Die seelischen Urwunden 5: Nicht oder nicht vollständig da sein dürfen

Die vierte seelische Urwunde, die ich im Rahmen der Serie von Blogartikeln zu diesem Thema besprechen möchte, betrifft das Grundgefühl mancher Menschen, dass es am besten wäre, wenn sie gar nicht da wären, wenn es sie gar nicht geben würde. Diese seelische Urwunde entsteht, wenn ein Kind eben nicht als Wunschkind auf die Welt kommt und entsprechend begrüßt wird, sondern es ungelegen kommt, als Belastung für die Eltern empfunden wird.

Es kann sein, dass Eltern oder Elternteile noch sehr jung sind, vielleicht sind sie selber noch halbe Kinder, und sie sind mit dem Kind und mit der Verantwortung überfordert. Es kann sein, dass dieses Kind empfindlich bestimmte Lebenspläne der Eltern oder zumindest von einem Elternteil stört. Vielleicht wird eine bestimmte Berufsausbildung abgebrochen oder ein beruflicher Lebensweg wird unterbrochen oder nimmt aufgrund des Kindes eine ganz andere Richtung als geplant. All dies alleine wäre noch nicht ein hinreichender Grund für diese Urwunde. Wenn aber Eltern oder zumindest ein Elternteil aufgrund der verhinderten Pläne dann ein Ressentiment gegen dieses Kinde entwickelt – und es ist dabei unerheblich, ob ausgesprochen oder unausgesprochen – dann spüren dies die Kinder. Sie spüren, der Mama oder dem Papa oder gar beiden geht es schleicht, und zwar, weil ich da bin.        Manchmal werden solche Sätze auch tatsächlich ausgesprochen gegenüber Kindern, etwas in der Form: „Weil ich mit dir schwanger war, konnte ich ja nicht xxx, was ich doch so gerne gewollt hätte, und seit dem ist mein Leben nicht das, was es hätte sein können oder sein sollen.“ Oft hängt dieser Vorwurf dem Kind gegenüber aber auch unausgesprochen in der Luft. In der Wirkung macht es keinen sehr großen Unterschied, wenn die Eltern oder zumindest ein Elternteil tatsächlich das Kind für sein Unglück verantwortlich macht.

Eine solche Botschaft kann aber auch entstehen, ohne dass eine solche emotionale Zuschreibung seitens der Eltern besteht, wenn ein Kind in einer Zeit großer Not in eine Familie geboren wird, die um das Überleben kämpft, zum Beispiel immer am Rande des Verhungerns sich befindet. Auch hier spürt das Kind schon weit im vorsprachlichen Bereich der Entwicklung die Not und das es die Not verschärft.

Es gibt auch noch einen ganz anderen Sachverhalt, in dem diese Urwunde auftreten kann, wenn auch nur als eine mögliche Option. Wenn es ein während Schwangerschaft verstorbenes Zwillingskind gibt, dann spürt das sich entwickelnde Leben, dass es hier in ganz enger Vertrautheit noch ein anderes Leben gab, das dann aber irgendwann aufgehört hat zu Leben. Und auch hier kann sich das überlebende Kind schuldig fühlen am Tod des Zwillingskindes, eine vielleicht vage Vorstellung, zu viel Raum eingenommen zu haben, kann entstehen.    
Bei einem toten Zwillings-Geschwisterkind entsteht in der Seele eine ähnliche Situation, wie es sie auch später bei Erwachsenen gibt, wenn es um Leben und Tod geht, viele nicht überleben, man selber aber schon. Man kann hier an Soldaten auf dem Schlachtfeld denken oder Schiffskatastrophen oder dergleichen. Solche existenziell lebensbedrohlichen Situationen für ein Kollektiv von Menschen schweißt diese Menschen auf einer seelischen Ebene zusammen und oft haben Überlebende einer solchen Katastrophe ein schwer erklärbares Schuldgefühl gegenüber den verstorbenen Opfern.

Besonders intensiv mag sich eine solche seelische Urwunde auch einstellen, wenn das Kind einen Abtreibungsversuch überlebt, wenn die Abtreibung also fehlschlägt. Diesen Tötungsversuch im Mutterleib nimmt aber die Seele des Kindes durchaus deutlich war.

Die Folgen des nicht (oder nicht vollständig) da sein Dürfens

Die Folgen sind in erster Linie ein sehr eingeschränkter Lebensvollzug. Menschen mit dieser Urwunde können das Leben nicht wirklich vollständig annehmen und in vollem Ausmaß leben. Von außen betrachtet hat man den Eindruck, das Leben wird „wie mit angezogener Handbremse“ gelebt. Auch neigen Menschen mit dieser seelischen Urwunde oft zu übertriebener Zurückgezogenheit, man hat fast den Eindruck, diese Menschen würden versuchen, sich möglichst unsichtbar zu machen. Auf keinen Fall wollen solche Menschen jemand anderem „zur Last fallen“, was es zum Beispiel schwer macht, jemand anderen um etwas zu bitten.

Eine andere Folge kann ein sehr ausgeprägter Moralismus sein, der vor allem auf sich selber angewandt wird. Solche Menschen versuchen dann extrem „gut“ zu sein, moralisch makellos – was sehr anstrengend ist. Dahinter könnte die (Wahn)Vorstellung stehen, ich muss mir mein Lebensrecht verdienen durch einen betont untadeligen Lebenswandel oder durch die penible Einhaltung aller Regeln bis ins kleinste Detail.

Es ist auch denkbar, dass ein solcher Mensch sich besonders stark über eine soziale Rolle, etwa eine berufliche Rolle, definiert und außerhalb dieser Rolle sozusagen gar nicht stattfinde. Dies mag besonders verlockend sein, wenn diese Rolle eine helfende Rolle ist, weil dann innerhalb der Rolle durch die Bedürftigkeit der anderen Person das Existenzrecht verbrieft ist. Aber eben wirklich auch nur innerhalb dieser sozialen Rolle.

Natürlich kann es auch vorkommen, dass in einer Überkompensation ein solcher Mensch besonders stark auf seine Bedeutung und seine Wichtigkeit pocht, gerade wenn es um Kleinigkeiten geht und man merkt, das hinter der verbalen Behauptung der eigenen Bedeutsamkeit sich eine Person verbirgt, die sich das selber nicht abnimmt.

Was hier helfen kann

Was sehr hilfreich sein kann ist zum Beispiel im Rahmen einer Familienaufstellung sich noch einmal den Eltern gegenüber zu stellen, und zu spüren, wie es einem damals als Kind ergangen ist, das Gefühl, es wäre besser, wenn es mich nicht gäbe, noch einmal zu schmecken. Und dann zu den Eltern oder zu dem relevanten Elternteil zu sagen: „Ich bin aber trotzdem groß geworden. Und jetzt nehme ich mein Leben in meine eigenen Hände und ich mache etwas daraus, ein wenig auch dir zu Ehren“. Der letzte Teil des Satzes scheint vielleicht etwas merkwürdig. Warum soll man ausgerechnet das Elternteil ehren, welches mich eigentlich gar nicht haben wollte? Es lässt sich schwer erklären, aber gerade in diesem Teil des Satzes, wenn er nicht nur gesagt, sondern wirklich innerlich vollzogen wird, liegt eine besondere Kraft.

Oder im Falle eines im Mutterleib verstorbenen Zwillingskindes könnte der Satz auch lauten: „Ich leben jetzt mein Leben vollständig und lasse es mir gut gehen. Und alles Gute im Leben erlebe ich euch ein bisschen für dich mit.“

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