Der zweite Archetyp: Die Sinnliche

Vorbemerkung: Dieser Text ist Teil einer 12-teiligen Serie über bestimmte Gestalten am Urgrund einer jeden menschlichen Seele, die wir in der Psychologie mit der Bezeichnung „Archetyp“ belegen. In jedem der 12 Teile wird jeweils einer der 12 wesentlichen Archetypen vorgestellt. Diese Gestalten gibt es bei jedem Menschen als innere Personen. Allerdings spielt nicht jede einzelne Gestalt in jedem Leben eine bedeutende Rolle. In Schauspiel meines Lebens gibt es natürlich Hauptrollen, aber eben auch Nebenrollen und Komparsen. Manche dieser kollektiven Urgestalten in mir kenne ich bis zu einem gewissen Grade. Andere sind mir völlig unbekannt und wenn sie dann doch einmal kurz in einer Szene auftauchen, bin ich überrascht.   

Manchmal erweist es sich in Familienaufstellungen als sinnvoll oder sogar notwendig, einen der Archetypen über Stellvertreter aufzustellen. Entweder, weil das Thema eng mit diesem Archetypus verbunden ist oder weil bei der Person, um die es geht, dieser Archetypus erkennbar dominant im Vordergrund steht. 
Die Beschreibungen des jeweiligen Archetyps sollen dich, liebe Leserin / lieber Leser, anregen, diese Gestalt in dir zu entdecken und vielleicht auch, mit ihr Kontakt aufzunehmen und in einen Austausch zu treten.

Einen Artikel darüber, was Archetypen allgemein sind und wie sie in unserer Seele wirken, findest du hier. Das dort gesagte gilt übergreifend für
alle Archetypen.

Widmung:

Diese Artikelserie ist meinem großen Lehrer Peter Orban gewidmet, der im Oktober des vergangenen Jahres verstorben ist. Lieber Peter, alles was ich über Archetypen meine verstanden zu haben, habe ich von dir. Wenn ich jetzt mein Verständnis der Archetypen beschreibe, möge dies ein Indiz dafür sein, dass deine Saat aufgegangen ist. Ein wenig lebst du weiter in denen, die von dir lernen durften.

Während der erste Archetyp, der Krieger, in seiner Natur etwas zutiefst männliches verkörpert ist der zweite Archetypus ebenso zutiefst weiblich in seinem Wesen. Wie immer bedeutet dies überhaupt nicht, mit diesem Archetyp kämest du nur in Berührung, wenn du eine Frau bist. (Ebenso wenig, wie der Archetyp des Kriegers einen nur etwas anginge, wenn man ein Mann sei.) Es kann allerdings sein, dass du, wenn du ein Mann bist, es schwieriger findest, diesen Archetyp in dir zu entdecken oder dich mit ihm anzufreunden.

Wie kann man sich dieser Wesenheit nähern, wie kann man sie in sich kennen lernen? Ein Zugangsweg geht über die Bilder. Lass vielleicht erst einmal das Titelbild dieses Beitrages und dann die unten stehende Bebilderung dieses Prinzips als Person, also das Bild "Die Geliebte" auf dich wirken. Das Unbewusste, die Seele, erfasst über die Bilder sofort und unmittelbar, worum es hier geht. Wenn wir es in Sprache ausdrücken wollen, ist der Prozess etwas langwieriger – und leider auch stärker mit der Gefahr von Missverständnissen verbunden. Wie gesagt: Schau erst einmal auf die Bilder.
Was sehen wir im Titelbild? Wir sehen die in der Mitte die süßen Früchte und ihren Genuss. Wir sehen im oberen Teil die Farbenpracht von Blüten und Landschaften, eben die blühenden Landschaften. Eine oft gewählte Verheißung. Im unteren Teil links sehen wir die Insignien des Reichtums: Gold, Geschmeide, eine Krone und einen güldenen Pokal. Diese Schätze werden durch einen Drachen bewacht. Wir sehen ebenso im unteren Teil links und rechts die Schätze der Erde, was aus den Wurzeln erwächst und geerntet, aber auch gehortet werden kann. Die Getreidesäcke, die Amphoren, vermutlich gefüllt mit Wein. Aber auch die mit Geld gefüllten Säcke, aus deren Mitte die Gebäude, die Technik, die Industrie einer städtischen Zivilisation entspringt. Kurz: Wie sehen die Verbindung von materiellem Reichtum und sinnlichem Genuss.
Was sehen wir auf der personifizierten Symbolon-Karte für dieses Prinzip? Wir sehen eine junge, eine attraktive Frau. Auch sie ist umgeben von den Insignien des sinnlichen Genusses, auch hier wieder die Früchte und der Wein, zu ihren Füßen das wohltemperierte Bad. Auch hier ist die Landschaft voller Blüten, Früchten und Farben, eine frühlingshafte Anmutung. Die junge Frau ist elegant gekleidet, geschmackvoll geschmückt und frisiert. Sie betrachtet sich in einem Spiegel, wohlgefällig. Eine Brust ist entblößt, eine starke erotische Konnotation durchzieht die Abbildung.

Soweit die Bilder. Auch bei diesem Archetyp werden wir uns als erstes damit befassen, wie wir uns die hier wirkenden Kräfte vorstellen können, wenn wir sie uns als Person vorstellen. Was ist dies für eine Person? Was treibt sie um? Aber auch die Personifizierung ist natürlich nur ein Bild, eine Vorstellung, etwas was wir vor unser geistiges Auge hinstellen, um es besser fassen zu können. Die Person verkörpert Prinzipien und Urkräfte. Dies ist die nächste Beschreibungsebene: Welche Aspekte des Lebens bringt dieser Archetyp zum Ausdruck und zur Geltung? Die Anregung für dich, liebe Leserin und lieber Leser, ist dabei: Womit gehe ich in Resonanz? Wie erlebe ich diese Prinzipien in meiner Innenwelt?

Auch dieser Archetyp hat eine jahreszeitliche Entsprechung, den Hochfrühling. Auch darüber wird zu sprechen sein. Ein weiterer – und für diesen Beitrag letzter – Zugang zu dieser inneren Person und den damit verbundenen Bestrebungen ist die Entwicklungsperspektive. Wie dient diese seelische Figur am Grunde meiner Seele dem Leben? Was bedeutet es, wenn ihre Bestrebungen gehemmt werden? Welche Kompensationsstrategien ergeben sich aus der Hemmung? Was bedeutet eine gesunde Entwicklung der Eigenschaften, die mit dieser seelischen Ur-Gestalt verbunden sind?

Der Archetyp „Die Sinnliche“ als Personifizierung

Die Bilder machen es sehr deutlich: Wir haben es hier mit einer Person zu tun, die durch und durch sinnlich, man könnte auch sagen genussfreudig ist. Es geht um die sinnlichen Eindrücke und den Genuss der Dinge in der materiellen Welt. Aber natürlich geht es nicht um beliebige Dinge, die Dinge müssen schön sein, sie müssen Wert haben. Die Dinge, mit denen ich mich umgebe, die ich besitzen muss, sollen über ihren Wert meinen Wert zum Ausdruck bringen. Die Dinge sagen: Ich bin wertvoll! Mein Selbst hat einen Wert, und zwar einen hohen. Etwas überspitzt: Ich bin ein Luxusgeschöpf! Ich bin attraktiv, ich bin es wert, begehrt zu werden. (Aber: Dessen muss ich mich immer wieder versichern, der Blick in den Spiegel ist notwendig.)
Hier wird etwas nicht ausgesprochen, aber angedeutet, dass wir ganz wertfrei betrachten müssen, sonst erfassen wir nicht, worum es hier geht. Wenn die Person sagt oder besser andeutet, ich bin wertvoll, ich bin ein Luxusgeschöpf, dann sagt sie auch: Mich muss man sich leisten können. Ja, ich stelle all die Freuden der Materie und all das Wertvolle zur Schau, um damit die dazu passenden Personen anzuziehen, in mein Leben zu ziehen. Ich habe all diese Dinge, ich habe einen erlesenen Geschmack – und wer mich haben will, sollte gut betucht sein. Sonst passt er nicht zu mir, nicht zu meinen Werten. (Noch einmal: Wir müssen das ohne Bewertung, vor allem ohne Abwertung betrachten.)
Mit der Attraktivität haben wir auch das Thema Erotik an Bord. Diese innere Gestalt sorgt nicht nur für – oder: sorgt sich nicht nur um – die Attraktivität im Allgemeinen, dass ich irgendwie gefalle, nein, es geht natürlich auch und nicht zu knapp um die sexuelle Attraktivität. Im Zeitalter der Dating-Apps und Dating-Plattformen gibt es ja auch die Redeweise vom sexuellen Marktwert(!), im Englischen "sexual market value", der sich in "matches", "likes" und Aufrufzahlen durchaus messen lässt. Diese innere Gestalt ist also nicht nur irgendwie sinnlich, sie ist auch zutiefst erotisch-sinnlich, der Bereich der Erotik wird von dieser Gestalt verwaltet, er gehört zu ihrem "Geschäftsgebiet". Aber auch hier: Dies wird angedeutet, durchaus deutlich angedeutet, aber natürlich nicht ausgesprochen. Wie ja überhaupt die Erotik die Andeutung ist, und nicht das Explizite. (Das Explizite wäre hier z. B. die Pornografie, und das ist ein ganz anderer Bereich als die Erotik.)

Die Personifizierung als "Die Sinnliche"

Die Personifizierung auf der Symbolon-Karte trägt den Titel "Die Geliebte". Ich habe ihr als Rollenbezeichnung im Theaterstück des Lebens die Bezeichnung "Die Sinnliche" gegeben. Aber das sind nur feine Unterschiede in der Akzentsetzung. Eine noch treffendere, allerdings veraltete und daher nicht sofort verständliche Bezeichnung wäre vielleicht "Die Kurtisane" oder noch älter "Die Hetäre".


Karte "Die Geliebte" gezeichnet von Thea Weller
Aus: Peter Orban, Ingrid Zinnel, Thea Weller: Symbolon. Das Spiel der Erinnerungen. [Kartenset und Erläuterungsbuch]. Kailash-Verlag 20063

Es geht hier also um die materiellen Güter und die Sinnlichkeit, den sinnlichen Genuss. Aber was leistet dieser Archetyp für das Leben? Er sichert.

Vergleichen wir dieses Grundmuster mit dem erstem Archetyp, dem Eroberer des Neulandes, dem Pionier, so können wir hier die notwendige Ergänzung sehen. Das gewonnene Neuland muss gesichert werden, es muss Besitz werden. Dazu muss ich Grenzen setzen, Zäune ziehen.
Erst wenn ich im neu gewonnenen Land mich verwurzeln kann, kann ich sagen: "Dies ist jetzt meins" oder auch "Dies ist jetzt meine Heimat". Der Archetyp sorgt also für die Konsolidierung des Neuen, er sichert den Bestand. Der erste Archetyp kann das nicht. Der muss nach jeder gewonnen Schlacht immer neu aufbrechen, den nächsten Horizont erkunden. Er kann nicht sesshaft werden. Dieser Archetyp kann das.

Erst durch diesen Archetyp können die Früchte des Erreichten gewonnen werden. Wir sind hier im Element Erde, hier werden wir bodenständig, hier wird das Erreichte und Gewonnene konserviert. Hier finden dann auch die Grenzsetzungen statt, die Unterscheidung zwischen Dein und Mein. Durch die offene Landschaft darf jeder latschen, mit der Markierung als "mein Besitz" kann ich bestimmen, wer in meinem Bereich Einlass erhält und wer nicht.

Natürlich erhält nur Zugang, wer zu mir passt, zu meinen Werten und meinem Lebensstil. Wenn der Krieger sagt "ich erobere" sagt diese Gestalt hier "ich besitze". My home is my castle heißt es im englischen. Erst mit der Abgrenzung und der Besitzsicherung ist der Genuss in Ruhe möglich.

Das Materielle dient also (auch) der Sicherung. Die Bevorratung mit materiellen Dingen verleiht mir die Stabilität gegen die Wechselfälle des Lebens. Und ja, auch das Hamstern und das Horten fällt in diese Domäne. Diese innere Gestalt hält gerne fest am einmal Erworbenen, sie trennt sich nicht so leicht von den Dingen. Auch hier erleben wir die Ergänzung zum ersten Archetyp. Der Eroberer und Abenteurer muss mit leichtem Gepäck reisen, er darf sich nicht zu sehr an die Dinge binden. Die Sinnliche als Archetyp hängt dagegen durchaus gerne ihr Herz an die Dinge, dass macht sie beständig aber natürlich auch weniger beweglich. Hier wird die Arbeit am Sesshaft-Werden geleistet, hier entstehen die Zivilisation, die Kultur und das Dauerhafte. Wie erwähnt entsteht auch hier der Besitz, etwas was hinterlassen und vererbt werden kann, was es in einer nomadischen Lebensweise nicht gibt und auch nur hinderlich wäre. Und noch etwas ist damit verbunden: Die Bequemlichkeit und auch die etablierten Gewohnheiten und Routinen.

Kommen wir noch einmal auf die Person – oder besser: die Personifikation des hier gemeinten Prinzips – zurück. Die Symbolon-Karte ist ja betitelt mit "Die Geliebte". Wir könnten aber auch sagen, dass es hier um "Das Geliebte" geht. Es geht um den Besitz und den Wohlstand, an dem ich hänge. Was ich als "meins" bezeichne, damit identifiziere ich mich auch. In gewisser Weise ist diese Person auch ihr Besitz. Es gab einmal eine Werbung für Geldanlagen, wo ein Mann einen anderen Mann beeindrucken will, in dem er Fotos auf dem Tisch aufblättert: "MEIN Auto, MEIN Boot, MEIN Haus, MEIN Pferd, MEIN ….(was auch immer)". Ja, das ist Besitzerstolz. Und es ist gleichzeitig auch kalkuliertes Eindrucks-Management. Der andere soll sehen: Dies alles habe ich. Dies alles habe ich erreicht. Dies sind die Früchte meiner Arbeit. (Oder eben meiner schlauen Anlagestrategie, wie die Werbung verheißt.) Auch die Redeweise im Volksmund "haste was, biste was" verweist auf diesen Zusammenhang. Ich bin, was ich habe. Deswegen ist das Haben wichtig. Nur wenn ich habe, und zwar viel habe, gelte ich etwas. Womit wir wieder beim Wert sind, beim Selbstwert, der hier zur Geltung kommt oder zumindest kommen soll.

Ja, natürlich ist dies auch ein Käfig, in dem man festsitzen kann, aber es ist eben ein goldener Käfig, ein schön anzuschauender Käfig, ein Käfig, in dem man es sich behaglich einrichten kann. So behaglich, dass man fast vergessen kann, in einem Käfig zu sitzen. In spirituellen Kreisen hat diese innere Person keinen guten Leumund – und doch kommt niemand ohne sie aus.

Die mit dem Archetyp verbundenen Wesenszüge und Energien

Wenden wir uns zusammenfassend noch einmal ein wenig ab von der Vorstellung einer Person und wenden wir uns stattdessen den Prinzipien und Energien zu, welche diese Person verkörpert.

Der Besitz

Es geht hier um den Besitz und um das Materielle, im günstigen Fall in Form von Wohlstand oder gar Reichtum. Aber: Hier ist nicht der abstrakte Reichtum gemeint in Form von Zahlen auf einem Konto. Nein, hier muss der Reichtum sich in konkreten Dingen ausdrücken, mit denen ich mich umgebe und die vor allem für andere sichtbar sind. Und die Art der Dinge ist hier wesentlich. Wenn ich mir Gemälde an die Wände meiner Wohnung hänge, ist es entscheidend, ob es sich um Heiligenbilder aus der Renaissance, französische Impressionisten oder abstrakte Kunst handelt.
Es reicht nicht, dass es wertvoll im Sinne von teuer ist. Es muss auch zu meinen Werten, meinem (Lebens)Stil, passen es muss mich ausdrücken. (Oder zumindest meine Vorlieben oder auch meine Bildung.)

Das Eigene / Der Selbstwert

Die Dinge, mit denen ich mich umgebe, meine Kleidung, meine Wohnungseinrichtung, mein Fahrzeug usw. müssen etwas über mich aussagen. Sie müssen ausstrahlen, was meine Individualität und Unverwechselbarkeit ausmacht. Die Dinge müssen davon sprechen, worauf ich Wert lege und was mir Wert (Selbstwert!) verleiht. Ich muss mich in meinen Dingen spiegeln können.

Die Attraktivität

Wenn die Dinge ausstrahlen, worin mein Wert besteht, machen sie mich attraktiv. Sie ziehen diejenigen Menschen in mein Leben, die mit meinen Werten kompatibel sind und halten die inkompatiblen Menschen auf Distanz. Die sexuelle Attraktivität ist ein Teil dieses Spiels – und dies gilt beileibe nicht nur für die Frauen.

Das Grenzen setzen

Der Besitz, die In-Besitz-Nahme der Materie bedeutet auch das scharfe setzten von Grenzen. Hier wird unterschieden, was ist meins und was ist deins. Hier wird auch die Grenze gesetzt, wer darf in diesem Raum "Bestimmer" sein.

Das Bewahren

In diesem Archetyp finden wir das Prinzip der Beständigkeit. Besitz hat nur Wert, wenn er von Dauer ist. Wir finden hier ein zutiefst konservatives Motiv. Dieses Prinzip (und damit die Teilperson in mir) arbeitet gegen den Verfall, so gut es nur geht. Von der Arbeit gegen den Verfall der körperlichen Attraktivität leben ganze Industrien, nicht nur die Kosmetikindustrie.

Das Weibliche

Das Weibliche in der Form der Sinnlichkeit ist ein aufnehmendes Prinzip, ist Yin, nicht Yang. Die Dinge in der materiellen Welt wirken über die Sinne auf mich ein, in diesem Prinzip nehme ich mit allen Sinnen auf. Ich setze mich den sinnlichen Einwirkungen mit der größtmöglichen Fläche aus. Hier gilt: Mehr ist mehr! Hier geht es um die Fülle. Am Rande sei vermerkt: Das aufnehmende Prinzip im Übermaß macht aus der Fülle die Völlerei. Die Betonung liegt jedenfalls auf dem Nehmen, nicht dem Geben, sie liegt auch mehr auf dem Eindruck als auf dem Ausdruck.

Der Jahreszeitliche Bezug dieses Archetyps

Auch bei diesem Archetyp finden wir eine Entsprechung zu einem bestimmten Punkt im Zyklus der Jahreszeiten. Es geht hier um den Hochfrühling, um die Zeit von etwa dem 20. April bis etwa dem 20. Mai. Der vorangegange Zeitraum markierte den Beginn des neuen Lebens, den ersten noch vereinzelten Durchbruch des frischen Grüns. Hier treten wir jetzt ein in die Fülle des neuen Lebens. Es blüht überall, nach und nach kleidet sich jeder Ast und jeder Strauch in ein neues Blättergewand. Die Fülle der Farben, Formen und Gerüche bietet dem Sehen, Riechen, Fühlen und Schmecken ein reiches Angebot. Und nicht zuletzt verheißt die Fülle der Blüten die Reichhaltigkeit der späteren Ernte.

Astrologische Entsprechung:

In der Astrologie entspricht dieser Archetypus dem 2. Haus, dem Tierkreiszeichen Stier und dem Planeten Venus.

Der Entwicklungspfad dieses Archetyps

Es ist leicht, sich über diesen Archetyp und seine konkrete Ausprägungsformen zu erheben, sie zu verachten. Man könnte zum Beispiel den Vorwurf der Eitelkeit gegen diese innere Person in Anschlag bringen, wo immer sie sich zeigt. Und doch haben wir gesehen, wir brauchen diese innere Person. Ohne sie gibt es keinen Beständigkeit und ohne sie gilt für jede Eroberung: Wie gewonnen, so zerronnen.

Wir benötigen die Fähigkeit zur Abgrenzung, zur Unterscheidung zwischen Ich und Du, zwischen meins und deins. Und diese Grenzziehung wird von dieser inneren Person verwaltet. Wir brauchen als inkarnierte (verkörperte) Seelenwesen diese innere Person, um im eigenen Körper mit allen seinen Vorzügen und Mängeln wirklich uns heimisch einzuwohnen. Und wir benötigen auch in einem gewissen Maße den Besitz, die Sicherheit (die durchaus körperliche Sicherheit), um in der Welt der Materie heimisch werden zu können, uns eine Heimstatt schaffen zu können. Und wir müssen den angeeigneten Besitz auch bewahren können. Es bedarf im Leben auch der Entwicklung einer Genussfähigkeit, der Entwicklung von Lebensfreude, ohne die alles schal wird.
Und nicht zuletzt dient diese innere Person dem Leben, dem Fortbestand des Lebens, der ohne Sexualität nicht denkbar ist. Zwar gehört die Sexualität selber nicht zum Zuständigkeitsbereich dieses Archetypen, dafür sind andere Urgestalten zuständig, die wir noch kennen lernen werden. Aber diese innere Person verwaltet den Bereich der Erotik, der Attraktivität und der Anziehung als notwendige Hinführung zur Sexualität.

Die Hemmung der Impulse dieses Archetyps

Die Hemmung der Energien dieses Archetyps führen zu Abgrenzungsschwierigkeiten und damit zu einem schwachen Ich-Gefühl, zu einer mangelhaften Ausformung der eigenen Identität und des Selbstwertes. Auch können wir dann kein gutes Verhältnis zum materiellen Besitz und zur Sicherung der Lebensgrundlagen entwickeln, es droht Armut und Besitzlosigkeit. Wir können dann nicht mit unseren gegebenen Talenten wuchern, wozu uns ein Gleichnis im neuen Testament durchaus auffordert. Und eine wenig entwickelte Genussfähigkeit geht nicht nur zu Lasten der Lebensfreude, wer nicht genießen kann, wird auch für andere oft ungenießbar.

Die Kompensation der defizitären Hemmung

Nicht selten werden die Einschränkungen durch die gehemmten Impulse dieses Archetyps in ungesunder Weise kompensiert. Hier finden wir eine übersteigerte Form des Luxus oder die Verschwendung. Auch bestimmte Formen des Reichtums wären hier zu nennen, die man als exzessiven oder obszönen Reichtum bezeichnen könnte. Gemeint ist die Form des Reichtums, bei der es nicht um die damit möglichen sinnlichen Genüsse geht, sondern um den Reichtum um des Reichtums willen. Wenn es nur darum geht, reicher zu sein als jemand anderes, höher platziert zu sein in der entsprechenden Forbes-Liste als alle anderen, dann haben wir es mit der ungesunden Kompensation zu tun. Auch die Völlerei erwähnten wir bereits, diese Fehlentwicklung der Genussfähigkeit tötet den wirklichen Genuss mehr, also unsere Sinne und damit die Sinnesfreuden zu verfeinern und zu intensivieren.

Die gesunde Entwicklung der archetypischen Energien

Die gesunde und entwicklungsfördernde Entfaltung dieses Archetyps zeigt sich in einer natürlichen Ich-Stärke und in einem klaren Selbstbewusstsein. Sich seiner selbst bewusst zu sein bedeutet, ich weiß was meine unverwechselbare Individualität ausmacht. Ich weiß dann, was zu mir passt und was nicht zu mir passt. Mit diesem gefestigten Ich muss ich mich weder selber überhöhen noch anderen Menschen abwerten noch fremden Maßstäben hinterherhecheln.

Wenn ich wirklich weiß, wer ich bin und welche Werte wirklich meine eigenen sind, dann bin ich auch nicht mehr steuerbar durch fremde Vorstellungsbilder, durch Ideale wie ich sein müsste, um attraktiv zu und etwas zu gelten.

Aber wer kann das schon von sich sagen …

Bild: "Wider von Mabel Amver (Pixabay Inhaltslizenz)

Der erste Archetyp: Der Krieger / Das Neugeborene

Vorbemerkung: Dieser Text ist Teil einer 12-teiligen Serie über bestimmte Gestalten am Urgrund einer jeden menschlichen Seele, die wir in der Psychologie mit der Bezeichnung „Archetyp“ belegen. In jedem der 12 Teile wird jeweils einer der 12 wesentlichen Archetypen vorgestellt. Diese Gestalten gibt es bei jedem Menschen als innere Personen. Allerdings spielt nicht jede einzelne Gestalt in jedem Leben eine bedeutende Rolle. In Schauspiel meines Lebens gibt es natürlich Hauptrollen, aber eben auch Nebenrollen und Komparsen. Manche dieser kollektiven Urgestalten in mir kenne ich bis zu einem gewissen Grade. Andere sind mir völlig unbekannt und wenn sie dann doch einmal kurz in einer Szene auftauchen, bin ich überrascht.   

Manchmal erweist es sich in Familienaufstellungen als sinnvoll oder sogar notwendig, einen der Archetypen über Stellvertreter aufzustellen. Entweder, weil das Thema eng mit diesem Archetypus verbunden ist oder weil bei der Person, um die es geht, dieser Archetypus erkannbar dominant im Vordergrund steht. 
Die Beschreibungen des jeweiligen Archetyps sollen dich, liebe Leserin / lieber Leser, anregen, diese Gestalt in dir zu entdecken und vielleicht auch, mit ihr Kontakt aufzunehmen und in einen Austausch zu treten.

Einen Artikel darüber, was Archetypen allgemein sind und wie sie in unserer Seele wirken, findest du hier. Das dort gesagte gilt übergreifend für
alle Archetypen.

Widmung:

Diese Artikelserie ist meinem großen Lehrer Peter Orban gewidmet, der im Oktober des vergangenen Jahres verstorben ist. Lieber Peter, alles was ich über Archetypen meine verstanden zu haben, habe ich von dir. Wenn ich jetzt mein Verständnis der Archetypen beschreibe, möge dies ein Indiz dafür sein, dass deine Saat aufgegangen ist. Ein wenig lebst du weiter in denen, die von dir lernen durften.

Den Archetypen kann man sich unterschiedlich nähern in der Beschreibung. Ich mache es hier in dieser Artikelserie über mehrere Wege. Einerseits haben wir die Bilder, welche den Archetyp in eine gestaltete und erkennbare Form bringen. Die Bilder werden in der Tiefe von der Seele sofort verstanden. Mehr auf den Verstand zielen die Texte. Hier werde ich einerseits beschreiben, wie wir uns die Verkörperung des Archetyps als Person vorstellen könnten. Was für eine Art Mensch wäre dies, was ist das Anliegen dieser Person, was treibt sie an? Zum anderen werde ich textliche auf einige Wesenszüge und Qualitäten des Archetyps eingehen, besonders dort, wo sie leicht missverstanden werden könnten. Und Abschließend wird der Archetyp in den Zyklus der Jahreszeiten eingeordnet verbunden mit einigen Hinweisen auf Heilungswege, welche mit diesem Archetyp verbunden sind.

Der Archetyp „Der Krieger / Das Neugeborene“ als Personifizierung

Die Artikelserie zu den 12 wesentlichen Archetypen startet – wie sollte es anders sein – als Erstes mit einem „Ur-Typus“, der genau diese Qualität des Beginns, des Neuen, der Initiative und des Anfangs beinhaltet. In der Betitelung habe ich diese Deutungsebene – wir stellen uns den Typus als Person vor, damit wir eine lebendige Vorstellung bekommen – doppelt benannt, nämlich als Krieger und als das Neugeborene. Hier könnte eine doppelte Irritation beim Lesen auftreten. Einerseits mag man sich fragen, wie die Gestalten des Kriegers und des Neugeborenen zusammen passen. Und zum zweiten mag eben die Gestalt des Kriegers für viele eine sein, die durchaus sehr ambivalente Gefühle auslöst. Dies gilt es also zu erklären.

Die Personifizierung als Krieger

Der Krieger steht für den Mut, zu kämpfen. Sei es, dass um die Wahrung der Grenzen und den Schutz der Meinigen gekämpft wird, sei es, dass es um die Gewinnung und Aneignung von Neuland gekämpft wird.

Karte "Der Krieger" gezeichnet von Thea Weller
Aus: Peter Orban, Ingrid Zinnel, Thea Weller: Symbolon. Das Spiel der Erinnerungen. [Kartenset und Erläuterungsbuch]. Kailash-Verlag 20063

Die Grundeigenschaften sind Entschiedenheit und Entschlossenheit, der rückhaltlose Einsatz aller Kräfte. Wenn dieser Archetyp in uns auftaucht, ist alles Zögern, alles Bedenken aber auch alle Furcht hinter uns gelassen. Das Wesen des Kriegers ist die Tat, damit auch die Tatkräftigkeit. Hier bin ich ganz. Und ich bin ganz in der Tat aufgehend. Es gibt nichts anderes als die Tat. Hier bin ich ganz in meiner Kraft, in meiner vollen Größe und im Vollbesitz meiner Fähigkeiten. Hier wird alles gewagt, alles eingesetzt, worüber ich verfügen kann. Das Ergebnis ist unsicher. Hier geht es um buchstäblich Alles. Es geht um Leben oder Tod, um Bestehen oder Untergehen. Man könnte auch sagen: Es geht um das reine Sein. Hier muss ich mich beweisen, wer ich wirklich bin. Der Krieger atmet die Tat, er ist ein Täter durch und durch. (Auch hier achte man auf die emotionale Assoziation, die mit dem Wort „Täter“ verbunden ist.)

Nun liegt ja im Wortfeld des Kriegers auch der Krieg. Hier könnte eine Irritation liegen, warum man sich vielleicht mit diesem Archetypus nicht so recht anfreunden mag. Wir verbinden – in Deutschland ganz besonders – mit Krieg natürlich auch Leid und Zerstörung. Der Krieger wäre demnach der Bringer von Leid und Zerstörung.

Hier ist aber etwas ganz wichtig zu verstehen, sonst erfassen wir das Wesen dieser inneren Gestalt nicht. Der Krieger ist nicht der Soldat. Der Soldat ist ein Mensch, der freiwillig oder gezwungen in einer Armee als Organisation das „Kriegshandwerk“ ausübt. Diese Armeen dienen bestimmten, meist politischen, Zwecksetzungen. Der Soldat dient diesen Zwecken und Interessengruppen, manchmal halbherzig, manchmal fanatisch und verblendet, manchmal auch verroht.

Der Krieger dient keinen fremden Zwecken. Der Krieger kämpft nur für das Seine. Der Krieger kämpft auch nicht, weil er den Kampf liebt. Er kämpft nur, wenn er muss, dann aber vollständig. Er ist nicht geleitet durch Hass auf das, wogegen er kämpft, ihn leitet die Notwendigkeit. Eine Not muss gewendet werden. Die Bücher von Carlos Castaneda erzählen von den Unterweisungen durch den Schamanen Don Juan, mit dem Ziel den (inneren) Krieger in Carlos Castaneda zu entwickeln – nicht um Kriege zu führen, sondern um „den Weg des Herzens“ gehen zu können. Die Kämpfe, die hier geführt werden, sind im Wesentlichen die Kämpfe mit den inneren Widersachern. Es geht um den Kampf mit allem, was mich davon abhält, das Leben vollständig anzunehmen, mit allen Geheimnissen und Gefahren. An einer Stelle lässt Castaneda seinen Schamanen-Lehrer sagen: Der Krieger sei sich der ihm unergründlichen Geheimnisse bewusst und sich auch seiner Pflicht bewusst, wenigstens zu versuchen, diese zu enträtseln. So könne er seinen rechtmäßigen Platz unter diesen Geheimnissen einnehmen und sich selbst als ein solches betrachten. Eine ähnliche Konnotation des Kriegers finden wir auch in vielen Schulen der Kampfkunst und so wäre die Personifikation des Kriegers zu verstehen, wenn wir uns dem Wirken dieses Archetyps in uns nähern wollen.

Die Personifizierung als das Neugeborene

Warum habe ich aber als zweite Personifizierung hier noch das neugeborene Baby genannt? Wie passt dies in das Bild. Das Neugeborene verkörpert im wortwörtlichen Sinne den Wesenszug der Unmittelbarkeit. Das Neugeborene erlebt sich als Körper und mit allem, was ihm widerfährt, vollständig. Wenn das Baby Hunger verspürt, dann ist es in dem Moment dieser Hunger – und nichts anderes. Das Baby erlebt sich auch noch nicht getrennt von der (Um)Welt, die es umgibt, es ist noch eins mit der Welt, mit seiner Welt. Es gibt noch kein „Du“, weil noch gar kein „Ich“ entwickelt ist. Das Baby ist reine körperliche Existenz. Alles ist, wie es ist – und das Baby reagiert unmittelbar darauf. Es gibt hier noch keine Gedanken, keine Bewertungen, keine Pläne. Es gibt nur das Sein, in Einheit mit allem, was mich umgibt. Hier ist noch kein Ego.

Diese Unmittelbarkeit und dieses Eins-Sein als reines Sein und eben auch vor allem das Sein als rein körperliche Existenz, als Verkörperung, das ist etwas, was das Neugeborene noch nicht verloren hat, es ist das Ursprüngliche. Das Baby wird im Laufe seiner Entwicklung diese Einheit verlieren müssen, es geht nicht anders. Die Aufgabe des Kriegers ist es dann, ab einem bestimmten Punkt der Entwicklung, wieder zu dieser Einheit zurückzufinden. Das ist der Kampf, den der Krieger führt. Diesen Weg gibt es nicht, er muss im Beschreiten des Weges erst geschaffen werden. Über den Weg wissen wir nur eines: Er führt nach Hause.

Die mit dem Archetyp verbundenen Wesenszüge und Energien

Um uns dieser Wesenheit in uns noch weiter zu nähern, seien noch wichtige Qualitäten dieses Archetyps beschrieben.

Die Furchtlosigkeit / Das Wagnis

Man könnte versucht sein, eine Qualität des Kriegers als Mut zu beschreiben. Mit schein allerdings, Mut trifft es nicht ganz. Mut benötige ich, wenn es gilt, eine Angst oder eine Furcht zu überwinden. Der Krieger erwacht aber genau betrachtet erst, wenn der Mut seine Arbeit geleistet hat. Hier habe ich die Furcht hinter mir gelassen, hier gibt es nur noch die Tat, die körperliche Betätigung, das Anspannen aller Kräfte. In der Tat gibt es keinen Platz für einen Gedanken, also auch keinen Gedanken an die negativen Folgen der Tat. Ebenso wenig gibt es einen Gedanken an das, was es im Kampf oder in der Tat zu gewinnen gibt. Das mag vor der Tat eine Rolle spielen und auch nach der Tat wieder auftauchen. (Aber da wirkt dann nicht mehr die innere Gestalt des Kriegers, da hat dann ein anderer Archetyp das Ruder übernommen.)

Die Absichtslosigkeit / Die Gleichgültigkeit

Ganz ähnlich wie beim Wagnis ist es so: Wenn der innere Krieger am Werke ist, gibt es keine Absicht. Das erscheint vielleicht erst einmal kaum glaubhaft. Möchte der Krieger den nicht den Kampf gewinnen? Ist das keine Absicht? Natürlich ist das eine Absicht. Aber: Die Absicht wirkt nur, solange es gilt, den Krieger auf den Plan zu rufen. Hat der Kampf einmal begonnen, gibt es nur noch den Kampf und das Bestehen in ihm. Die Absicht verschwindet hier, sie würde nur vom gegenwärtigen Moment und der gerade nötigen Bewegung ablenken. Es ist wie bei der Zen-Übung des Bogenschießens: Wer im Moment, wo der Pfeil von der Spannung des Bogens entlassen wird, an das Ziel denkt, wird das Ziel verfehlen. (Zumindest das Ziel der Zen-Übung – selbst wenn der Pfeil treffen sollte.) Und in diesem Sinn ist der Krieger auch Gleichgültig. Mit Gleichgültigkeit ist hier nicht „Wurschtigkeit“ gemeint. Sondern: Im Kampf denke ich nicht an den Ausgang, nicht an den möglichen Gewinn und den möglichen Verlust. Auch dies würde nur Ablenken von dem, was zu tun ist. Es ist Gleichgültigkeit im wortwörtlichen Sinne: Jeder Ausgang des Kampfes ist gleichermaßen gültig.

Die Rücksichtslosigkeit

Auch hier mag die erste Assoziation negativ belegt sein. Es ist aber im reinen Wortsinne gemeint. Der Krieger schaut nicht zurück. Er schaut nur nach vorne, was vor ihm liegt. Was mich überhaupt hier hin gebracht hat, dass ich jetzt kämpfe oder dass sich jetzt hier ein Gegner zeigt, ist bedeutungslos. Es gibt nur das große JETZT. Es gibt hier kein Bedauern von vergangenen Niederlagen oder Verfehlungen und auch keine Erinnerung an vergangenen Schmerzen. Wenn es sie gibt, bin ich nicht im Modus des Kriegers.

Allerdings, so viel muss gesagt werden: Natürlich verweist unsere negative Assoziation mit dem Begriff „Rücksichtslosigkeit“ auch auf die Schattenseite des Wirkens des Archetyp Kriegers in uns. Der Krieger hat tatsächlich keinen Blick für die Opfer, die seinen Weg säumen. Es gibt hier kein Bedauern und keine Reue und keine Entschuldigung. Ja, wir werten das negativ, aber das ist die Position des Zuschauers von der Seite oder die Position der Analyse im Nachhinein, die Situation des Re-Flektierens. Dem Krieger ist dies fremd, in seiner Welt gibt es das alles nicht. Es gibt nur ihn, den Gegner und den Kampf. Und im Kampf geht alles auf.

Die Selbstlosigkeit

Wenn im Kampf alles aufgeht, verschwindet auch das Selbst. Nebenbei gesagt: Auch der Gegner verschwindet. Es gibt ihn nicht mehr als Gegner, es gibt ihn nur als zu meisternde Situation. Und so verschmelze ich auch mit dem Gegner, wenn ich in der Herausforderung aufgehe. Der Gegner ist nicht mehr „das Anderer“, er ist Teil von mir, er ist Teil meiner Herausforderung. Aber – und hier wird es paradox – auch dieses Ich gibt es in dem Moment nicht mehr. Es gibt nur noch die Tat, die Betätigung. Auch dies ist Teil der so widergewonnen Einheit mit den Umständen, das Selbst ist nicht mehr spürbar, nicht mehr erkennbar. Ja, auch dies kann eine Schattenseite des Archetyps Krieger sein.

Das ewig Neue

Für den Krieger ist alles, was er tut, neu und frisch und noch nie dagewesen. Ja, natürlich hat er sich vorbereitet, hat geübt oder trainiert und hat Erfahrungen in vergangenen Kämpfen gesammelt. In der jetzigen Situation aber muss er das alles vergessen. Keine Herausforderung, kein Kampf ist genau gleich. Es ist jedes Mal (auch) anders und so immer neu und so wird es auch erlebt: Immer wieder neu und einzigartig. Der Krieger kann sich hier auf nichts verlassen, auf keine eigefleischten Routinen, auf nichts Gelerntes und auf erworbenen Meriten. Nur im Feld des Unbekannten kann das Neuland gewonnen werden. Auf dieses Unbekannte muss der Krieger sich einlassen und er muss alles scheinbar Bekannte als Unbekanntes ansehen. Jede Routine ist hier trügerisch und mit der Gefahr des Verderbens verbunden.

Wir könnten auch sagen: Allem wohnt die Energie des Anfangs inne, die Qualität des Beginnens oder eben auch Neu-Beginnens. Im Augenblick des Beginnens ist noch alles möglich. „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ lautet eine Gedichtzeile von Hermann Hesse. Der Krieger ist der Zauberer des Beginnens. Er ist der Gegenpol nicht nur zum Zögern und Zaudern, sondern auch der Gegenpol der langweiligen Routine.

Das Männliche

Der Archetyp des Kriegers ist zutiefst männlich. Hier sind die Auseinandersetzung und das Kräftemessen positiv besetzt. Hier finden wir die Entschlusskraft, die Tatkraft, die Initiative, ja die Kraft überhaupt. Hier soll und muss etwas bewegt und überwunden werden. Hier wird auch etwas erobert und gewonnen, wie eben auch der Mann seine Frau erst einmal für sich gewinnen muss, eben tatkräftig, wie sprechen hier auch vom Erobern. Hier finden wir die Qualität des Eindringens, die Überwindung von Hindernissen. Ebenso zeigen sich hier die Qualitäten von Kraft und Härte.

Wir finden diese Prinzipien in der Sexualität recht schön anschaulich vor. Der männliche (eregierte) Penis dringt in die Frau ein. Dazu werden Hindernisse, möglicherweise auch Hemmungen, überwunden. Ja, in einer spezifischen Ausprägungsform bedeutet dies Vergewaltigung. Auch dies liegt im Möglichkeitsraum der männlichen Sexualität.     
Oder auch wenn wir an die Prinzipien Kraft und Härte denken: Das Hartwerden ist es, was den Penis vom Phallus unterscheidet. Der Volksmund spricht im Deutschen hier auch von der Manneskraft.        
Und auch die männliche Seite der Fruchtbarkeit ist eben mit dem hart werden des Penis und dem Eindringen in die Frau verbunden.

Wenn dieser Archetypus deutlich männliche Züge trägt, bedeutet dies natürlich nicht, nur Männer hätten diesen Archetyp in sich, als Teilpersönlichkeit sozusagen. Auch bei jeder Frau gibt es im Lebensfilm diese Position auf der Besetzungsliste der inneren Personen. Es kann allerdings sein, dass man sich als Frau etwas schwerer tut, sich mit dieser inneren Gestalt anzufreunden.

Der Jahreszeitliche Bezug dieses Archetyps – Heilwege

Dem Archetyp „Krieger / Neugeborenes“ entspricht im Jahreszyklus der Frühlingsbeginn. Hier beginnt der Kreislauf des Lebens neu. Hier bricht sich die Vegetation neu durch in die Sichtbarkeit, die Pflanzen sprießen aus dem Boden, die neuen Blätter der Bäume brechen aus dem bisher kahlen Geäst hervor. Aus Sicht der Zyklik im Jahresverlauf beginnt hier das Jahr und nicht am 1. Januar. In einem Kinderlied heißt es: „Im Märzen der Bauer / die Rößlein anspannt.“ Im landwirtschaftlichen Bereich beginnt also hier das wieder tätig werden, das Tatprinzip. Mit dem (astronomischen) Frühlingsanfang, dem Punkt der Tag- und Nachtgleiche, beginnt die Zeit, in welcher das aktive Prinzip (Tag) gegenüber dem passiven oder ruhenden Prinzip (Nacht) das Übergewicht besitzt. Die Natur steht hier im Zeichen der Erneuerung.

Astrologische Entsprechung:

In der Astrologie entspricht dieser Archetypus dem 1. Haus, dem Tierkreiszeichen Widder und dem Planeten (und Kriegsgott) Mars.

Entsprechung in den „12 Toren der Heilung“

In dem Buch „Die zwölf Tore der Heilung“ von Regina Sonnenschmidt und Harald Knauss1 werden die 12 Archetypen und ihre Jahreszeiten mit 12 Heilungswegen in Beziehung gesetzt. Ich gebe hier einige von den Autoren genannte Aspekte wieder, die zu dieser Jahreszeit, diesem Archetyp und eben diesem „Tor der Heilung“ gehören.

Bei diesem Archetyp und der zugehörigen Jahreszeit von ca. 20. März bis ca. 20 April geht es um Tatkraft, Lebenswillen und Selbständigkeit. Im gesundheitlichen Bereich ist als Organ hier die Galle besonders angesprochen. Beeinträchtigt wird die Tatkraft durch ständige Erschöpfung und Nervosität. Als Mittel ist hier das Schüßlersalz Kalium Phosphoricum (Nr. 5) besonders wirksam.

Für den mit diesem Archetypus verbundenen Heilungsweg ist regelmäßiger Aufenthalt an der frischen Luft günstig.

Als Affirmationen passen zu dieser Zeitqualität schlagen die Autoren von "Die zwölf Tore der Heilung die folgenden Sätze:

  • Ich nehme mein Leben in seiner ganzen Fülle an
  • Ich sage Ja zum Leben
  • Ich bin begeistert vom Leben, von mir und meinen Fähigkeiten
  • Mein Streben richtet sich auf eine positive Zukunft
  • Ich finde den Rhythmus meines Lebens

Die Autoren empfehlen dazu auch zwei passende Energieübungen vor. Empfohlen wird, diese Übungen im Freien auszuführen.

1. Das staunende „A“

  • Stehen Sie fest auf der Erde. Atmen Sie gleichmäßig ein und aus.
  • Spüren Sie die Kraft, die aus der Erde aufsteigt. Ist dieses Gefühl stark genug, machen Sie mit dem linken Fuß einen Schritt nach vorne.
  • Heben Sie dabei die Arme an und führen Sie die Handflächen auf Brusthöhe nach vorne, als wollten Sie etwas wegschieben.
  • Der linke Arm ist dabei etwas höher als der rechte. Während dieser Armbewegung lassen Sie ein „FA“ mit einem langgezogenen „A“ ertönen.
  • Beim Einatmen senken Sie die Arme wieder, atmen dann aus und wieder ein und beginnen erneut mit der Lautgebung von „FA“.
  • Dabei heben sich die Arme und schieben mit den Handflächen (links höher als rechts) die Energie nach vorne.
  • Wiederholen Sie die Übung sieben Mal. Sie werden eine gute Erdung spüren.

2. Die Ka-Rune

  • Stehen Sie bequem, die Arme locker hängen lassen.
  • Bringen Sie mit einem Schwung die Hände nach oben, wobei beide Arme die Form des Y nachvollziehen. Der Blick geht dabei nach oben, dem Himmel entgegen. Am besten gelingt die Übung, wenn Sie sie direkt als Begrüßung der Sonne durchführen.
  • Gleichzeitig mit den Armen bewegen Sie den rechten Fuß nach vorne und seitwärts hoch.
  • Dann dieselbe Bewegung nochmals mit dem linken Fuß.
  • Jedes Mal, wenn Sie die Arme hoch werfen, können Sie den freudigen, lebensfrohen Laut „Ka“ ausstoßen, oder noch besser ein „Juchhu“ oder „Jippie“.
  1. Sonnenschmidt, R. & Knauss, H. (2005): Die zwölf Tore der Heilung. Das Spiel der Kräfte im Jahresverlauf. Berlin: Verlag Homöopathie und Symbol. ↩︎

Gestalten am Urgrund der Seele

Wenn man sich mit der Seele beschäftigt, sei es zum Zwecke der Selbsterkenntnis, sei es zur Lösung drängender eigener Probleme im Lebensvollzug, sei es im Rahmen einer beratenden oder helfenden Tätigkeit, bei der man anderen Menschen bei der Lösung solcher Lebensprobleme unterstützt oder begleitet, dann bekommt man es mit einer besonderen Situation zu tun. Die Besonderheit liegt darin, wenn wir beschreiben wollen, womit wir es da zu tun haben, bleibt immer eine gewisse Unschärfe. Und: Es sagt sich nicht so leicht. Das liegt weniger daran, dass der Gegenstand komplex oder kompliziert wäre. Das ist manchmal der Fall, manchmal aber auch nicht. Die Schwierigkeit liegt eher darin, dass er – der Gegenstand der Betrachtung – sich der verbalen Beschreibung immer wieder entzieht. Er lässt sich nicht wirklich definieren und schon gar nicht vermessen. Aber er kann verstanden werden. Nur liegt das Verständnis meist zwischen den Zeilen.

Schon das Wort „Seele“ macht es deutlich. Wir alle haben ein gewisses, eher intuitives Verständnis, was „die Seele“ sei. Wir erleben ihre Regungen, die uns auf eigentümliche Weise führt. Und wir erahnen ihre verschiedenen Kräfte, die in uns wirken. Und dies alles haben wir, auch wenn wir nicht wirklich definitiv – also im Sinne einer allgemeingültigen Definition – sagen könnten, was die Seele genau ist. Schon gar nicht können wir sie mit Größenangaben wie Höhe, Breite oder Tiefe versehen oder ihr Gewicht als Zahlenwert messen. Aber wir können darüber sprechen oder schreiben. Dies sind dann tastende Versuche einer Sache habhaft zu werden, die sich aber immer nur in Teilen beschreiben lässt und sich in anderen Teilen dem Zugriff des Verstandes und des rationalen Diskurses entzieht. Jede Beschreibung muss unvollständig bleiben. Aber vielleicht – so die Hoffnung – kann sich durch die Unvollständigkeit der Beschreibung hindurch eine Anmutung des nicht Beschreibbaren einstellen. Etwas im Adressaten des Wortes gerät in Resonanz. Etwas in den Sedimenten der Lebenserfahrung sagt beim Empfang der Worte: „Ja, ich verstehe.“

Manchmal ist in Bezug auf die Seele von Landschaften die Rede, von seelischen Landschaften. Diese Landschaften kann man schauen, man kann sie durchwandern, man kann sie auf sich wirken lassen. Und dann erleben wir vielleicht auch: Es gibt hier verschiedene Arten von Landschaften, so etwas wie Typen von Landschaften. Manche Landschaften ähneln einander, auch wenn sie nie gleich sind. Sie sind aber deutlich verschieden von anderen Arten von Landschaften. Auf ähnliche Art gibt es im Theater verschiedene Arten von Stücken. Es gibt Dramen, Tragödien, Komödien, Volksstücke, Singspiele, Possen, Mysterienspiele und vielerlei mehr. Und obwohl kein konkretes Theaterstück auf dem Spielplan mit einem anderen identisch ist, erkennen wir das Genre.     
Aber zurück zu den seelischen Landschaften als Bild: Wir können sie schauen oder durchwandern, wir erkennen die Art der Landschaft und ihre Wirkung auf uns. Nur eines können wir nicht: Sie vollständig erfassen in ihrer Gesamtheit.

Die Gestalten in den seelischen Landschaften

Aber nicht so sehr von den seelischen Landschaften soll hier die Rede sein, sondern von den Gestalten und Gestaltungen, welche diese Landschaften bewohnen. Und auch diese Bewohner der seelischen Landschaften (die Gestalten) haben eine ähnliche Unschärfe wie die Landschaft selber. Auch hier finden wir bestimmte „Typen“ vor. Aber die Beschreibung, was genau diese Charaktere auszeichnet, ist immer nur hinweisend und unvollständig.

Es soll also um die Bewohner der seelischen Landschaften gehen. Diese Bewohner haben Intentionen und Impulse, sie haben Ziele und Bedürfnisse. Die Bewohner können, anders als die Landschaft, handeln. Und sie handeln in uns und durch uns, manchmal auch hinter unserem Rücken. Besser gesagt: Sie handeln hinter dem Rücken des bewussten Verstandes. Sie treiben in uns ihr Wesen und drücken ihr Wesen in uns und durch uns aus.

Es gibt auch noch ein anderes Bild. Statt von Landschaften und Bewohnern können wir auch von inneren Räumen sprechen und den Bewohnern dieser Räume, die in diesen Räumen anzutreffen sind. Die Metapher wäre hier ein Gebäude. Und was die seelischen Räume und ihre Bewohner angeht, wissen wir eins: Wenn wir mit Ihnen Kontakt aufnehmen wollen, müssen wir nach unten, in die Tiefe. Die seelischen Räume liegen in den verschiedenen Kellergeschossen, also unter der Oberfläche. Zu ihnen müssen wir hinabsteigen. Und da gibt es verschiedene Ebenen.

In den oberen Ebenen der Kellergewölbe treffen wir die Räume und die zugehörigen Gestalten an, die sozusagen persönlich sind. Hier treffen wir Gestalten, die sich aus unserer individuellen Biografie gebildet haben, aus den konkreten Umständen, unter denen wir herangewachsen sind und aus den jeweils besonderen Erfahrungen gebildet, die wir um Laufe unseres Lebens gemacht haben.

Noch einmal eine Etage tiefer treffen wir auf Räume und Gestalten, die wir mit allen Menschen teilen, quer über alle geschichtlichen Epochen und unterschiedlichen kulturellen Prägungen.

Die Archetypen

Um diese Bewohner der unteren Etagen im Keller soll es hier und in den folgenden 12 Monaten des kommenden Jahres 2025 gehen. In diesem Beitrag soll es um eine erste Beschreibung dieser sog. Archetypen gehen. Und im nächsten Jahr will ich mich in jedem Monat jeweils einem Archetyp, einem von 12 Archetypen in der Seele, beschreibend nähern. Aber zunächst zu der Frage: Was sind Archetypen?

Es gibt – so die Behauptung – unterhalb der persönlichen inneren Instanzen noch eine Reihe von Gestalten, die in uns wirksam sind, auch ohne an bestimmte biografische Erfahrungen gebunden zu sein. Diese Gestalten haben wir gemeinsam mit allen Menschen, die jemals gelebt haben. Sie gehören sozusagen zur Grundausstattung der Menschheit als Gattung. Sie leben in den Märchen, den Sagen, den Mythen und allgemein in den Geschichten die erzählt werden, sei es in Form von Romanen, Bühnenstücken oder Filmen. Hier werden sie lebendig, hier werden sie erkennbar. Wir merken es daran, dass uns eine Geschichte (oder eben ein Film) fesselt, fasziniert und in den Bann zieht. Wir identifizieren uns dann vielleicht mit zentralen handelnden Personen, auch dann, wenn wir mit dem Kontext, dem Rahmen in dem die Geschichte erzählt wird, keine eigene Erfahrung haben, keinen biografischen Anknüpfungspunkt.

Diese Gestalten leben im kollektiven Unbewussten und sind kulturunabhängig. Wir können diese Gestalten erkennen und mit ihnen in Resonanz gehen, auch wenn sie in Geschichten aus ganz alten Zeiten oder aus ganz anderen Kulturkreisen uns entgegentreten. Auf einer bestimmten Ebene, auch wenn diese Ebene recht bewusstseinsfern ist, kennen wir diese Gestalten und wir haben sie immer schon gekannt. Wir kennen sie aus allen unseren Leben und Inkarnationen. Diese Gestalten sind so alt wie die Menschheit, sie sterben nie, solange es Menschen gibt, aber sie wechseln natürlich gelegentlich ihr Gewand. Sie leben am Urgrund der Seele und sie repräsentieren Ur-Erfahrungen des Menschseins. Sie müssen nicht individuell als Erfahrung gewonnen werden, sie sind immer schon da, unabhängig von konkretren individuellen Erfahrungen. Und sie begleiten uns durch das Leben – durch jedes Leben. Psychoanalytisch gesprochen: Diese inneren Gestalten sind nicht das Resultat von Verdrängung, Resultat von konflikthaften Erfahrungen, die wir nicht im Bewusstsein halten können oder wollen und die wir daher in den Untergrund der „Illegalität“ abschieben, also verdrängen. Diese Ur-Gestalten wurden nie verdrängt, sie waren immer schon da – und zwar unten, am Urgrund, im Unbewussten. Anders gesagt: Sie waren nie im Bewusstsein.

Wenn wir aber in unserem besonderen Leben auf eine Situation treffen, welche der Grundnatur einer dieser Urgestalten entsprechen, dann regt sich dieser Archetyp in uns. Und oft werden wir dann von gewaltigen Kräften ergriffen. Es fühlt sich dann vielleicht so an, als ob wir mit unserem Willen dagegen ziemlich machtlos wären, irgendetwas, was wir nicht genau verstehen, kommt über uns, ergreift uns und beeinflusst unser Handeln. Wir erfahren dann starke innere Kräfte.        
Meine Vermutung ist, aber es ist wirklich nicht mehr als eine Vermutung, dass diese Kräfte deshalb so stark wirken, weil in den Momenten, wo mir mit einem Archetyp deutlich zu tun bekommen, wir hier etwas kollektiv menschliches ausagieren, nicht nur etwas individuelles. Im Archetyp steckt die gesamte Energie der Gattung Mensch.

Die Beobachtung, dass es im Unbewussten Bereiche gibt, die nicht rein individuelle Erfahrungen sind, sondern Erfahrungen der ganzen Menschheit, der ganzen Gattung, geht zumindest in der westlichen Moderne auf Carl Gustav Jung zurück. Er nannte diesen Bereich das kollektive Unbewusste. Und auf ihn geht auch die Bezeichnung „Archetypen“ zurück, welche er für die Ur-Gestalten wählte, die man in diesen kollektiven Bereichen des Unbewussten antreffen kann. Der Begriff kommt aus dem Altgriechischen. Hier meint „arche“ so etwas wie Ursprung. Und als Wortteil in einem zusammengesetzten Wort meint es dann so etwas wie „ur-“ oder „haupt-“. Und „typos“ leitet sich ab vom Verb „typein“, welches Schlagen bedeutet. In der Zusammensetzung bedeutet „typos“ dann so etwas wie eine Grundprägung oder eine Urform, so wie eben z.B. bei der Prägung einer Münze das Bild in das Metallstück hineingeschlagen wird. Man könnte „Archetyp“ also als Urform oder Grundgestalt oder auch Grundcharakter übersetzen.

Die Archetypen als etwas Überpersönliches

Ich hatte in diesem Blog kürzlich bereits in insgesamt vier Beiträgen in den Monaten Juli bis Oktober 2024 verschiedene Dinge angeführt[1], die man manchmal in einer Aufstellung über eine Stellvertreterperson sprechen lässt, obwohl es sich nicht wirklich um konkrete Personen handelt. Dies kann ein Land oder eine Region als Heimat sein, eine Krankheit oder ein Symptom, oder auch ein Haus oder einen Betrieb oder mitunter auch so etwas wie Gott, aber in manchen Aufstellungsformen auch Ziele oder Entscheidungsalternativen. Hier haben wir dann unpersönliche oder überpersönliche Positionen / Akteure in der Aufstellung.

Die Archetypen sind auch etwas Überpersönliches, weil es sich ja um Charaktere aus dem kollektiven Unbewussten handelt. Und manchmal erweist es sich als hilfreich oder gar notwendig, bei einem bestimmten Anliegen in einer Aufstellung auch einen Archetyp aufzustellen, der besonders mit dem Thema zu tun hat. Ich mache dies meist so, dass dieser Archetyp – also sein Steilvertreter – auf einen Stuhl gestellt wird. Damit wir zum Ausdruck gebracht, dass der Archetyp groß ist, viel größer als jeder Mensch. Man kann auf diese Weise in einer Aufstellung einem Archetyp begegnen, ihn kennen lernen, etwas darüber erfahren, wie er in meinem Leben wirkt, was er von mir will.

Die Archetypen als kollektive Gestalten gibt es in jedem von uns, und zwar alle. In diesen Kelleretagen hat jeder Archetyp einen Raum in jeder Seele. Allerdings in höchst unterschiedlichen Gewichtungen. Nicht jeder Archetyp ist in jedem Leben wichtig oder zentral. Meist sind das nur wenige oder auch nur einer, der wirklich bedeutsam ist. Die anderen gibt es auch in mir als Grundformen von seelischen Regungen, aber sie drücken sich vielleicht nur in Kleinigkeiten aus und werden kaum bemerkt. Auch kann es sich in unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedlich darstellen, ein Archetyp, der in einer bestimmten Lebensphase sehr dominant präsent war, verliert im älter werden an Bedeutung. Dagegen können sich in späteren Lebensabschnitten dann vielleicht andere Archetypen deutlich vernehmbar bemerkbar machen, die bislang kaum eine Rolle gespielt haben.

Als Analogie kann man sich dies vorstellen wie bei einem Theaterstück. Da gibt es Hauptrollen, welche durchgängig im Zentrum der Bühne und im Fokus der Scheinwerfer stehen. Und es gibt Nebenrollen, die vielleicht nur in einer Szene überhaupt auftreten und dort womöglich auch nur einen Satz haben. Und es gibt noch Statisten / Komparsen, die einfach nur anwesend sind im Hintergrund ohne eigenen Text. Und so ist es auch mit den Archetypen im Stück deines Lebens. Nur wenige sind Hauptdarsteller, die Mehrzahl wirkt unauffällig im Hintergrund. Aber je nach Akt des Dramas kann sich die Betonung ändern, es kann sein, dass eine Person / Rolle in den Vordergrund der Bühne und damit der Aufmerksamkeit gerät – aber eben nur in diesem einen von fünf Akten.

Wie gesagt: Im nächsten Jahr (2025) soll jeweils einer der monatlichen Beiträge in diesem Blog einem bestimmten Archetyp gewidmet sein. Wir werden uns jeweils einen konkreten Archetyp vor Augen führen. Ich werde diesen einen Archetyp jeweils in seinem Grundcharakter und seinem Wirken in unserer Seele ein wenig beschreiben. Eigentlich sollte ich hier besser sagen: Ich werde das versuchen, wohl wissend, dass meine Beschreibung vermutlich immer hinken wird und mit Sicherheit immer unvollständig bleibt. Allerdings hege ich die Hoffnung, dass die Beschreibungen für die Leserinnen und Leser ein Fingerzeig sein mögen. Wenn die Beschreibung in dir, liebe Leserin und lieber Leser, Assoziationen auslöst und Anlass bietet, dich mit dieser inneren Gestalt und ihrem Wirken in dir ein wenig zu beschäftigen, dann wäre das Ziel des jeweiligen Textes erreicht.

Widmung

Ich widme diesen Beitrag und auch die kommen zwölf Beiträge meinem großen Lehrer Peter Orban, der kürzlich verstorben ist. Alles Wesentliche, was ich über die Archetypen meine verstanden zu haben, habe ich von ihm.

Wenn ich versuche, mein gegenwärtiges Verständnis eines Archetyps in Worte zu kleiden, geschieht dies in dankbarer Erinnerung an das Wirken von Peter Orban, auch wenn meine Texte nicht an die Beschreibungen von Peter Organ heranreichen werden. Es soll eine Würdigung sein.


[1] Das Land als Heimat (Juli 2024)          
Krankheiten und Symptome (August 2024)         
Häuser, Wohnungen, Betriebe und Ähnliches (September 2024)   
Was sonst noch seelische Bedeutung haben kann (Oktober 2024)