Die seelischen Urwunden – Teil 2: Trennung und Verlassen werden

Nach dem einleitendem ersten Teil der Beitragsserie, in dem es recht allgemein um seelische Urwunden ging, wende ich mich mit diesem Beitrag der ersten von sieben Urwunden zu, der frühen Trennung insbesondere von der Mutter und dem Gefühl des Verlassen seins.          
Noch einmal als Erinnerung: Die Beitragsserie handelt von den seelischen Urwunden, die in einer sehr frühen Phase der Entwicklung entstehen, also als Baby und als kleines Kind. Es geht also nicht so sehr um spätere Trennungen im Erwachsenenleben. Allerdings können solche Trennungen im Erwachsenenleben durch eine Urwunde aus der frühen Kindheit emotional überlagert und aufgeladen sein, weshalb sie als besonders schwierig oder schmerzhaft erlebt werden.

Für ein neu geborenes oder noch sehr kleines Kind ist die Erfahrung einer (längeren) Trennung von wichtigen Bezugspersonen sehr einschneidend. Hier ist natürlich in erster Linie an die Eltern zu denken und die Trennung von der Mutter ist noch einmal ein wenig bedeutsamer als die Trennung vom Vater.

Hinsichtlich der Urwunden reden wir hier über existenzerschütternde oder existenzgefährdende Erfahrungen. Es geht sozusagen buchstäblich um Leben und Tod. Und genau das passiert bei einer Trennung in einer sehr frühen Lebensphase. Menschen sind mit ihrer Geburt sehr hilflos und für eine recht lange Zeit auf eine verlässliche Beziehung angewiesen, welche stützt und versorgt und nährt. Und deswegen wird eine Trennung insbesondere von Elternteilen eben auch als existenzgefährdend erlebt.

Formen der Trennung

Es gibt vielfältige Formen der Trennung, welche in diesem Sinne vom Kind erlebt werden können.

  • Es kann sein, dass ein Baby direkt mit der Geburt weggegeben wird, z.B. in der Form, dass es zur Adoption freigegeben wird oder in eine Heimeinrichtung oder in eine Pflegefamilie gelangt.
  • Früher war es in Krankenhäusern als Standardgeburtsort durchaus üblich, die Neugeborenen direkt nach der Geburt von der Mutter zu trennen. Die Neugeborenen wurden in ein Wägelchen gegeben und erst einmal in einen getrennten Raum mit anderen Neugeborenen geschoben. Und wenn das Baby schrie, wurde es schreien gelassen, so lange, bis es sich müde geschrieen hatte. Die Rationalisierung für dieses Vorgehen war, die Mutter müsse sich nach der anstrengenden Geburt erholen. Außerdem wurde gesagt, wenn man Babys lange schreien lässt, kräftigt dies die Lungenfunktion.
  • Eine andere Form der Trennung ist, wenn die Mutter an den Folgen der Geburt verstirb, was zu früheren Zeiten durchaus nicht selten war.
  • Bei Frühgeburten werden die Neugeborenen auch getrennt von der Mutter um in einem sog. Brutkasten sozusagen „nachzureifen“.
  • Es kann auch sein, dass ein Elternteil die Familie verlässt – aus welchen Gründen auch immer – während das Kind noch sehr klein ist.
  • Es kann auch sein, dass die Mutter oder auch der Vater einen Krankenhausaufenthalt haben, während das Kind noch sehr klein ist. Auch dies ist eine Trennung und wir müssen dabei bedenken, dass im Zeiterleben und in der Zeitperspektive eines kleinen Kindes eine Zeit von zwei oder drei Wochen einen unüberschaubar lange Zeit ist.    
    Das gilt z.B. auch, wenn Kinder sehr dicht aufeinander folgen und die Mutter für die Geburt eines Geschwisterkindes im Krankenhaus ist.
  • Ebenso ist jeder – vielleicht medizinisch absolut notwendige – Krankenhausaufenthalt des Kindes selber, wenn es noch sehr klein ist, eine solche Trennung von unabsehbarer Dauer.
  • Es kann natürlich auch vorkommen, dass Eltern oder Elternteile versterben, etwa durch einen Unfall oder durch Kriegsereignisse, wenn das Kind noch sehr klein ist.
  • Mitunter gehen auch Eltern oder Elternteile in ein fremdes Land, wenn das Kind noch sehr klein ist, und lassen das Kind dann zurück, meist in der Obhut von Verwandten, manchmal auch nur sehr entfernten Verwandten.
  • Nicht zuletzt kann auch die täglich Weggabe von sehr kleinen Kindern in eine Kinderkrippe oder Tagesbetreuung, während die Mutter arbeiten geht, in diesem Sinne als Trennung und Verlassen werden empfunden werden, in diesem Fall ständig wiederkehrend.

Die Liste ließe sich wahrscheinlich auch noch fortsetzen, sie mag aber auch in ihrer Unvollständigkeit ein Spektrum von Möglichkeiten für diese Urwunde beschreiben.

Auswirkungen der Urwunde

Alle Urwunden, über die ich in dieser Beitragsreihe schreibe, können vielfältige Auswirkungen haben, sowohl im psychischen Bereich wie auch im Bereich körperlicher Erkrankungen. Es handelt sich bei den Urwunden ja sozusagen um eine grundlegende „Beschädigung“ des Lebens, des vollständigen Lebensvollzugs.

Nun ist die Unterscheidung zwischen psychischen und körperlichen Auswirkungen nur eine akzentuierende, eigentlich gibt es das nicht wirklich als zwei klar getrennte Bereiche. Aber nach meinem Eindruck ist doch so, dass die Wirkungen einer Urwunde im psychich-seelischen Bereich sich klarer in Verbindung bringen lassen mit den Besonderheiten der jeweiligen Urwunde als im Bereich der körperlichen Erkrankungen, wo alle möglichen Symptome sich einstellen können.

Die hier thematisierte Urwunde des Verlassens-Werdens betrifft im Kern die Zugehörigkeit, die hier gefährdet ist. In sozialen Systemen, in Familien aber auch z.B. in Organisationen ist dies einer der ganz grundlegenden Aspekte: Wer gehört dazu? Und es scheint so zu sein, dies ist eine der großen Entdeckungen von Bert Hellinger anhand von Familiensystemen, dass die Seele (wir könnten sagen: die „große Seele“ die in Systemen wirkt) es nicht toleriert, wenn jemand aus einem System ausgeschlossen wird, der dazu gehört. Und die Kräfte, die hier wirken, suchen sich dann jemand anderen im System, meist Nachgeborene, um an das Schicksal der ausgeschlossenen Person zu erinnern. Das wäre der systemische Aspekt.

Aber auch individuell ist die Zugehörigkeit ganz fundamental und die fehlende Zugehörigkeit schädlich für das Leben, ja manchmal direkt lebensbedrohend. Es gibt ja die bekannte Bedürfnispyramide nach Abraham Maslow. In dieser Hierarchie der Bedürfnisse wird das Bedürfnis nach Zugehörigkeit direkt nach den physiologischen Bedürfnissen des Körpers und dem Bedürfnis nach Sicherheit angeordnet. Mir scheint inzwischen dagegen, und hier würde ich dem Modell bei allem Respekt für den Urheber widersprechen, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit noch grundlegender zu sein, mir scheint, es ist die eigentlich Basis für alles andere. Man merkt es daran, dass Menschen mitunter alles (im Wortsinnes wirklich alles) tun, nur um dazugehören zu dürfen. Da wird dann gehandelt in einer Form, welche den physiologischen Bedürfnissen entgegen steht und im Extremfall gehen sogar Menschen in den Tod oder begeben sich zumindest in Todesnähe, nur um dazu gehören zu dürfen.

Doch zurück zu den psychischen Auswirkungen dieser Urwunde. Mir scheint, dass diese Urwunde der Trennung und des Verlassen-Werdens sich oft auswirkt in einem Grundgefühl der Trauer. Es handelt sich hier um eine sozusagen „namenlose“ Trauer, die Traurigkeit als Grundgefühl ist einfach da, ohne das konkret benannt werden könnte, worum genau getrauert wird. Des Weiteren kann man eine übergroße Verlustangst plausibel mit dieser Urwunde in Verbindung bringen. Auch eine stark ausgeprägte allgemeine Ängstlichkeit oder das Grundgefühl des Misstrauens, eines fehlenden Urvertrauens haben oft in dieser Urwunde ihren Ursprung. Ebenso kann man hier an Menschen denken, deren grundlegendes Lebensgefühl von Ablehnung oder der Furcht vor Ablehnung geprägt ist.

Allgemein kann man sagen – und dies gilt jetzt für jede Form der Urwunde – dass eine Urwunde die Herausbildung einer „Überlebenspersönlichkeit“ bewirkt. Gemeint sind damit Strategien, welche verhindern sollen, dass ich mit der Urwunde und dem darin liegenden Urschmerz in Kontakt komme. Dummerweise sind diese Überlebensstrategien aber auch genau das, was oft das eigentlich Leben in seiner Fülle verhindert. Bezüglich der Urwunde der Trennung ließe sich hier vor allem an die Überlebensstrategie der Überanpassung an die Wünsche und Erwartungen anderer Menschen denken. Es kann sich aber auch in Form einer selbstgewählten Isolation, eines Rückzugs aus sozialen Zusammenhängen ausdrücken, nach dem Motto: „Wenn ich Zugehörigkeit gar nicht mehr anstrebe, kann sie mir auch nicht versagt werden.“

Die Heilung der Urwunde

Es mag dir, liebe Leserin und lieber Leser, vielleicht beim Lesen des Textes schon der Gedanke gekommen sein, dass man statt von einer Urwunde auch von Trauma reden könnte. Und das ist auch richtig, das was hier in der Beitragsserie als Urwunde angesprochen wird, könnte man auch als Entwicklungstrauma (im Gegensatz zum Schocktrauma) bezeichnen.

Dementsprechend sind alle psychotherapeutischen Techniken hier hilfreich, die aus dem Bereich der Traumatherapie kommen, wie EMDR, das sog. „somatic experiencing“ oder auch Techniken wie Klopfakkupressur (EFT). Im Rahmen von Familienaufstellungen wird diese Urwunde durch die Heilung der sog. „unterbrochene Hinbewegung“ angesprochen. Aber auch manche Techniken aus dem NLP wie z.B. „change history“ oder das „six step refraiming“ können hier heilend wirken.

Generell ist bei Urwunden alles heilsam, was es mir erlaubt, mit dem Gefühl dieser Urwunde in Kontakt zu treten. Die Überlebenspersönlichkeit tut alles, um dieses schmerzhafte Gefühl zu vermeiden, die Heilung geschieht aber, wenn das Gefühl da sein darf und seinen Platz bekommt, wenn es einmal „durchgefühlt“ werden kann. Dazu bedarf es meist einer speziellen Unterstützung und eines geschützten Rahmens.

Ich möchte aber speziell zu dieser Urwunde auf etwas hinweisen, was vielleicht wie eine Kleinigkeit erscheinen mag, aber sehr profunde Wirkungen haben kann. Manchmal ist es einfach wichtig, wenn ich mich mit dem schmerzhaften Gefühl der Urwunde befasse, dass dann jemand da ist, eine Person die mich begleitet dabei und die nicht weg geht, mich nicht alleine lässt damit. Und diese Person muss gar nicht viel tun, sie muss nur da sein.       
Das kann ein guter Freund oder eine gute Freundin sein oder eine sonst wie mir nahe stehende Person. Das kann aber auch eine Therapeutin oder ein Therapeut sein. Therapeutinnen oder Therapeuten sind manchmal nichts anderes als bezahlte Freunde auf Zeit. Und hier ist oft der lösende Satz: „Wenn du dich deiner Urwunde zuwendest, dann bleib dabei. Ich bleibe auch dabei! Ich bleibe bei dir!“

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