Die Wunden der Ahnen und ihre Heilung

In den letzten Beiträgen habe ich etwas behandelt, was ich die seelischen Urwunden nannte und was man auch als Entwicklungstraumata beschreiben könnte. Diese seelischen Wunden (oder wunden Punkte) entstehen in der individuellen Biografie, besonders infolge von Bedingungen, welche das Aufwachsen geprägt haben.

In diesem Beitrag möchte ich die Betrachtung von seelischen Wunden erweitern auf die Vorfahren, die Ahnen, die Familiensippe – was auch immer man hier als Wortmarke verwenden möchte. Eine der Grunderkenntnisse der Familienaufstellungen von Anfang an war, dass wir alle in unserem Erleben, in unserem grundlegenden Lebensgefühl und in unserem Lebensvollzug beeinflusst sind von Vorgängen und Geschehnissen in unserem Familiensystem. Oft wirken diese Einflüsse einschränkend. Die Einflüsse bestehen unabhängig davon, ob wir etwas von den konkreten Ereignissen wissen oder diejenigen Personen in unserem Ahnensystem, welche diese Ereignisse durchlebt und durchlitten haben, noch selber kennen gelernt haben.

Hier greift ein größeres Informationsfeld, welches die Erlebnisse der Ahnen und hier insbesondere die schweren Schicksale der Vorfahren umfasst, in das seelische Feld der Nachgeborenen hinüber. Oder wir könnten auch sagen, ein größeres, kollektives Feld ergreift (teilweise) Besitz von einem individuellen Feld, das größere Feld wirkt in das kleinere Feld hinein.
Daneben gibt es manchmal auch noch größere Felder, etwa das Feld von ganzen Völkern oder Völkergruppen, insbesondere wenn hier Verfolgung und Völkermord im Spiel ist, welche auf später Geborene teilweise deutlich wirken. In diesem Beitrag soll es aber um das Feld der Ahnen gehen.

Ein Beispiel

Ich habe kürzlich eine Fallgeschichte einer US-amerikanischen Therapeutin gelesen. Diese hatte eine Klientin, welche unter der Wahnvorstellung litt, verhungern zu müssen. Die Klientin war materiell gut situiert, ihr war kognitiv durchaus klar, dass die Gefahr nicht real besteht, aber die entsprechende Angst war trotzdem stark ausgeprägt.

Nachdem eine Reihe von „normalen“ therapeutischen Interventionen keine Besserung nach sich zogen, fragte die Therapeutin nach, wer von den Vorfahren der Klientin mit Hunger konfrontiert war. Es stellte sich heraus, die Klientin war irischer Abstammung, ihre Vorfahren waren im Rahmen der Hungersnot in Irland in den Jahren 1845 bis 1849 zusammen mit Millionen anderer Iren in die USA ausgewandert, der Not gehorchend.

Bei der Besprechung des Schicksals der Vorfahren kam jetzt spürbar etwas in Bewegung bei der Klientin, nach Eindruck der Therapeutin war ein Resonanzpunkt berührt worden.  
Die Therapeutin schlug also der Klientin das Folgende vor: Sie, die Klientin, solle sich einen Abend Zeit nehmen und für diesen Abend verschiedene Speisen vorbereiten, alles was Sie gerne isst. Die Speisen sollten in Vielfalt und Menge einen Überfluss an Nahrungsmitteln deutlich ausdrücken. Dann solle sich die Klientin an den Tisch mit den vielen verschiedenen Speisen in ihrer Fülle setzen und diese Speisen und ihren Überfluss erst einmal auf sich wirken lassen. Sie sollte also die Speisen anschauen und dabei bewusst sich innerlich sagen: Dies alles steht mir zur Verfügung, ich leide keinen Mangel. Und dann sollte die Klientin – und dies scheint mir der entscheidende Teil zu sein – in Gedanken eine Verbindung zu ihren Vorfahren von vor 170 Jahren aufnehmen. Natürlich hat die Klientin diese nicht persönlich gekannt. Aber sie sollte sich die Personen aus ihrer Familiengeschichte, die damals dem Hunger in Irland nur durch Auswandern in die USA entkommen konnten, vor dem geistigen Auge vorstellen. Und dann sollte die Klientin diesen Ahnen den reich mit Speisen im Überfluss gedeckten Tisch zeigen und ihnen sagen: Schaut einmal, so geht es mir jetzt hier. Weil ihr damals eure Heimat verlassen habt, geht es mir heute gut, ich muss nicht hungern.

Das hat die Klientin so gemacht und danach war die wahnhafte Angst, verhungern zu müssen, von ihr abgefallen. Zumindest wird es so berichtet.

Die Heilung der Ahnenlinie

Mich hat dieses Fallbeispiel beeindruckt, nicht nur, weil es recht eindrücklich beschreibt, wie weit zurück die Wirkung der „großen Seele“, der Seele der Ahnen auf die Einzelseele reichen kann. Noch stärker hat mich die Lösung berührt. Es scheint mir so, auch wenn die erwähnte Therapeutin selber es nicht so schreibt und deutet, als ob hier mit der Heilung einer wahnhaften Angst bei einer Nachfahrin auch gleichzeitig die Ahnenlinie mitgeheilt wird.

Das ist vielleicht eine etwas starke Behauptung und auch etwas spekulativ. Aber das Bild, was bei mir vor dem inneren Auge beim Lesen dieser Fallgeschichte entstand, war: Die Geister der Ahnen finden sich am reich gedeckten Tisch der Nachfahrin ein und sie erfahren dabei zwei Dinge: Zum Ersten erfahren sie, dass ihre Not erinnert wird, dass ihr Schicksal noch lebendig ist in den Nachfahren. Zum Zweiten sehen sie aber auch: Es war nicht umsonst. Es ist danach gut weitergegangen. Unser Verlust, der Verlust der Heimat, hat sich gelohnt und er hat segensreich auf nachfolgende Generationen gewirkt. In dem Bild, was vor meinem inneren Auge entstand – und natürlich ist es nur mein inneres Bild, ob es wirklich so war, weiß ich nicht – kamen die Vorfahren dabei zur Ruhe. Irgendetwas wird befriedet im Reich der Geister, im geistigen Feld in diesem Familiensystem.

Meine Heilung heilt die Traumata der Ahnen mit

Tatsächlich würde ich in einem ähnlich gelagerten Fall in einer Familienaufstellung ähnlich vorgehen. Ich würde die Klientin den Blick auf die Ahnen einnehmen lassen, auf ihre Herkunft und auf die Menschen, die lebensbedrohlichen gehungert haben. Und dann würde man der Klientin vielleicht vorschlagen, einen Satz zu sagen in der Art: „Ich sehe euer schweres Schicksal. Und ich schaue auf euch und euer Schicksal mit Achtung.“ Und anschließend, nachdem dies innerlich vollzogen wurde, schlägt man der Klientin vielleicht vor, einen Satz zu sagen zu den Ahnen in der Richtung: „Mit mir ist es gut weitergegangen.“ Oder vielleicht auch: „Euer Opfer war nicht umsonst.“ Und noch ein weiterer Satz könnte hier angebracht sein: „Auch wenn es mir besser geht als euch, bleibe ich mit euch verbunden.“ Manchmal kann auch ein Satz sich anbieten, der etwa so lauten könnte: „Bitte segnet mich, wenn ich die Fülle der Lebensmittel in meinem Leben genieße!“

Zwei wesentliche Schritte zur Heilung

Wir sehen hier dieselbe Struktur wie bei der Heilung individueller seelischer Wunden: Wir müssen zunächst hinschauen und benennen, was war, ohne Beschönigung. Das was war, war schlimm. Wir müssen uns trauen, mit dem Schrecken und dem Schweren und manchmal auch dem Grauenhaften wirklich in Kontakt zu treten, uns davon innerlich bewegen zu lassen. Und der zweite Schritt ist dann, zu sagen: Ja, so war es – aber mit Betonung auf war. Jetzt ist es anders, jetzt habe ich andere Möglichkeiten, ich muss das Drama von damals nicht immer wieder neu inszenieren. Jetzt kann ich es anders machen, es mir gut gehen lassen.

Wie gesagt: Mein Eindruck ist, wenn ein Nachgeborener im Ahnensystem es schafft, mit einem tradierten einschränkenden Muster zu brechen, etwas Neues und Besseres zu machen, das Leiden zu durchbrechen – dann macht diese Person das nicht nur für sich selbst, sondern für die Leiden der Ahnen gleich mit. Ich kann es nicht „beweisen“, dass es so ist. Der einzige Hinweis, den ich dazu habe, ist: Man kann in Aufstellungen mitunter beobachten, dass die Stellvertreter der Ahnen irgendwie aufatmen, ruhiger werden, wenn ein Nachfahre ein einschränkendes Muster auf eine positive Art durchbricht. Dieser Durchbruch bedeutet dann nicht die Abgrenzung von den Ahnen gemäß dem Motto, was geht mich euer Schicksal an? Der Durchbruch bedeutet: In Anerkennung eures Schicksals und mit Achtung von eurem Schicksal mache ich es anders – ein wenig auch euch zuliebe.

Auf diese Weise erhält die Heilung eigener seelischer Wunden oder Traumata eine andere Tiefe. Ich mache es nicht nur für mich selbst, es ist nicht egozentrisch. Sondern ich nehme – ein wenig – alle mit, mit denen ich über die Herkunft und über das jeweilige Thema verbunden bin.        
Wenn etwas daran ist, das wir vielfältig verbunden sind auf eine höchst unterschwellige Art, nicht nur mit Lebenden sondern auch mit den Toten, dann ändern wir mit unserer eigenen Heilung auch etwas für die Toten. Nicht in dem Sinne, dass das Schicksal der Toten dadurch anders wäre, als es nun einmal war. Aber in der Form: Es war nicht vergeblich, es hatte einen Sinn, es ist gut weitergegangen. In welcher Form genau sich das in der Sphäre auswirkt, wo die Toten sind und existieren, in dieser geistigen Sphäre, über die wir wenig wissen und der Beschaffenheit wir nur ahnen können, darüber sollte man nicht allzu viel spekulieren. Aber die Vorstellung, es hat eine Auswirkung auch im Reich der Toten, kann sehr kraftvoll in meinem Leben wirken.

Die seelischen Urwunden – Teil 9: Eine Rückschau

Ich beschließe diese kleine Serie von Blogbeiträgen zu seelischen Urwunden mit einer Rückschau. Wir starteten damit, einen Betrachtungsrahmen aufzuspannen. Es ging dabei um die Frage, was braucht ein Mensch, der als Baby auf die Welt kommt, um sich gut und seiner Eigenart gemäß zu entwickeln. Es ist ja so, dass der Mensch unter allen Säugetieren die längste Adoleszenz aufweist und damit auch eines großen Maßes an Betreuung und Fürsorge in der Entwicklung bedarf. Der Bezugsrahmen für das Thema seelische Urwunden war nun die Überlegung, wie sollte ein neuer Mensch am Anfang seiner Entwicklung idealerweise in dieser Welt willkommen geheißen werden?

Es soll hier noch einmal darauf hingewiesen werden, dass dieser Bezugsrahmen idealisiert ist. Und ein Ideal ist in der Realität nicht perfekt zu erreichen. Es geht auch weniger darum, etwa den Eltern oder der Gesellschaft oder wem auch immer die Schuld zu geben. Der Bezugsrahmen diente nur dazu, vor dem Hintergrund dieser Folie zu beschreiben, wenn man so will, was alles schief gehen kann. Noch genauer: Was alles auf einer grundlegenden, existenziellen Ebene schmerzlich vermisst werden kann. Wobei – auch dies sei hier noch einmal betont – wir von einem Fehlen von gedeihlichen Bedingen sprechen, welche wirklich schwerwiegend und dauerhaft sind, welche die natürlichen Bedürfnisse des Kindes bedeutsam verletzt, das Ur-Vertrauen signifikant in der einen oder anderen Weise erschüttert. Dann entsteht im Prozess des Heranwachsens eben eine Ur-Wunde, ein manchmal lebenslang bleibender wunder Punkt.

Vor dem Hintergrund dieser Folie wurden die folgenden sieben Urwunden in einzelnen Beiträgen beschrieben:

  • Verlassen werden / getrennt werden
  • Nicht gesehen werden, nicht beachtet werden
  • Verkannt oder verwechselt zu werden
  • Nicht oder nicht vollständig da sein dürfen (Du bist zuviel!)
  • Betrogen zu werden, hintergangen zu werden
  • Gedemütigt werden oder eklatante Ungerechtigkeit zu erleben
  • Nicht oder nicht genug geliebt zu werden.

Man kann hier natürlich fragen: Sind es genau diese sieben Urwunden, die es gibt? Oder auch: Hängen diese Urwunden nicht auch miteinander zusammen, was sicherlich richtig ist. Man könnte auch fragen: Ist nicht die letztgenannte Urwunde, nicht oder nicht genug geliebt zu werden, die zentrale Urwunde, alles andere nur konkrete Ausformungen davon? Dies mag alles sein. Es ist sicherlich kein trennscharfes oder gar diagnostisches System. Es sind beobachtbare Phänomene, die sich sicherlich auch anders benennen oder gruppieren lassen.

Urwunden als Entwicklungstraumata

Was hier mit der Bezeichnung Urwunde bezeichnet wurde, lässt sich auch als Trauma oder Traumatisierung beschreiben. Wir reden hier von Entwicklungstraumata im Gegensatz zum Schocktrauma. In so fern wäre für alle angeführten Urwunden etwas Generelles nachzutragen. Jeder einzelne Blogbeitrag zu jeder einzelnen Urwunde hat ja am Ende einen Teil, der sich damit befasst, was hier helfen kann. Und da gilt eben für alle erwähnten Urwunden gemeinsam, dass hier alle Methoden helfen, die sich mit der Heilung von Entwicklungstraumata beschäftigen. Und dies ist ein weites Feld …

Seelische Urwunden als spezifische Ausformung eines Entwicklungstraumas aufzufassen, bringt uns aber auch noch auf eine andere Spur, die für alle genannten seelischen Urwunden gleichermaßen gilt.

Überlebensstrategien statt Leben

Entwicklungstraumata bewirken, dass ein Mensch sich bestimmte Überlebensstrategien aneignet. Diese helfen, den existentiellen Mangel auszuhalten, ihn teilweise zu kompensieren. Diese Überlebensstrategien waren, zu dem Zeitpunkt, wo sie erlernt wurden, wichtig und meist notwendig. Viele dieser Überlebensstrategien bestehen darin, etwas zu verleugnen, zu verdrängen und sich unempfindlich zu machen gegen seelische Schmerzen. Diese Überlebensstrategien waren einmal eine Lösung. Sie waren oft die einzige Lösung, die einem Kind, besonders einem kleinen Kind, zur Verfügung stand.

Später, im Leben als Erwachsener, erweisen sich diese gelernten Überlebensstrategien aber oft als einschränkend und hinderlich, als dysfunktional. Um wirklich vollständig zu leben, müssen die Überlebensstrategien der Vergangenheit losgelassen werden. Und dies ist nicht so einfach.

Eine Schwierigkeit ist, dass wir uns mit unseren Überlebensstrategien sehr identifiziert haben. Wenn wir hier umlernen, unsere Spielräume erweitern und unser Leben vollständiger leben wollen, erleben wir – zumindest am Anfang – ein sehr unvertrautes Gefühl. Es kann sein, dass wir merken, es geht uns besser – aber gleichzeitig fühlt es sich irgendwie wie „Nicht-Ich“ an. Und das alleine ist beunruhigend. Es gibt einen Teil des Nervensystems, der unbedingt am Vertrauten festhalten möchte, auch wenn es negativ ist. Aber es ist eben bekannt und für diesen Teil des Nervensystems ist das Bekannte gleichbedeutend mit Sicherheit. Alles andere ist bedrohlich, weil es unbekannt ist. Jede ernsthafte Veränderung muss sich, zumindest eine Zeit lang, mit dem Gefühl mangelnder Vertrautheit konfrontieren und dieses Gefühl aushalten, den Rückstellkräften zum Alten widerstehen.

Eine andere Schwierigkeit liegt darin begründet, dass die Aufgabe einer Überlebensstrategie uns mit dem Schmerz von damals in Kontakt bringt. Der Sinn der Überlebensstrategie ist ja gerade, einen zu großen, nicht bewältigbaren Schmerz nicht fühlen zu müssen. Wenn eine Überlebensstrategie losgelassen wird, muss oft der Schmerz, der damals vermieden wurde zu fühlen, noch einmal gefühlt werden. Wir müssen diesem Schmerz erlauben, sich zu entfalten und durch unseren Körper zu fließen, wir müssen ihm erlauben, da zu sein. Wir müssen uns trauen, diesem Schmerz jetzt fühlend unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Das ist nicht leicht und bedarf oft einer kundigen Begleitung. Wir brauchen hier ein heikle Balance, in welcher mir in Kontakt kommen mit dem Schmerz, ohne dass er uns überwältigt und hinwegschwemmt. Anders formuliert: Was losgelassen werden soll, muss sich erst noch einmal vollständig zeigen (dürfen).

Eine Vorstellung vom guten uns vollständigen Leben

Wenn das Lösen bzw. Ablösen von einer einschränkenden Überlebensstrategie nicht einfach, manchmal auch schmerzhaft und in fast allen Fällen von Unsicherheiten begleitet ist, braucht es natürlich gute Gründe für diesen Prozess, welcher gleichzeitig eben auch ein Heilungsprozess bezogen auf eine Urwunde ist.

Manchmal wird man durch das Leben scheinbar dazu gezwungen. Dies kann eine schwere Erkrankung sein oder auch eine Veränderung in den Lebensumständen, welche ein anderes Ausmaß an Verantwortung gerade auch für andere Menschen mit sich bringt. Wir sind dann sozusagen am Ende der Tauglichkeit der Überlebensstrategie angekommen.

Für eine erfolgreiche Veränderung (im Sinne der Heilung einer Urwunde) ist es aber auch gut, neben der Notwendigkeit des Lösens vom Alten eine Aussicht auf die Vorzüge und Freuden des Neuen zu haben. Meist gibt es in der Vergangenheit eine Referenzerfahrung, wo wir für einen Moment aus der Überlebensstrategie herausgefallen sind und dadurch uns freier, glücklicher oder erfüllter gefühlt haben, auch wenn es vielleicht nur für einen kurzen Moment war. Solche Referenzerfahrungen, wo wir einmal von dem vollständigerem Leben gekostet haben, sind wichtig zu erinnern. Ebenso benötigen wir in die Zukunft hinein eine Vorstellung, vielleicht manchmal auch nur eine Ahnung, über die Fülle eines nicht nur auf das Überleben fokussierten Lebens.

Eine Metapher für die Heilung von seelischen Urwunden: Die seelische Narbe

Bei etlichen körperlichen Verletzungen entsteht am Ort der ursprünglichen Verletzung eine Narbe. Narbengewebe ist sehr fest und sehr wiederstandsfähig. Wenn wir auf eine solche Narbe an unserem Körper schauen, können wir uns erinnern: Das war damals, als ich diesen bestimmten Unfall hatte. Wir können uns erinnern, wie es damals war. Wir können uns vielleicht auch erinnern, welche Schmerzen wir damals hatten. Und manchmal kommt uns zu Bewusstsein, dass wir aus der Erfahrung etwas Wichtiges gelernt haben. Nur: Auch wenn wir uns an die damaligen Schmerzen erinnern können, fühlen wir jetzt nicht diesen Schmerz. Der liegt in der Vergangenheit, die Erinnerung ist nur eine Erfahrung, derer wir uns bewusst werden. Jetzt ist die Wunde verheilt und schmerzt nicht mehr.

Dies wäre das Bild, im übertragenen Sinne, für eine Heilung von seelischen Wunden. Wir können uns erinnern, wie es damals war und auch, wie schmerzhaft es damals war. Da muss nichts beschönigt oder verdrängt werden. Es war so, wie es war – und damals war es schmerzhaft. Und gleichzeitig wissen wir: Es ist vorbei, jetzt ist es anders. Im Zusammenhang mit seelischen Urwunden bedeutet dies vor Allem: Jetzt bin ich nicht mehr das kleine Kind, jetzt verfüge ich über andere Handlungsmöglichkeiten.

Vielleicht ein letzter Aspekt im Vergleich mit einer körperlichen Narbe: Viele Narben sind nicht unmittelbar sichtbar, sondern meist von Kleidung bedeckt und nur Menschen, die uns nahe stehen, bekommen die Narben zu Gesicht.    
Bei seelischen Narben, nachdem die Urwunde verheilt ist, kann es ähnlich sein. Nicht jeder muss meine seelische Narbe kennen und sehen, dass hier einmal eine seelische Wunde war, welche ihre Spuren hinterlassen hat. Aber wer mir (genügend) nahe steht, darf um die Narbe wissen, die auf eine alte Verletzung verweist.