Die seelischen Urwunden – Teil 7: Gedemütigt werden oder eine eklatante Ungerechtigkeit erleben

Bei dieser Urwunde geht es im Kern um eine – willkürliche – Herabsetzung. In unserem Kontext, im Rahmen dieser Serie von Beiträgen zu seelischen Urwunden, geht es um die Herabsetzung eines Kindes im familiären Umfeld. Wir können daran denken, dass ein Kind in einem natürlichen Impuls beschämt, verlacht oder verspottet wird. Und ebenso können wir an eklatante, wirklich wesentliche, Ungerechtigkeiten, Ungleichbehandlungen etwa zwischen Geschwistern denken.

Eine bekannte Geschichte, die von einem solchem Geschehen erzählt, ist das Grimmsche Märchen von Aschenputtel oder Aschenbrödel. Hier haben wir ein Kind, welches von seinen Stiefschwestern gepeinigt wird unter offensichtlicher Billigung dieses Verhaltens durch die Stiefmutter und der eigene Vater schützt seine leibliche Tochter nicht davor.

In diesem Märchen hat ein Mann eine Tochter und seine Frau, die Mutter der Tochter, stirbt. Nach einiger Zeit nimmt der Mann sich eine zweite Frau, welche zwei eigene Töchter mit in die Verbindung bringt, die „weiß von Angesicht, aber schwarz von Herzen“ waren, wie es in dem Märchen heißt. Und das Märchen beschreibt:

Da ging eine schlimme Zeit für das arme Stiefkind an. "Soll die dumme Gans bei uns in der Stube sitzen!" sprachen sie‚ "wer Brot essen will, muß verdienen: hinaus mit der Küchenmagd" Sie nahmen ihm seine schönen Kleider weg, zogen ihm einen grauen, alten Kittel an und gaben ihm hölzerne Schuhe. "Seht einmal die stolze Prinzessin, wie sie geputzt ist" riefen sie, lachten und führten es in die Küche. Da mußte es von Morgen bis Abend schwere Arbeit tun, früh vor Tag aufstehen, Wasser tragen, Feuer anmachen, kochen und waschen. Obendrein taten ihm die Schwestern alles ersinnliche Herzeleid an, verspotteten es und schütteten ihm die Erbsen und Linsen in die Asche, so daß es sitzen und sie wieder auslesen mußte. Abends, wenn es sich müde gearbeitet hatte, kam es in kein Bett, sondern mußte sich neben den Herd in die Asche legen. Und weil es darum immer staubig und schmutzig aussah, nannten sie es Aschenputtel.

Die Verspottung ist hier sehr perfide. Der Gegenstand des Spottes ist etwas, was die Stiefschwestern selber herbeigeführt haben. Erst wird das Mädchen ausgegrenzt und gezwungen, „in der Asche“ zu schlafen und dann wird sie genau dafür mit einem Spottnamen belegt. Warum räsoniert eine solche Geschichte mit uns? Weil wir alle, in der einen oder anderen Form, die Erfahrung kennen, für etwas verlacht zu werden, was wir uns nicht ausgesucht haben, für das wir nichts können, wo wir ohnmächtig sind? In diesem Märchen ist es natürlich, wie oft in Märchen, sehr extrem. Märchen sind mitunter sehr holzschnitthaft in der Beschreibung.

Man mag ich vor allem fragen: Warum lässt der Vater diese Behandlung zu? Es ist kaum vorstellbar, dass er dies nicht mitbekommen hat. Eine weitere Frage, die sich in dem Zusammenhang stellt: Ist es mehr die schlechte Behandlung durch die Stiefschwestern oder der fehlende Schutz durch den Vater, der hier schützen müsste, was die Verletzung und die Wunde ausmacht?

Die verletzte Würde

Die Demütigung verletzt uns in unserer Würde und unserer Selbstachtung, sie dient der Beschämung. Die Demütigung drückt Verachtung aus. Gedemütigt werden meist schwächere, wehrlose Menschen. Und Kinder, besonders kleine Kinder, sind immer in der schwächeren Position den Erwachsenen gegenüber. Demütigungen waren eine lange Zeit ein gebräuchliches Element in der Kindererziehung, sowohl im häuslichen Umfeld wie auch in der Schule.

Natürlich kommen systematische Demütigungen auch im Erwachsenenleben vor. Man kann hier an Mobbing denken oder auch an Praktiken der Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen. Aber hier geht es ja um die Frage, was solche Praktiken in der Seele eines heranwachsenden Kindes bewirken.

Beim Einsatz von Demütigung in der Kindererziehung scheint es wesentlich darum zu gehen, den Willen des Kindes zu brechen, insbesondere natürlich den Willen, der sich bestimmten (einschränkenden) Regeln widersetzt. Natürlich sind in der Kindererziehung Regeln notwendig wie auch Maßnahmen, welche die Einhaltung von bestimmten Regeln durchsetzen. Aber hier geht es darum, dass dies über den Weg der Beschämung und Herabsetzung erfolgt, über die Verletzung der Würde und Selbstachtung des Kindes.

Die Folgen der Demütigung

Die Demütigungen, über die wir hier reden, sind verbunden damit, sich nicht dagegen wehren zu können, ohnmächtig zu sein. Zu fragen wäre hier also: Was ist mit der Wut, der buchstäblich ohnmächtigen Wut, die es beim Erleben geben muss? Was passiert mit der Wutenergie? Es kann sein, dass aufgrund der Ohnmacht jeder Ausdruck von Wut unterdrückt, versteckt, verdrängt werden muss. Körperlich kann man unterdrückte Wut, die sich nicht zeigen darf, mit Problemen im Bereich der Leber und der Galle in Verbindung bringen wie auch mit chronischen Entzündungen und Bindegewebeschwäche. Psychisch kann das mit der Demütigung verbundene Ohnmachtsgefühl in die Depressivität führen, es kann aber auch zu einer großen Empfindlichkeit gegen jegliche Form der Kritik kommen. Ebenso kann man hier an ein generell geringes Selbstwertgefühl denken wie auch an verschiedene Formen selbstverletzenden Verhaltens. Auch eine generelle Verbitterung oder gesteigerte Feindseligkeit kann eine Folge von anhaltender Demütigung sein. Ebenso kann Einsamkeit in Form einer selbst gewählten sozialen Isolierung in diesem Zusammenhang stehen als Versuch, jeder Möglichkeit einer Beschämung oder Herabsetzung durch anderen Menschen vermeidend zuvorzukommen.

Was hier helfen kann

Hilfreich ist hier natürlich in erster Linie alles, was die Selbstachtung, die persönliche Würde und das Erleben von Selbstwert fördert. Der Weg, sich über besondere Leistungen unangreifbar zu machen, mag nahe liegen, führt aber oft in die Irre. Eher zielführend ist, sich sehr gezielt und bewusst mit Personen zu umgeben, die uns wohlgesonnen sind und wo wir wirklich Wertschätzung spüren können. Aber: Das sagt sich so leicht …

Mir scheint, es gibt noch einen anderen Zugang, wiewohl auch dieser nicht einfach ist mit einer solchen Ausprägung der Urwunde. Dieser Zugang besteht darin, sich selber im Umgang mit anderen Menschen in Akzeptanz, Geduld und Nachsicht zu üben. Das „Üben“ ist hier der Schlüssel, es geht nicht um Perfektion oder einen hohen Anspruch an sich selber. Es scheint aber so zu sein, dass die Art, wie wir uns auf andere Menschen beziehen, ein Spiegel der Beziehung zu uns selber ist. Und da mag es sogar einfacher sein, erst einmal an den Beziehungen zu den Mitmenschen zu arbeiten, so dass diese auf lange Sicht dann auch die Beziehung zu mir selbst einfärben können.

Es kann auch eine wirksame Praxis der Selbstwertschätzung sein, das persönliche Umfeld wie zum Beispiel die eigenen Wohnverhältnisse ansprechend zu gestalten, hier für Schönheit zu sorgen. Auch die Einübung von Achtsamkeit dem eigenen Körper und seinen Signalen gegenüber kann hier helfen.

Wesentlich scheint mir auch, sich mit der Emotion der Wut zu befassen, zunächst einmal zu bemerken, wo und wann ich tatsächlich wütend bin – auch wenn ich dies vielleicht vor mir selber und vor anderen verberge. Dabei geht es nicht so sehr darum, diese Wut in Form einer „Katharsis“ auszuleben und auszuagieren, obwohl dies auch helfen kann, wenn es in einem geschützten Rahmen stattfindet. Noch wichtiger erscheint mir stattdessen, die bemerkte Wut als Energetisierung zu nutzen. Die Wutenergie lässt sich verwenden für ein angemessenes Setzten von persönlichen Grenzen, für ein deutliches „Nein“ an passender Stelle, für entschiedenes Auftreten zur Wahrung der eigenen Würde. Dies sind der eigentliche Sinn und die positive Absicht dieser Emotion.

Und nicht zuletzt helfen hier alle Praktiken, die mit der Heilung des „inneren Kindes“ zu tun haben. Die seelische Urwunde, um die es hier geht, ist ja in der Kindheit entstanden. Und das Kind, welches diese seelische Verletzung erlitten hat, lebt noch in uns, in unserem Erwachsenenkörper. Und das innere Kind wartet darauf, dass sich ihm jemand wohlwollend zuwendet. Und dieser Jemand sind wir selber, wir selber in unserem Erwachsenen-Ich. Ein Buchtitel von Stefanie Stahl lautet: „Das Kind in dir muss Heimat finden“. Darum geht es, dem verletzten inneren Kind eine Heimstatt in mir zu bereiten, in dem es heilen und heranwachsen kann.

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