptom einfühle.

Worin liegt nun dieser Unterschied? Das finde ich schwer zu beschreiben. Die Entscheidung in einer Aufstellung fällt ja auch nicht anhand von irgendwelchen Überlegungen, sondern in welche Richtung die Mitteilungen aus dem Feld gehen. (So sollte es zumindest sein.) In der Leitung einer Aufstellung spüre ich meist schon in der Vorbesprechung deutliche innere Signale, ob hier die Krankheit oder das Symptom aufgestellt werden soll. Aber ich könnte das in der Situation oft nicht wirklich begründen, warum das eine oder das andere.

Rückblickend kann ich vielleicht ein paar grobe Tendenzen beschreiben, aber das ist für mich noch sehr hypothetisch. Vielleicht fällt die Wahl eher auf das Symptom statt auf die Krankheit, wenn es zentral darum geht, was wird durch die Erkrankung verhindert oder auch wird durch die Krankheit ermöglicht für die von der Erkrankung betroffene Person? Dieser Aspekt wäre ziemlich „handlungsnah“. Es geht um die ganz praktische und alltägliche Lebensführung.    
Dagegen würde die Wahl vielleicht eher auf „Krankheit“ statt „Symptom“ fallen, wenn es eher um den Lebenssinn der Fokusperson geht oder auch, wenn über die Erkrankung sich so etwas wie eine „Reifungskrise“ ausdrückt, wenn also ein Mensch einen Übergang in eine grundlegend neue Lebensphase durchlebt und die Erkrankung bei der „Initiation“ in diese neue Lebensphase mitwirkt.

Aber das sind von meiner Seite aus vorläufige und tastende Versuche, den Unterschied zu beschreiben. Und die Beschreibung ist vielleicht nicht mehr als der Ausdruck meines derzeitigen Standes im Irrtum. Es ist für die Aufstellung auch nicht wichtig, zu verstehen, warum genau im Einzelfall entweder die Krankheit oder das Symptom aufgestellt wird, solange aus dem wissenden Feld klare Signale für das eine oder das andere vernehmbar sind.

Die Krankheit / das Symptom als Freund und Begleiter

Ein letzter Punkt scheint mir bei diesem Thema noch wichtig. Wenn in einer Aufstellung eine Krankheit oder ein Symptom über eine Stellvertreterperson aufgestellt wird, ist es in den allermeisten Fällen im Verlauf der Aufstellung so, dass die Fokusperson sich bei der Krankheit bzw. bei dem Symptom bedankt. Dies mag verwundern, weil man ja üblicherweise die Krankheit oder das Symptom eher „weg haben“ möchte. Wir möchten, dass die Krankheit oder das Symptom eben nicht in unserm Leben präsent ist. Vielleicht möchten wir die Krankheit oder das Symptom auch bekämpfen. Der Gedanke, mich bei diesem Gegner auch noch zu bedanken, erscheint bei dieser Intention absurd.

Und doch ist es so, dass der Dank an die Krankheit oder an das Symptom sehr oft eine entscheidende Rolle bei der Lösung spielt. Mit der Dankbarkeit, so sieht es in der Aufstellung oft aus, kann sich die Krankheit oder das Symptom dann auch zurückziehen.

Warum ist das so? Vielleicht können wir sagen, die Erkrankung hilft uns, auf ein bestimmtes Thema aufmerksam zu werden. Die Erkrankung unterstützt uns bei grundlegenden Lebensveränderungen. (Weil: Ohne dies würden wir diese Veränderungen nicht vornehmen.) Und letztlich ist eine schwerwiegende Erkrankung natürlich auch ein langfristiger Begleiter in meinem Leben, ein treuer Begleiter. Hört sich das zynisch an? Ich meine es nicht zynisch. Aber es ist ja eine Tatsache: Eine schwere Erkrankung ist eine Herausforderung! Und wie bei vielen anderen Dingen auch, die für uns schwer und herausfordernd sind, kann man zumindest rückblickend meist ganz gut angeben, warum und in welcher Weise mir diese Herausforderung genutzt hat. Vorausgesetzt natürlich, die Herausforderung war keine Überforderung. Aber auch dies kann meist nur rückblickend entschieden werden.

Ich hatte ja oben davon gesprochen, dass wir natürlich dazu neigen, die Erkrankung als Gegner bekämpfen zu wollen. Dies ist auch die medizinische Denkweise und hier hat sie auch eine gewisse Berechtigung. Vielleicht können wir die Gegnerschaft aber auch so sehen, wie einen Gegner z.B. im Schachspiel oder in einer Sportart wie z.B. Tennis. Wenn wir an diese Dinge denken, ist es überhaupt nicht absurd, wenn ich mich etwa nach einer interessanten Schachpartie bei meinem Gegner bedanke. Er, der Gegner, hat mich vielleicht in dieser Partie an die Grenzen meiner Fähigkeiten gebracht und vielleicht sogar ein kleines Stück darüber hinaus. Und für das, was ich da lernen durfte und für den Anreiz für meine Weiterentwicklung kann ich mich durchaus bedanken, da ist überhaupt nichts Absurdes dabei.
Diese Sichtweise würde natürlich auch bedeuten, das Leben insgesamt (auch!) als Spiel zu betrachten. Ein großes Spiel, ein durchaus oft sehr ernstes Spiel – aber eben doch auch ein Spiel. Und was wäre ein solches Spiel wie Schach ohne einen Gegner?


[1] In einem anderen Beitrag hatte ich etwas dazu geschrieben, ob man eine Familienaufstellung als Therapie ansehen kann bzw. ob Aufstellungen eine Therapiemethode sind. Hier hatte ich die Ansicht vertreten, dass Aufstellungen nicht wirklich eine Therapie oder Therapieform sind, aber profunde therapeutische Wirkungen haben können. Diese therapeutischen Wirkungen stellen sich aber paradoxerweise eher dann ein, wenn man sich von einem therapeutischen Denkansatz, in dem es um die Beseitigung einer Störung geht, löst.

Überpersönliche Gestalten in einer Aufstellung: Das Land als Heimat

Mitunter erweist es sich in einer Aufstellung als notwendig für ein bestimmtes Thema, nicht nur Stellvertreter für die Person selbst und z.B. wichtige Mitglieder der Herkunftsfamilie aufzustellen, sondern in die Aufstellung auch als Position etwas einzuführen, was überpersönlich ist. Dies kann etwa das Herkunftsland sein, wenn jemand oder seine Familie das Herkunftsland und dessen Kultur verlassen hat und in ein anderes Land und eine andere Kultur migriert ist.

Wenn wir solch eine Position in einer Aufstellung haben, spreche ich von „Gestalten“, um damit auszudrücken, dass es sich hier nicht um konkrete Personen handelt, sondern um etwas Überpersönliches oder etwas Kollektives.    
In einer Aufstellung geht es ja um Bewegungen der Seele und in unserer Seele – in jedem Menschen – hausen eben auch Gestalten und damit verbundene seelische Kräfte, die nicht oder nicht nur mit konkreten Personen aus meiner Herkunftsfamilie verbunden sind, sondern die einen übergreifenden Charakter aufweisen.

In diesem Beitrag will ich mich damit beschäftigen, in welcher Weise Länder in einer Aufstellung eine Rolle spielen (können). Andere solche überpersönlichen Gestaltungen in der Seele können die sogenannten „Archetypen“ sein. Dies sind mythologische Figuren, die wir aus Märchen, Sagen und Göttervorstellungen kennen und die im kollektiven Unbewussten von Menschen verankert sind. Ebenfalls unpersönlich bzw. überpersönlich kann man manchmal auch eine Krankheit als Position in eine Aufstellung einführen, oder auch ein Unternehmen oder eine Ideologie oder dergleichen, wenn es seelische Bedeutsamkeit hat und für das Anliegen, welches in der Aufstellung bearbeitet wird, wichtig ist.

Hier soll es aber – wie gesagt – um Länder gehen. Und dies muss ein wenig erläutert werden, weil hier Missverständnisse möglich sind, durch welche dann mit einem Mal alles falsch wird. Hier wäre zuallererst auf den Unterschied zwischen Land und Staat einzugehen.

Land und Staat

In einer Aufstellung interessiert uns die Wirkung, die ein Land auf meine Seele hat. Und hier müssen wir, nach dem Eindruck, den ich bislang in Aufstellungen gewonnen habe, zwischen Land und Staat unterscheiden. Ein Staat ist im Kern ein verwaltungstechnisches Konstrukt, welches bestimmt, welchen gesetzlichen Bestimmungen ich unterliege und welche Steuern ich an welche Institution zu zahlen habe, wenn ich in diesem Staat wohne. Ein Staat hat aber keine Seele und damit keine seelische Qualität in der Wirkung auf seine Einwohner. Anders sieht es mit einem Land aus, wenn wir damit das Lebensgebiet einer Bevölkerung meinen, die durch eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Kultur, gemeinsame Bräuche und vielleicht auch gemeinsame Geschichten und Mythologien verbunden ist. Dies hat eine seelische Qualität und somit auch seelische Auswirkungen, die wir vor allem damit verbinden, was wir unsere Heimat nennen.

Die seelische Wirkung von einem Land als Heimat ist natürlich auch über meine Familie vermittelt. Hier wäre vor allem die Muttersprache zu nennen, die wir erlernen in der frühen Kindheit. Allein das Wort „Muttersprache“ verweist ja sehr deutlich auf die Mutter, also auf einen Elternteil. In einem weiteren Sinn kann man vielleicht auch sagen, wo meine Heimat ist, wird dadurch bestimmt, wo die Gebeine meiner Vorfahren in der Erde liegen. So hat es zumindest Bert Hellinger einmal ausgedrückt. In der Familienaufstellung geht es bei den Vorfahren ja immer um meine Wurzeln, und die Gegend auf diesem Globus, wo die Vorfahren beerdigt sind, verwurzelt uns somit seelisch mit dieser Gegend, diesem Landstrich und den dortigen Sitten und Gebräuchen.

Auch hier sieht man – wie ich finde – den Unterschied zu einem Staat. Ein bestimmtes Land mit seinem Volk und seiner Kultur kann im Rahmen von geschichtlichen Prozessen zum Beispiel von einem anderen Staat erobert und in das Staatsgebiet eingegliedert werden. In der Seele bleibt das Land aber über Sprache und Kultur präsent. Um ein Beispiel zu nennen: Durch die historischen Teilungen hat es Polen in verschiedenen Phasen der Geschichte als Staat nicht gegeben, das Gebiet und seine Bevölkerung wurden staatlich z.B. zwischen Preußen, Russland und Österreich aufgeteilt. Trotzdem lebte das polnische Volk und sein Sprache und Kultur natürlich weiter. Und dieser Aspekt ist der seelisch relevante, Politik, Verwaltung und Staatsgrenzen interessieren die Seele nicht. (Obwohl sie natürlich praktisch im Alltagsleben große Auswirkungen haben können.)

Die Wirkungsweise von Ländern in der Seele

In einer Aufstellung behandeln wir Länder – im Sinne eines Sprach- und Kulturraumes – wie Personen. Das bedeutet, für die Aufstellung wird eine Stellvertreterperson ausgewählt, in der Aufstellung platziert und nach ihren Emotionen, ihrem Befinden und ihren Beziehungen zu anderen Positionen der Aufstellung befragt. Allerdings handhabe ich es meist so, dass ich Länder bzw. die Stellvertreter für Länder in einer Aufstellung auf einen Stuhl stelle. Da es sich hier um etwas handelt, was kollektiv ist, ist diese Gestalt in einer Aufstellung größer als jede einzelne Person und dies kann man eben dadurch adressieren, dass die Stellvertreterperson auf einem Stuhl steht.

Was sich in Aufstellungen zeigt ist, dass Länder gegenüber den ihnen zugehörigen Personen oft wie Eltern gegenüber ihren Kindern empfinden. Noch genauer: Eigentlich wie eine Mutter gegenüber ihren Kindern, weshalb meinem Eindruck nach Länder in einer Aufstellung auch eine deutlich weibliche Qualität haben.

Und was möchte eine Mutter normalerweise für Ihre Kinder? Sie möchte, dass es Ihnen gut geht, dass sie sich entwickeln können, dass sie ein erfülltes Leben haben. Ein Land leidet, wenn es der Bevölkerung – aus welchem Grund auch immer – nicht gut geht. In vielen Fällen – allerdings nicht immer – ist ein Land auch traurig, wenn seine Kinder, die Landeskinder, das Land verlassen oder verlassen müssen. Aber diese Trauer ähnelt eher dem manchmal durchaus etwas wehmütigen Abschiedsschmerz, den Eltern empfinden mögen, wenn ein Kind das Elternhaus verlässt um in die Eigenständigkeit des eigenen Lebens aufzubrechen. Und Länder erfreuen sich daran, wenn es den Landeskindern im fremden Land gut geht. Es erscheint mir manchmal so, als ob das Land sagen würde: „Durch dein Dasein und dein Wirken im fremden Land: Künde dort von mir!“. (Aber vielleicht ist das auch nur eine Vorstellung oder ein Phantasie, welche ich an den Prozess herantrage, ich bin mir da nicht ganz sicher.)

Was ich aber häufiger schon erlebt habe: Es ist einem Land sehr recht, wenn die Landeskinder, auch wenn sie ihr ganzes Leben oder einen großen Teil ihres Lebens in der Fremde verbracht haben, nach dem Ableben in der Erde dieses Landes beerdigt werden.

Das Kind mit Eltern aus zwei unterschiedlichen Kulturen

Nun gibt es natürlich auch oft die Situation, dass sich zwei Menschen mit unterschiedlichen Heimatländern zusammen tun und gemeinsam ein Kind (oder auch mehrere Kinder) haben. Wie verhält es sich hier? Hier habe ich es mehrfach erlebt, dass es sich gut auswirkt für diese Kinder, wenn sie auf die beiden Heimatländer der Eltern schauen und zu jedem Heimatland sagen können: „Ich bin eines deiner Kinder. Und ich gehöre aber auch – gleichzeitig – zu jenem anderen Land.“

In diesem Fall ist es auch nicht ganz unwichtig, wie die Beziehung der beiden Länder untereinander sich gestaltet. Ich habe da auch schon gewisse Eifersüchteleien zweier Länder erlebt bei der Frage, zu wem denn nun dieses Menschenkind „eigentlich“ oder zumindest stärker gehört.

Variation des Themas: Das Gebiet

Im Rahmen von Aufstellungen in den letzten knapp 25 Jahren habe ich aber noch ein anderes Phänomen beobachten können, das ähnlich wie ein Land / Volk / Kulturraum reagiert, aber ohne Bezug auf ein konkretes Volk bzw. eine konkrete Kultur.

Manchmal verhalten sich besondere Gebiete oder Regionen, etwas was man in einem Nationalstaat vielleicht als Provinz bezeichnen könnte, zu ihren Bewohnern und den Menschen, die dort geboren werden und aufwachsen wie Länder zu ihren Landeskindern.

Ein prägnantes Beispiel, dass ich bereits häufiger in Aufstellungen erleben durfte, wäre Schlesien. Diese Gegend fungiert öfter für Menschen als Heimat (im Sinne von: wo meine Vorfahren lebten und begraben sind) unabhängig von Sprache, Kultur und Nationalität. Oder besser gesagt: Übergreifend über Sprache, Kultur und Nationalität. Ich habe das schon bei hier in Deutschland lebenden Polen erlebt, wo sich als wirksamer Bezugspunkt in Bezug auf Heimat eben nicht „Polen“, sondern „Schlesien“ ergab. Und ganz ähnlich bei Deutschen, deren Vorfahren in Schlesien lebten und welche vielleicht geflüchtet sind oder vertrieben wurden.

Hier scheint es so, als ob die Gestalt Schlesien auch Landeskinder hat und sie ist diesen ihren Landeskindern gleichermaßen zugewandt, völlig unabhängig davon, ob die Sprache und Kultur dieser Landeskinder polnisch, deutsch oder auch böhmisch, tschechisch oder was auch immer sein mag. Die Zugehörigkeit dieses Gebietes Schlesien zu Staaten oder (König)Reichen war ja in der Geschichte höchst wechselhaft, mal gehörte das Gebiet zu Böhmen, mal zu Preußen, mal zur österreichischen K&K-Monarchie, mal zu Polen und mitunter in unterschiedlichen Aufteilungen zu Mehrerem gleichzeitig.

Vielleicht, aber das ist nur eine Vermutung, bildet sich eine solche eigenständige Identität einer Region, eigenständig gegenüber Ländern als Sprach- und Kulturräumen und dann eben auch eigenständig in der seelischen Wirksamkeit, besonders dann heraus, wenn diese Region für lange Zeit umkämpft und umstritten war und diese Region dann auch von unterschiedlichsten Volksgruppen besiedelt wurde?

Variation des Themas: Der Bauernhof

Ich habe es auch einmal in einer Aufstellung erlebt, dass das Land eine zentrale Rolle für die Aufstellung spielte, aber in einer sehr viel kleineren Einheit, was das Land anging. In dem Fall ging es nämlich um einen Bauernhof und das zugehörige zu bewirtschaftende Land. Der Mann, für den wir die Aufstellung gemacht haben, stammte aus einer Bauernfamilie und das Land, welches sein Vater als Landwirt bewirtschaftet, war schon seit Generationen im Familienbesitz. Eigentlich wäre dieser Mann als Nachfolger seines Vaters vorgesehen gewesen, also dass er den Hof erbt und den bäuerlichen Betrieb weiterführt.

Er hat sich dann aber dagegen entschieden und stattdessen das Dorf und den Bauernhof verlassen, um in einer Großstadt zu studieren. Hier hat er auch sehr erfolgreich einen sehr guten Abschluss gemacht, hatte allerdings danach die schwer erklärliche Situation, dass er trotz bester Qualifikation beruflich nie wirklich erfolgreich sein konnte in seinem Beruf.

In der Aufstellung hatten wir dann irgendwann einen Stellvertreter für den Bauernhof und das damit verbundene Land eingeführt in die Aufstellung. Und es ergab sich die Lösung dadurch, dass der junge Mann den Hof intensiv anschaute und ihm in etwa sagte: „Ich bin bei dir auf die Welt gekommen und groß geworden. Du hast viele meiner Vorfahren mit einem Einkommen und einem Lebenssinn versorgt. Dafür danke ich dir! Es fällt mir auch nicht leicht, mich von dir zu lösen, aber mein Lebensweg ist ein anderer. Mich ruft beruflich etwas Anderes.“ Der Hof war sehr traurig und äußerte etwas in der Art: „Ich wäre gerne weiter mit deiner Familie verbunden geblieben, mit dir in der nächsten Generation und vielleicht auch darüber hinaus mit einem Sohn von dir.“ Der entscheidende Schritt war dann, als der junge Mann den Hof bat: „Bitte segne mich, wenn ich in einem anderen Beruf erfolgreich werde!“ und der Hof diesen Segen, durchaus mit schwerem Herzen aber trotzdem von Herzen erteilte.

Hier wirkte auch das Land und die Heimat (und auch die Familientradition) deutlich in die Seele dieses Mannes hinein. Allerdings nicht in der größeren Form als Land und Heimat eines ganzen Volkes, sondern in der kleineren Form als Hof und Land und Heimat einer Familie.

Die seelischen Urwunden – Teil 9: Eine Rückschau

Ich beschließe diese kleine Serie von Blogbeiträgen zu seelischen Urwunden mit einer Rückschau. Wir starteten damit, einen Betrachtungsrahmen aufzuspannen. Es ging dabei um die Frage, was braucht ein Mensch, der als Baby auf die Welt kommt, um sich gut und seiner Eigenart gemäß zu entwickeln. Es ist ja so, dass der Mensch unter allen Säugetieren die längste Adoleszenz aufweist und damit auch eines großen Maßes an Betreuung und Fürsorge in der Entwicklung bedarf. Der Bezugsrahmen für das Thema seelische Urwunden war nun die Überlegung, wie sollte ein neuer Mensch am Anfang seiner Entwicklung idealerweise in dieser Welt willkommen geheißen werden?

Es soll hier noch einmal darauf hingewiesen werden, dass dieser Bezugsrahmen idealisiert ist. Und ein Ideal ist in der Realität nicht perfekt zu erreichen. Es geht auch weniger darum, etwa den Eltern oder der Gesellschaft oder wem auch immer die Schuld zu geben. Der Bezugsrahmen diente nur dazu, vor dem Hintergrund dieser Folie zu beschreiben, wenn man so will, was alles schief gehen kann. Noch genauer: Was alles auf einer grundlegenden, existenziellen Ebene schmerzlich vermisst werden kann. Wobei – auch dies sei hier noch einmal betont – wir von einem Fehlen von gedeihlichen Bedingen sprechen, welche wirklich schwerwiegend und dauerhaft sind, welche die natürlichen Bedürfnisse des Kindes bedeutsam verletzt, das Ur-Vertrauen signifikant in der einen oder anderen Weise erschüttert. Dann entsteht im Prozess des Heranwachsens eben eine Ur-Wunde, ein manchmal lebenslang bleibender wunder Punkt.

Vor dem Hintergrund dieser Folie wurden die folgenden sieben Urwunden in einzelnen Beiträgen beschrieben:

  • Verlassen werden / getrennt werden
  • Nicht gesehen werden, nicht beachtet werden
  • Verkannt oder verwechselt zu werden
  • Nicht oder nicht vollständig da sein dürfen (Du bist zuviel!)
  • Betrogen zu werden, hintergangen zu werden
  • Gedemütigt werden oder eklatante Ungerechtigkeit zu erleben
  • Nicht oder nicht genug geliebt zu werden.

Man kann hier natürlich fragen: Sind es genau diese sieben Urwunden, die es gibt? Oder auch: Hängen diese Urwunden nicht auch miteinander zusammen, was sicherlich richtig ist. Man könnte auch fragen: Ist nicht die letztgenannte Urwunde, nicht oder nicht genug geliebt zu werden, die zentrale Urwunde, alles andere nur konkrete Ausformungen davon? Dies mag alles sein. Es ist sicherlich kein trennscharfes oder gar diagnostisches System. Es sind beobachtbare Phänomene, die sich sicherlich auch anders benennen oder gruppieren lassen.

Urwunden als Entwicklungstraumata

Was hier mit der Bezeichnung Urwunde bezeichnet wurde, lässt sich auch als Trauma oder Traumatisierung beschreiben. Wir reden hier von Entwicklungstraumata im Gegensatz zum Schocktrauma. In so fern wäre für alle angeführten Urwunden etwas Generelles nachzutragen. Jeder einzelne Blogbeitrag zu jeder einzelnen Urwunde hat ja am Ende einen Teil, der sich damit befasst, was hier helfen kann. Und da gilt eben für alle erwähnten Urwunden gemeinsam, dass hier alle Methoden helfen, die sich mit der Heilung von Entwicklungstraumata beschäftigen. Und dies ist ein weites Feld …

Seelische Urwunden als spezifische Ausformung eines Entwicklungstraumas aufzufassen, bringt uns aber auch noch auf eine andere Spur, die für alle genannten seelischen Urwunden gleichermaßen gilt.

Überlebensstrategien statt Leben

Entwicklungstraumata bewirken, dass ein Mensch sich bestimmte Überlebensstrategien aneignet. Diese helfen, den existentiellen Mangel auszuhalten, ihn teilweise zu kompensieren. Diese Überlebensstrategien waren, zu dem Zeitpunkt, wo sie erlernt wurden, wichtig und meist notwendig. Viele dieser Überlebensstrategien bestehen darin, etwas zu verleugnen, zu verdrängen und sich unempfindlich zu machen gegen seelische Schmerzen. Diese Überlebensstrategien waren einmal eine Lösung. Sie waren oft die einzige Lösung, die einem Kind, besonders einem kleinen Kind, zur Verfügung stand.

Später, im Leben als Erwachsener, erweisen sich diese gelernten Überlebensstrategien aber oft als einschränkend und hinderlich, als dysfunktional. Um wirklich vollständig zu leben, müssen die Überlebensstrategien der Vergangenheit losgelassen werden. Und dies ist nicht so einfach.

Eine Schwierigkeit ist, dass wir uns mit unseren Überlebensstrategien sehr identifiziert haben. Wenn wir hier umlernen, unsere Spielräume erweitern und unser Leben vollständiger leben wollen, erleben wir – zumindest am Anfang – ein sehr unvertrautes Gefühl. Es kann sein, dass wir merken, es geht uns besser – aber gleichzeitig fühlt es sich irgendwie wie „Nicht-Ich“ an. Und das alleine ist beunruhigend. Es gibt einen Teil des Nervensystems, der unbedingt am Vertrauten festhalten möchte, auch wenn es negativ ist. Aber es ist eben bekannt und für diesen Teil des Nervensystems ist das Bekannte gleichbedeutend mit Sicherheit. Alles andere ist bedrohlich, weil es unbekannt ist. Jede ernsthafte Veränderung muss sich, zumindest eine Zeit lang, mit dem Gefühl mangelnder Vertrautheit konfrontieren und dieses Gefühl aushalten, den Rückstellkräften zum Alten widerstehen.

Eine andere Schwierigkeit liegt darin begründet, dass die Aufgabe einer Überlebensstrategie uns mit dem Schmerz von damals in Kontakt bringt. Der Sinn der Überlebensstrategie ist ja gerade, einen zu großen, nicht bewältigbaren Schmerz nicht fühlen zu müssen. Wenn eine Überlebensstrategie losgelassen wird, muss oft der Schmerz, der damals vermieden wurde zu fühlen, noch einmal gefühlt werden. Wir müssen diesem Schmerz erlauben, sich zu entfalten und durch unseren Körper zu fließen, wir müssen ihm erlauben, da zu sein. Wir müssen uns trauen, diesem Schmerz jetzt fühlend unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Das ist nicht leicht und bedarf oft einer kundigen Begleitung. Wir brauchen hier ein heikle Balance, in welcher mir in Kontakt kommen mit dem Schmerz, ohne dass er uns überwältigt und hinwegschwemmt. Anders formuliert: Was losgelassen werden soll, muss sich erst noch einmal vollständig zeigen (dürfen).

Eine Vorstellung vom guten uns vollständigen Leben

Wenn das Lösen bzw. Ablösen von einer einschränkenden Überlebensstrategie nicht einfach, manchmal auch schmerzhaft und in fast allen Fällen von Unsicherheiten begleitet ist, braucht es natürlich gute Gründe für diesen Prozess, welcher gleichzeitig eben auch ein Heilungsprozess bezogen auf eine Urwunde ist.

Manchmal wird man durch das Leben scheinbar dazu gezwungen. Dies kann eine schwere Erkrankung sein oder auch eine Veränderung in den Lebensumständen, welche ein anderes Ausmaß an Verantwortung gerade auch für andere Menschen mit sich bringt. Wir sind dann sozusagen am Ende der Tauglichkeit der Überlebensstrategie angekommen.

Für eine erfolgreiche Veränderung (im Sinne der Heilung einer Urwunde) ist es aber auch gut, neben der Notwendigkeit des Lösens vom Alten eine Aussicht auf die Vorzüge und Freuden des Neuen zu haben. Meist gibt es in der Vergangenheit eine Referenzerfahrung, wo wir für einen Moment aus der Überlebensstrategie herausgefallen sind und dadurch uns freier, glücklicher oder erfüllter gefühlt haben, auch wenn es vielleicht nur für einen kurzen Moment war. Solche Referenzerfahrungen, wo wir einmal von dem vollständigerem Leben gekostet haben, sind wichtig zu erinnern. Ebenso benötigen wir in die Zukunft hinein eine Vorstellung, vielleicht manchmal auch nur eine Ahnung, über die Fülle eines nicht nur auf das Überleben fokussierten Lebens.

Eine Metapher für die Heilung von seelischen Urwunden: Die seelische Narbe

Bei etlichen körperlichen Verletzungen entsteht am Ort der ursprünglichen Verletzung eine Narbe. Narbengewebe ist sehr fest und sehr wiederstandsfähig. Wenn wir auf eine solche Narbe an unserem Körper schauen, können wir uns erinnern: Das war damals, als ich diesen bestimmten Unfall hatte. Wir können uns erinnern, wie es damals war. Wir können uns vielleicht auch erinnern, welche Schmerzen wir damals hatten. Und manchmal kommt uns zu Bewusstsein, dass wir aus der Erfahrung etwas Wichtiges gelernt haben. Nur: Auch wenn wir uns an die damaligen Schmerzen erinnern können, fühlen wir jetzt nicht diesen Schmerz. Der liegt in der Vergangenheit, die Erinnerung ist nur eine Erfahrung, derer wir uns bewusst werden. Jetzt ist die Wunde verheilt und schmerzt nicht mehr.

Dies wäre das Bild, im übertragenen Sinne, für eine Heilung von seelischen Wunden. Wir können uns erinnern, wie es damals war und auch, wie schmerzhaft es damals war. Da muss nichts beschönigt oder verdrängt werden. Es war so, wie es war – und damals war es schmerzhaft. Und gleichzeitig wissen wir: Es ist vorbei, jetzt ist es anders. Im Zusammenhang mit seelischen Urwunden bedeutet dies vor Allem: Jetzt bin ich nicht mehr das kleine Kind, jetzt verfüge ich über andere Handlungsmöglichkeiten.

Vielleicht ein letzter Aspekt im Vergleich mit einer körperlichen Narbe: Viele Narben sind nicht unmittelbar sichtbar, sondern meist von Kleidung bedeckt und nur Menschen, die uns nahe stehen, bekommen die Narben zu Gesicht.    
Bei seelischen Narben, nachdem die Urwunde verheilt ist, kann es ähnlich sein. Nicht jeder muss meine seelische Narbe kennen und sehen, dass hier einmal eine seelische Wunde war, welche ihre Spuren hinterlassen hat. Aber wer mir (genügend) nahe steht, darf um die Narbe wissen, die auf eine alte Verletzung verweist.