Die seelischen Urwunden – Teil 8: Nicht oder nicht genug geliebt werden

Diese Urwunde, die ich im Rahmen dieser kleinen Reihe zu den seelischen Urwunden als letzte anführe, würde einem vermutlich als erste einfallen. Es gibt Vieles, dessen ein kleines Kind für ein gutes Heranwachsen bedarf. Aber neben allem anderen und auch durch alles andere hindurch benötigt das Kind, Liebe Zuneigung und Wertschätzung zu verspüren. Das Kind will spüren, dass es willkommen ist, dass es als Bereicherung und nicht als Belastung empfunden wird. Bert Hellinger hat dies einmal als die „ursprüngliche Liebe“ bezeichnet. Ursprünglich ist diese Liebe auch deshalb, weil jede spätere Liebe auf dieser ersten Liebeserfahrung aufbaut, jede spätere Liebe hier ihr Fundament findet. Und nicht zu letzt ist die empfundene ursprüngliche Liebe die Basis für das Urvertrauen, das Vertrauen in das Leben selbst.

Umso schmerzhafter wird das Fehlen dieser ursprünglichen Liebe empfunden, wenn diese ursprüngliche Liebe insbesondere seitens der Eltern vom Kind nicht oder nicht in genügendem Maße erfahren wird. Wir könnten sagen, diese Urwunde steht bei der Betrachtung von seelischen Urwunden besonders im Zentrum.

Die Folgen von fehlender Liebe durch die Eltern

Die wesentlichste Folge von fehlender ursprünglicher Liebe ist das bereits angesprochene Urvertrauen, welches sich beim Kind dann nur ungenügend oder in einer brüchigen Form ausbilden kann. Das Kind fühlt sich grundsätzlich und dauerhaft verloren, unbehaglich und unbehaust in der Welt, die Welt wird fremd. Die konkreten Erscheinungsformen von fehlendem Urvertrauen wiederum können mannigfaltig sein. Mir scheinen aber vor allem die folgenden Wirkungen besonders häufig zu sein:

  • Verschlossenheit  
    Das Kind ist wenig spontan, äußert selten Wünsche oder Bedürfnisse, auf Interesse an ihm reagiert es eher misstrauisch
  • Schuldgefühle       
    Das ungeliebte Kind vermutet, natürlich höchst unbewusst, ungenügend zu sein und somit die Liebe der Eltern nicht zu verdienen. Im späteren Leben ist ein solches Schuldgefühl als grundsätzliches Lebensgefühl sehr diffus, es ist nicht benennbar, woran man sich schuldig fühlt
  • Ängstlichkeit                  
    Das Kind ist ängstlich, übervorsichtig, besorgt, die Angst vor falschen Entscheidungen kann zu einer generalisierten Entscheidungsschwäche führen
  • Fehlendes Selbstwertgefühl      
    Das Kind nimmt sich nicht als wertvoll wahr, traut sich wenig zu, die Selbstwahrnehmung ist negativ eingefärbt
  • Traurigkeit  
    Auch hier ist die Emotion der Traurigkeit das wesentliche Lebensgefühl, die Traurigkeit ist generalisiert, die Trauer bezieht sich nicht auf eine bestimmte Verlusterfahrung, sondern alles ist irgendwie traurig eingefärbt
  • Rückzug      
    Das Kind möchte sich am liebsten unsichtbar machen, es sucht den Rückzug, ist lieber alleine, isoliert sich und vermeidet soziale Kontakte
  • Übertriebene Suche nach Bestätigung
    Das Kind braucht ständig Anerkennung, die aber kaum ankommt und nicht lange anhält
  • Bindungsunsicherheit     
    Das Kind kann keine stabilen Freundschaften oder generell Beziehungen aufbauen und halten.
  • Das fehlende Nein 
    Das Kind kann schwer Grenzen setzen oder ausdrücken, wenn es etwas nicht möchte oder wenn es etwas quält
  • Angst vor Zurückweisung
    Das Kind kann nicht gut auf andere zugehen, es besteht eine große Angst vor Ablehnung
  • Einsamkeit 
    Das Grundgefühl ist Einsamkeit, die jedoch nicht zu einem Bedürfnis nach sozialem Kontakt führt, da dieser als unangenehm, anstrengend oder bedrohlich erlebt werden

Dies ist ein Spektrum von möglichen Erscheinungsformen, welche die Urwunde, nicht oder nicht genug geliebt zu werden, annehmen kann.

Was hier helfen kann

Bei einem Leiden an dieser Urwunde im Erwachsenenalter ist ein wichtiger Schritt, dem, was damals als Kind so schmerzlich gefehlt hat, noch einmal in aller Klarheit ins Auge zu schauen, ohne Relativierungen und ohne Beschönigung. Was habe ich damals vermisst, was hätte ich gebraucht von meinen Eltern? Gemeint ist das nicht als Vorwurf. Sondern als Feststellung, wie ist es mir damals als Kind ergangen, wie habe ich es erlebt.

Der nächste Schritt ist, sich davon dann wieder zu lösen, sich zu erinnern, dass ich jetzt nicht mehr das kleine Kind von damals bin, dass ich jetzt mehr Handlungsmacht habe als ich damals hatte. Das bedeutet auch, und das ist durchaus schwierig, ich lasse den Anspruch an meine Eltern, sie hätten damals anders sein oder anders sich verhalten sollen, los. Ich lasse auch diesen Anspruch in der Vergangenheit. Ich mache mich frei von diesem Anspruch an meine Eltern, ich befreie mich von jeglichem Ressentiment, welches ich noch in den dunkleren Abteilungen meiner Psyche hege. Das erfordert eine sorgfältige Selbstprüfung und gelingt meiner Erfahrung nach nur, wenn ich davor den ersten Schritt gegangen bin, mich noch einmal mit der Wunde von damals ehrlich zu konfrontieren.

Abschließend gehört auch dazu, selber die Verantwortung für das Heilen der alten Wunde zu übernehmen. Das bedeutet, die fehlende Liebe von damals gebe ich mir jetzt selber. Genauer gesagt: Ich gebe sie dem verletzten inneren Kind, das in mir haust und das darauf wartet, endlich nach Hause geholt zu werden.

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